Text: Katharina Weresch
Deutschlands erste Architekturstudentin Emilie Winkelmann erreichte 1902 ihre Zulassung an der TH Hannover nur mit einem Trick: Sie kürzte ihren Vornamen ab und wurde für einen Mann gehalten. Am Tag vor dem Examen teilte man ihr mit, dass ihr als Frau das Ablegen der Prüfung nicht gestattet werden würde. Daraufhin beschloss sie, ein Architekturbüro zu eröffnen, und wurde damit ziemlich erfolgreich. Seither hat sich die Lage grundlegend gewandelt: 2010 betrug der Anteil der Absolventinnen 53 Prozent. Unter den beruflich Aktiven jedoch sind nur 27 Prozent Frauen. Das liegt erstens an der Überzahl der Männer in den älteren Jahrgängen und zweitens daran, dass wesentlich mehr Frauen als Männer den Architektenberuf wieder aufgeben. Nach einer Umfrage von 2010 waren von den Personen, die auf die Ausübung des Berufes in Deutschland „freiwillig“ verzichteten, 91 Prozent Frauen.
Ähnlich verhält es sich in Europa. Die durchschnittliche Frauenquote im Architekturberuf beträgt in 23 europäischen Ländern 31 Prozent. Der Rückzug von Architektinnen aus dem Beruf bedeutet eine Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen und den Verlust fachlicher Kompetenz für die Profession.
Individuell – bezogen auf die einzelne Frau – kommt er oft einer psychologischen Katastrophe gleich, weil eine lange und aufwendige Ausbildung sinnlos wird. Der Lebensentwurf und das Lebensziel, nämlich die Ausübung eines geliebten Berufes, lassen sich nicht verwirklichen – nicht etwa aus Unfähigkeit, sondern aus gesellschaftlich-sozialen Gründen.
An den Hochschulen sieht es ähnlich aus. Bei der jeweils jüngsten Erhebung waren in Deutschland 19 Prozent der Architekturprofessoren weiblich, in Großbritannien 27 Prozent (allerdings einschließlich wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Lehrbeauftragter) und in der Schweiz im Jahr 2000 sogar nur sechs Prozent. In den USA waren 2009 von allen Architektur-Absolventen 42 Prozent weiblich, jedoch nur 25 Prozent der Berufstätigen sowie 17 Prozent der Eigentümer und Partner von Architekturbüros. Von den in Architekturbüros beschäftigten Personen sind 20 Prozent weiblich.
Auch unter den Professoren ist nur jeder vierte weiblich. Eine bemerkenswerte Ausnahme macht die staatliche University of California in Berkeley bei San Francisco: Hier ist die Hälfte der Architektur-Professoren weiblich. Die Verfasserin dieses Textes führte mit den Professorinnen in Berkeley sowie zum Vergleich an der University of Southern California in Los Angeles Interviews zur Ausbildung und zur beruflichen Situation der Architektinnen. An beiden Hochschulen sehen Professorinnen und Professoren im „Starsystem“ der Architektur eine der zentralen Ursachen für den Rückstand. Eine über viele Jahrhunderte männlich geprägte Berufskultur erzeuge „Architekturstars“ von Michelangelo über Bernini und Le Corbusier bis zu Gehry – der an der USC Professor ist. Sie sind international bekannt. Das Ziel des Starsystems bestehe darin, deren Bauten so oft und so umfassend wie möglich in Büchern und Zeitschriften zu veröffentlichen sowie in anderen Medien zu präsentieren – so Professorin Dana Buntrock aus Berkeley. Es diene zum einen dazu, bekannt zu sein, um sich Auftragschancen zu erwirken, zum anderen aber zur Darstellung als Künstlerarchitekt mit einem ästhetisch herausragenden Werk, um sich so weit wie möglich unabhängig vom Einfluss der Bauherren und deren Zwängen zu machen.
Die Grundlage des Starsystems bilden der Habitus des Künstlerarchitekten und das „architektonische Denken“. Dieses Berufsbild bildete sich in einem langen zivilisatorischen Prozess heraus und prägt international die Verhaltens- und Empfindungsstandards der Profession. Die daraus resultierende Ich-Identität manifestiert sich im Selbstbild eines rund um die Uhr einsatzbereiten Mannes, dessen Ideal darin besteht, gestalterisch hervorragende Architektur zu schaffen. Wollen Frauen im Starsystem erfolgreich sein, müssen sie den Habitus übernehmen. Zaha Hadid, die einzige Frau, die in Harvard im Rahmen einer Gastprofessur Entwerfen lehrte, berichtete schon Ende der 1980er-Jahre: Um als Architektin anerkannt zu werden, müsse man noch härter arbeiten als Männer, an jedem Wettbewerb teilnehmen, Tag und Nacht daran sitzen, immer den Stift in der Hand haben, um jeden Augenblick jeden Gedanken auf Papier bringen zu können. Geprägt wird dieser „Berufshabitus“ an den Hochschulen; eingeübt wird er in der Berufskultur der „totalen Hingabe an das architektonische Werk“ zusammen mit den Ritualen überlanger Arbeitszeiten. Dieser Empfindungsstandard vom „vereinnahmenden Kunstberuf“ erfordert es, das Privatleben dem Berufsleben unterzuordnen, und führt zum Konflikt zwischen einem Beruf mit solchen totalen Ansprüchen und einem Leben mit außerberuflichen sozialen Beziehungen oder gar Kindern.
1989 beschrieb die amerikanische Architektin Denise Scott Brown, Ehefrau und Büropartnerin von Robert Venturi, aus persönlicher Erfahrung das Starsystem und seine geschlechtsspezifischen Mechanismen der Vorurteile, Diskriminierung und mangelnden Anerkennung, die sich bis heute nicht grundsätzlich geändert haben. Nach Beobachtungen der Professorinnen in Berkeley und an der USC fühlen sich die Studentinnen während ihres Studiums sehr zufrieden, erleben dann aber den Praxisschock, der in den USA wie in Europa zum Verlassen des Berufes führt, den sie mit großen Einsatz und gutem Erfolg studiert haben – wie man international an den Noten der Abschlussarbeiten verfolgen kann.
In Europa verdienen Architektinnen im Durchschnitt 32 Prozent weniger als ihre Kollegen. In Deutschland erhalten angestellte Frauen durchschnittlich 80 Prozent des Gehalts von Männern. Mit steigender Berufserfahrung wachsen sowohl in den USA als auch in Deutschland die Einkommensunterschiede der Geschlechter. Frauen haben unabhängig von ihrem Alter seltener leitende Positionen inne als männliche Angestellte. Ihre Überstunden werden werden häufiger als bei den männlichen Kollegen überhaupt nicht vergütet. In Europa wurden nach der Jahrtausendwende mehrere Studien erstellt, die Frauen im Beruf in der Schweiz, in Großbritannien und Deutschland untersuchen. Die Studie der Schweizerin Christina Schumacher „Zur Untervertretung von Frauen im Architekturberuf“ stellte 2004 fest: Nicht nur „Kleidung, Haarschnitt, Schreibutensilien, eine sorgfältige Aufmachung“ seien männlich konnotierte „Insignien der männlichen Stilfigur Architekt“, sondern ebenso die völlige zeitliche wie emotionale Unterordnung des Privatlebens unter das Berufsleben. Sie berichtet, dass in den Büros Frauen wie vermutlich auch Männer mit massivem Druck dazu gedrängt werden, Überstunden zu machen, Wochenenden durchzuarbeiten und auf Urlaub zu verzichten. Um einen unausweichlichen „Sachzwang“ handelt es sich bei dem Anspruch unbegrenzter Einsatzbereitschaft nicht.
Die britische Studie „Warum verlassen Frauen die Architektur“ von Ann de Graft-Johnson, Sandra Manley und Clara Greed aus dem Jahr 2003 spricht von einem „Initiationsritual“ der „unzähligen Nachtschichten“, ohne die man als „whimp“ gelte, zu Deutsch als Schlappschwanz, und „folglich nicht für den Architektur-Beruf geeignet“.
Susanne Korfmacher stellt 2005 in der „Studie zur berufsspezifischen Situation von Architektinnen in Niedersachsen“ an der TU Braunschweig fest, dass zum geringeren Lohn Diskriminierungen kommen. Sie machen Frauen im Beruf das Leben schwer– infolge des „erzkonservativ“ geprägten „Architektenmythos“. Fast 80 Prozent der von ihr befragten Architektinnen meinten, dass Frauen weniger zugetraut werde als Männern. Die Schweizer Studie fand offene Diskriminierung und Vorurteile vor allem auf der Baustelle, aber auch „am Sitzungstisch von Gremien, Behörden und Bauherrenschaften“. Auch die britische Studie berichtet von Vorurteilen und Diskriminierungen.
Ein weiteres Problem sind die Empfindungsstandards hinsichtlich der Mutterschaft, die dem Architekten-Habitus am deutlichsten entgegensteht. Als vorhersehbares Karriererisiko ist sie nicht selten der Grund, den Beruf zu verlassen. Die britische und die deutsche Studie weisen nach, dass angestellte Architektinnen oft schon nach Bekanntgabe der Schwangerschaft nur noch zu Routinearbeiten eingesetzt werden. Sowohl Männer als auch Frauen vermeiden eine Erwähnung der Kinder im Büro, da das als unprofessionelle Schwäche ausgelegt werden könnte. Dabei werden in Deutschland und der Schweiz durchaus erfolgreiche Büros von Architektinnen mit Kindern geführt, zum Teil sogar in Teilzeit. Voraussetzung seien Verständnis und Unterstützung durch Lebenspartner oder (häufig weibliche) Büropartner.
Was können nun die Universitäten tun? Es genügt offensichtlich nicht, durch die Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen allein zum Beruf zu befähigen. Stattdessen müssen sich die Universitäten vorausschauend mit der Frage der Berufsausübung befassen. Zurzeit finden sich Architektinnen infolge der beschriebenen Prozesse mit einem persönlichen Konflikt in der Praxis konfrontiert, den sie ganz allein lösen müssen. Diese Individualisierung ist falsch; es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, das wir alle lösen müssen. Die Forderung nach Gender-Veranstaltungen, die Geschlechterdifferenzen thematisieren, ist nicht sinnvoll, weil die Studentinnen die Gender-Thematik im Bewusstsein vollständiger Emanzipation ausgeblendet haben. Die Habitus-Änderungen müssen vielmehr aus dem inneren Kern des Berufes, dem Entwerfen und auch der Baukonstruktion, heraus konzipiert und realisiert werden.
Was können die Berufsverbände tun? Sie können generelles Orientierungswissen sammeln und vermitteln. Das Beschreiten der hier (in Heft 8-2011 des DAB auf Seite 22 bis 24) dokumentierten Wege zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist unabdingbar notwendig. Aber sie stehen im Widerspruch zum Architektenhabitus, den langfristig herausgebildeten Verhaltens- und Empfindungsstandards des Künstlerarchitekten. Es wird schwierig werden, diese Wege umzusetzen, da sie sich gegen unbewusst wirksame Denk- und Handlungsschemata richten. Eine für die Übergangssituation denkbare Strategie könnte die Orientierung an anderen Akademikerinnen sein – zum Beispiel an den Gemeinschaftspraxen von Ärztinnen. Die Architekturbüros in Deutschland sind relativ klein. In 84 Prozent von ihnen sind nicht mehr als vier Personen in Vollzeit tätig, 41 Prozent sind Ein-Personen-Büros. Eine Untersuchung unter niedersächsischen Architektinnen von 2006 ergab, dass 64,1 Prozent der selbstständigen Architektinnen ihr Büro allein betrieben.
Gemeinschaftsbüros haben vermutlich größere Chancen. Architektinnen und interessierte Architekten müssten sich zu mehreren zusammenschließen und würden möglicherweise damit zunächst eine parallele Arbeits-, Büro- und Denkstruktur entwickeln. In jedem Fall sind tief greifende strukturelle Veränderungen notwendig, die breit diskutiert werden sollten.
Prof. Dr. Katharina Weresch ist Architektin und lehrt Architektursoziologie und Gender Studies an der Hafencity-Universität Hamburg – Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung.
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Zur Vereinbarkeit von Architekturberuf und Familie
Der Artikel „Rund um die Uhr“ hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich bin angestellte Architektin und arbeite halbtags in einem kleinen Büro. Nach nunmehr 12 Jahren Tätigkeit in diesem Berufsfeld kann ich meine Gefühle und die innere Zerrissenheit gegenüber meinem Beruf nachvollziehen und auch in Worte fassen. Kurz nach dem Berufseinstieg habe ich Kinder bekommen, bin der Architektur aber immer treu geblieben. Halbtags in einer nicht verantwortungsvollen Position lässt sich der Beruf mit den Kindern noch vereinbaren, dennoch stellt diese Teilzeit jede Tätigkeit in unserem Beruf in Frage. Will man Termine mit Handwerkern vereinbaren, geht das nur vormittags oder die Termine müssen auf andere Mitarbeiter übertragen werden. Wartet man auf einen dringenden Rückruf, kommt dieser bestimmt, wenn man bei den Kindern zu Hause ist. Es ist ganz schön frustrierend, nie die anstehenden Aufgaben zur eigenen Zufriedenheit fertigstellen zu können, da die Familie zu Hause ruft. Nun ja, man könnte die Arbeit mit nach Hause nehmen, da findet sich nachmittags schon mal ein Viertelstündchen, um schnell noch etwas zu erledigen. Aber dann besteht die Gefahr ausgenutzt zu werden, immer erreichbar zu sein und schließlich doch mit dem Kind auf dem Rücksitz zur Baustelle zu fahren. Deshalb habe ich mich zu folgendem Modell entschieden: Mit einem Halbtagsjob Privates und Arbeit strikt trennen (gelingt nicht immer). Doch genau dadurch hinkt man dem „Ideal des rund um die Uhr arbeitenden Architekten“ hinterher und kämpft mit seiner Liebe zum Beruf und mit der Liebe zur Familie. Diese Arbeitsweise kann allenfalls einen Kompromiss darstellen, noch ein wenig in seinem Beruf tätig zu sein. Die Alternative wäre die Selbstständigkeit, die „totale Hingabe an das architektonische Werk“ und dadurch aber auch der Verlust wertvoller Zeit mit der Familie oder gar der Familie selbst. Meine Kinder und mein Partner haben mehr Anspruch auf mich – nicht nur den gemeinsamen Sonntag. Mein Herz hängt an den Kindern und die lassen sich nicht zwischen Bauherrenterminen, Werkplanung und Ausschreibung erziehen und abspeisen. Natürlich lässt sich die Selbstständigkeit auch mit kleinen Sanierungen und Umbauten realisieren, aber damit würde sich ja auch kein Mann zufrieden geben. Bisher muss jede Frau ihr eigenes Modell finden, mit dem sie in der Architekturwelt zurechtkommt. Es gibt kein Rezept dafür und auch meine Lösung macht mich nicht glücklich. Gleichzeitig bin ich zufrieden, dass ich nicht ganz umsonst studiert habe und einen Beruf ausübe, der mich anspricht. Dennoch wünsche ich mir an manchen Tagen, einen anderen neuen Beruf und träume davon, nochmals ganz von vorne anfangen zu können …
Tanja Thoma, Architektin