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Türme mit Tiefgang

Ob Donnerbalken, Ölflamme oder Prostituierte: Ein Hochhaus von heute kann alles sein. Nur nicht senkrecht

30.06.20122 Min. Kommentar schreiben

Text: Roland Stimpel


In einem alten Panscherwitz versammelt der sterbende Winzer seine Erben ums Bett und röchelt mit letzter Kraft: „Ich will Euch noch mein größtes Geheimnis verraten: Wein kann man auch aus Trauben machen.“ Wir können sicher sein, dass bald irgendwo in der Welt ein verbleichender Stararchitekt seinem Nach wuchs enthüllt: „Hochhäuser kann man auch senkrecht bauen.“ Das ist momentan nicht mal im traditionell gradlinigen Hamburg bekannt. Da werden jetzt Hadi Teheranis „tanzende Türme“ fertig; sie stehen an der Reeperbahn und sind darum heftig erotisch: Laut Teherani bedeuten sie „Mann und Frau, die sich zum Tango bewegen. Vielleicht auch die X-Beine einer Prostituierten, die auf dem Kiez nach Freiern Ausschau hält.“

Eventuell ist auch nur Teheranis Praktikant beim Zeichnen die Maus verrutscht oder der Plan gerissen und dann schief zusammengeklebt. Egal. Wichtig ist, dass ein Turm per Knick, Schräge, Wulst oder Beule auffällt und man irgendeine Bedeutung hineinspinnen kann – ob in Bakus viertürmige Ölflamme, in Ole Scheerens ach so zeitgeistigen Pixelturm in Bangkok, in Libeskinds stahl-gläserne Papierlaterne in Seoul und natürlich in Kolhaas’ geknickten TV-Donnerbalken von Peking. Deutschland hielt sich bisher zurück, bis auf ein bisschen Gehry in Düsseldorf sowie KSP Engel und Zimmermann in Frankfurt. Aber jetzt galoppiert auch bei uns die Türme quetschende Sau: In Hamburg steppt das Lustweib, und in Frankfurt verdreht, verkeilt und verknotet Coop Himmel(b)lau die Europäische Zentralbank, als wär’s der geplagte Euro selbst.

Wir Journalisten verwenden für Texte mit krummer Pseudo-Philosophie gern das Kürzel „VGT“; das steht für „vorgetäuschten Tiefgang“. Je krummer ein Turm, desto mehr VGT braucht offenbar sein Architekt. Darum jetzt noch eine VGT-Analyse der wahren Gründe für das Hochhaus-Verstauchen: Erstens muss das teure CAD-Programm ausgereizt werden. Zweitens kann man endlich den Statiker in den Wahn treiben, der einem sonst immer alles kaputtrechnet. Und drittens sind deliriöse Formen offenbar Suchterzeuger und Suchtverstärker. Dazu noch ein Weinwitz. Fragt der Arzt: „Haben Sie Probleme mit Alkohol?“ Antwort des Winzers: „Nein, nur ohne.“

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