Interview: Cornelia Dörries
Die Promenadologie, zu Deutsch: Spaziergangswissenschaft, gehört zwar an keiner deutschen Hochschule zum verbindlichen Lehrangebot. Doch sie verspricht über ihren speziellen Zugriff auf die Wirklichkeit – den Spaziergang – Erkenntnisse, die andere, etablierte akademische Disziplinen nicht bieten. Der Landschaftsplaner Bertram Weisshaar gehört zu den bekanntesten Spaziergangswissenschaftlern hierzulande. Was ist an diesem Vorgehen im Graubereich zwischen Kunst und Empirie wissenschaftlich? Und auf welche Weise können Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner davon profitieren?
Wie entstand die Spaziergangswissenschaft und worin besteht ihr Erkenntnisinteresse?
Erfunden hat die Disziplin der Schweizer Lucius Burckhardt in den 80er-Jahren an der Gesamthochschule Kassel am Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung. So gesehen, sind die planerischen Disziplinen auch die Heimat der Spaziergangswissenschaft. Burckhardt stellte sich die Frage „Was entdecken Entdecker“? Er bezog sich damit auf die Zeit der großen Weltumsegelungen, als Seefahrer neue Kontinente entdeckten und das, was sie dort vorfanden, mithilfe des aus ihrer Heimat Vertrauten beschrieben. Sie entdeckten in der Fremde also immer das, was sie von zu Hause kannten. Und so funktioniert die Erkundung des Unbekannten: Man bringt ein Bild des Vertrauten mit und misst daran alles Neue. Man entdeckt gewissermaßen immer das Gleiche. Aus dieser Problemstellung heraus entwickelte Burckhardt damals in einer Art Umkehrung „Die Reise nach Tahiti“, eine der ersten größeren Spaziergangsinszenierungen des Fachbereichs, bei der in Kassel ein alter Truppenübungsplatz in den Schauplatz jener Reise verwandelt wurde, die den Naturforscher Georg Forster im 18. Jahrhundert zusammen mit Captain Cook in die Südsee geführt hatte.
Um zu validen Ergebnissen zu kommen, benötigt jede Wissenschaft eine eigene Methode, also ein objektivierbares Verfahren des Erkenntnisgewinns. Welcher Methoden bedient sich die Spaziergangswissenschaft?
Das ist gewissermaßen eine ganz einfache, niederschwellige Methode: das eigene Vor-Ort-Sein beim Erkunden des Raumes und die daraus gewonnenen Erkenntnisse. Gerade bei der Bewertung oder Beurteilung von Städtebau und Architektur durch die Nutzer ist diese Ebene der Erfahrung ganz maßgeblich. Denn es ist letztlich nichts anderes als deren Wahrnehmung und deren Bewertung der Ergebnisse planerischer Arbeit ernst zu nehmen. Das lässt sich nicht über objektive, wissenschaftliche Kennziffern ermitteln, sondern über die Beschreibung von Empfindungen, Atmosphäre und der jeweiligen Nutzbarkeit. Dieses Vorgehen ist eine Form der Empirie, die keine messbaren Faktoren ermittelt. Und Lucius Burckhardt ist es mit der Spaziergangswissenschaft gelungen, eine Brücke zwischen der streng wissenschaftlichen Erfassung und subjektiver Wahrnehmung zu schlagen. Denn auch im Gehen und Erfassen eines Raums wird Erkenntnis generiert, nur auf andere Weise. Zudem ist Spaziergangswissenschaft eine Methode der Kommunikation, die zum Beispiel bei Partizipationsprojekten auch der Vermittlung von Informationen dient. Wenn man über Planung diskutiert, kann man das im Rathaussaal tun oder sich dafür an den Ort des Geschehens begeben. Man wird dort über andere Dinge sprechen als am Behördentisch. Einfach, weil man andere Dinge sieht.
Wie sind Sie selbst zum Promenadologen geworden?
Da blicke ich auf zwei entscheidende Erlebnisse zurück. Zum einen war es ein Spaziergang mit Lucius Burckhardt durch den Park Wilhelmshöhe in Kassel, bei dem er uns Studienanfängern sagte: „Landschaft gibt es gar nicht.“ Das erschien mir ungeheuerlich, denn ich war ja inmitten von Landschaft. Und die sollte es nicht geben? Er machte uns klar, dass die Bäume und Pflanzen natürlich existieren, doch das, was wir als Landschaft beschreiben, ein Bild, eine Konstruktion ist, eine kulturelle Erfindung. Diese Erkenntnis gehört zu den Grundannahmen der Disziplin: Eine Landschaft entsteht im Kopf und kann im Kopf auch verändert werden. Das zweite Ereignis in Bezug auf die Spaziergangswissenschaft war mein erster Besuch in einem Braunkohletagebau. Ich sah diese spezielle Landschaft zum ersten Mal im Rahmen einer Exkursion nach Dessau-Bitterfeld Mitte der 90er-Jahre. Damals galten Braunkohlereviere als Inbegriff der großflächigen Landschaftszerstörung. Ich war vom ersten Moment an fasziniert – ich fand diese Mondlandschaft wunderschön. Mir war dann relativ schnell klar, dass ich als angehender Landschaftsarchitekt gar keine neue Landschaft – also ein neues Bild – über diese vorhandene Landschaft legen wollte. Ich erkannte, dass dieses vorgefasste Bild von der „zerstörten Landschaft“ die Menschen daran hindert, ihre tatsächlichen Qualitäten, sozusagen die Schönheit dieser gewissermaßen latenten Landschaft wahrzunehmen. Daraufhin habe ich zusammen mit der Stiftung Bauhaus Dessau einen Spaziergang durch diesen Tagebau entwickelt, um die Menschen für die Besonderheiten dieses Ortes zu sensibilisieren. Auf diese Weise wurde ich zum praktischen Spaziergangswissenschaftler.
Eine, wenn man so will, radikale wie beeindruckende Initiation. Hatten Sie denn Erfolg?
Ich habe mir damals einen Weg gesucht, auf dem ich die Besucher durch diese Terra incognita führen konnte. Entlang dieses Wegs gab es dann Stationen, die auf Besonderheiten aufmerksam machen sollten. Die Teilnehmer hatten zunächst ganz unterschiedliche Erwartungen. Manche dachten, wir würden ein ehemaliges Betriebsgelände und Maschinen besichtigen, andere waren frühere Beschäftigte des Tagebaues und wiederum andere interessierten sich für Umweltschäden. Es dauerte eine Weile, vielleicht eine halbe Stunde, bis diese Erwartungen beiseitegelegt waren und die Leute tatsächlich ankommen konnten an diesem Ort. Manche fühlten sich an die Landschaft Islands erinnert, einige fanden, es sehe aus wie auf Gran Canaria. Die Offenheit für eine fremde Landschaft, die sie im Urlaub kennengelernt hatten, konnten sie jetzt auch gegenüber dieser Tagebaulandschaft zeigen. Diese Bereitschaft lässt sich meines Erachtens nur über die Form der kontemplativen Fortbewegung, also beim Spazierengehen, erreichen. Am Ende stand tatsächlich eine veränderte Wahrnehmung dieser Landschaft, die nun als Ort mit eigenen Qualitäten erkannt wurde.
Lässt sich diese Herangehensweise auf bebaute Umgebung übertragen – auf die Wahrnehmung und Bewertung von Architektur?
Ich möchte da weniger auf Architektur fokussieren als auf Baukultur oder Stadtraum. Besonders gefragt war dieser Ansatz, als alle von „schrumpfender Stadt“ redeten. Da waren „Formate in Fortbewegung“, wie ich die praktische Spaziergangswissenschaft nenne, sehr gefragt. Ich habe damals Wanderungen und Routen durch schrumpfende Städte, auch hier durch Leipzig, konzipiert. Zum Teil führten die Wege auch durch Brachen, und ich bemerkte, wie damals zu Beginn eines Spaziergangs eine Teilnehmerin skeptisch tuschelte: „Jetzt führt er uns hier durch die Dreckecken.“ Am Ende kam diese Frau und bedankte sich. Sie hatte durch die Erfahrung vor Ort ein neues Bild gewonnen und erkannt, wie einzelne Brachen oder Leerstellen in der Stadt mit anderen Räumen verbunden sind und welcher Gestaltungsspielraum daraus erwachsen kann. Dank dieser Spaziergänge durch schrumpfende Städte wurde gewissermaßen im Kopf deutlich, wie Landschaft in die Stadt zurückkehrt und das vorhandene Bild der Stadt überformt.
Architekten und Stadtplaner haben bei ihren Planungen mitunter ganz andere Prämissen im Kopf. Da geht es um Gebäudehöhen, Dichte, Fassaden oder Blockkanten und weniger um Eindrücke, Atmosphäre oder Empfindungen. Was könnten Sie als Spaziergangswissenschaftler dieser Berufsgruppe an neuen Einsichten und Erkenntnissen versprechen?
Da möchte ich auf den französischen Landschaftsarchitekten Bernard Lassus und seine Methode der „umherschweifenden Aufmerksamkeit“ und der „erfinderischen Analyse“ verweisen. Er fordert von Planern, die sich anschicken, einen Ort neu oder umzugestalten, diesen Ort richtig in sich aufzusaugen, ihn immer wieder zu besuchen, zu unterschiedlichen Tageszeiten, bei unterschiedlichem Wetter – bis man wirklich erfasst hat, was dort an Qualitäten vorhanden ist. Unterlässt man diese Form des Sich-vertraut-Machens, besteht die Gefahr, Bestehendes nicht wahrzunehmen und mit der eigenen Planung praktisch auszulöschen. Das zeigt sich auch bei den eingangs erwähnten Tagebaulandschaften: Der Umgang damit ist ein schönes Beispiel für das erworbene Bewusstsein der besonderen Qualitäten dieser Landschaften. Man kann sich nämlich fragen, ob es sich dabei wirklich um sogenannte weiße Flecken handelt, die man mit künstlichen Seen und Gewässern erst zu einer wertvollen Landschaft macht, oder ob es nicht doch bestehende Qualitäten und Besonderheiten gibt, die von so einer Planung getilgt würden.
So ähnlich ist es auch mit Gebäuden in der Stadt, die ja nicht monadisch einzeln für sich existieren, sondern in einem vorhandenen Gefüge errichtet werden. Und je mehr man von den baulichen, sozialen und atmosphärischen Eigenheiten des Standortes weiß, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Neubau sich dort einpasst.
Eignet sich die Spaziergangswissenschaft auch als Ergänzung zu Beteiligungsverfahren, bei denen es ja um genau diese Aspekte geht?
Es geht der Spaziergangswissenschaft darum, sich neue Perspektiven zu erschließen. Und gerade bei Beteiligungsverfahren, in denen die Meinungen und Ansichten aller gehört werden sollen, lässt sich mit Spaziergängen ganz elegant ein Rollentausch inszenieren: Professionelle Planer, also berufsmäßige Experten, lassen sich auf diesen Wanderungen von den sogenannten lokalen Experten, also Bewohnern oder Nutzern in einem Quartier, über die vielleicht nicht unmittelbar sichtbaren Besonderheiten und Qualitäten eines Ortes unterrichten, werden also aus ihrer Expertenrolle entlassen und dürfen etwas Neues lernen. Diesen Ansatz, bezeichnet als „narrativer Urbanismus“, verfolgt zum Beispiel Elke Krasny aus Wien. Doch ich möchte hier noch einmal differenzieren: Natürlich verfügen Architekten und Stadtplaner über Wissen und Kenntnisse, die nicht jeder Bewohner einer Straße hat. Interessant wird es dann, wenn sich beide Seiten in einem Beteiligungsverfahren auf Augenhöhe begegnen. Die Stiftung Baukultur initiiert solche Veranstaltungen in Form von „dialogischen Spaziergängen“, bei denen ein Planer oder Architekt zusammen mit einem lokalen Experten und einem Moderator zu einem Spaziergang aufbricht. Wichtig ist dabei, dass der lokale Experte eben kein zufällig ausgewählter Bewohner oder Nutzer ist, sondern einer, der sich fundiert und auf Augenhöhe mit einem Planer auseinandersetzen kann und die Perspektive der anderen Seite auch einzubringen in der Lage ist.
Das klingt jetzt doch nach etwas anderem als diesem spontanen, voraussetzungslosen Spazierengehen. Ist es nicht vielmehr so, dass erfolgreiche Spaziergangswissenschaft eine gewisse Vertrautheit mit dem Handwerk der planerischen Disziplinen, mit Soziologie und Geschichte, voraussetzt? Denn es geht ja nicht darum, beim gefälligen Herumwandern nur Eindrücke zu sammeln – man muss diese auch einordnen und objektiv bewerten können. Das verlangt von den Promenadologen doch einiges an wissenschaftlicher Tugend und interdisziplinärer Kompetenz.
Ich setze mich mit meinem Ansatz ja auch deutlich ab von rein künstlerisch intendierten Projekten, bei denen es sich wie im Situationismus vorrangig um subjektive Empfindung und Wahrnehmung dreht. Nicht umsonst heißt das Einstiegskapitel meines Buches „Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan“. Lucius Burckhardt war von Haus aus Soziologe und hat seine Wahrnehmungen sicher auch entsprechend dieser akademischen Prägung kategorisiert. Ein Landschaftsplaner wie ich selbst nimmt wiederum andere Dinge wahr und ist für dieses oder jenes blind; ebenso der Architekt oder der Biologe. Auf den Spaziergängen stößt man auf viele unbekannte Sachen, offene Fragen, für deren Klärung man auf weitere Informationen, Reflexion und manchmal auch auf Experten anderer Disziplinen angewiesen ist. Erst so wird der Blick ja weiter und kann mit dem neuen Wissen auch neue, bis dahin ungesehene Dinge erfassen. Wie aus der sinnlichen Wahrnehmung über das Nachdenken Erkenntnis wird, das ist das eigentlich Faszinierende. Letztendlich fängt die Arbeit nach dem Spaziergang erst an. Und das im Nachhinein Erarbeitete lässt sich dann oft wieder bei einem weiteren Spaziergang anschaulich kommunizieren.
Sind Eindrücke nicht vor allem subjektiv – und in dem Sinne auch noch keine wissenschaftlich verwertbaren Erkenntnisse?
Es ist ein hauptsächliches Anliegen der Disziplin Spaziergangswissenschaft, genau das zu reflektieren. Es geht darum, die jeweils gewohnten Bilder von Landschaft und gebauter Umgebung infrage zu stellen und aufzubrechen.
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