Von Melanie Schlegel
Ein Penthouse mit Blick über Bordeaux weit über die Kirchturmspitzen der Kathedrale St. André hinweg, zwei Zimmer, 80 Quadratmeter, all das für 350 Euro. Nein! Es fehlt keine Null. Und nein! Der Preis gilt nicht pro Quadratmeter, sondern für die ganze Wohnung. Und nochmals nein! Wer reich ist, hat eher schlechte Karten, diese Wohnung zu beziehen. Während Architekt Christophe Hutin diese Zahlen seinen rund 100 Zuhörern im bis auf den letzten Platz gefüllten Münchner AIT-ArchitekturSalon präsentierte, zeigte er Fotografien von Philippe Ruault. Zu sehen waren sowohl die Wohnungen der jüngst umgebauten und um Wintergärten erweiterten Hochhausblöcke in der Cité du Grand Parc in Bordeaux als auch spektakuläre Ausblicke raus aus den Wohnungen über die Dächer der Stadt.
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Wohnscheiben in neuem Gewand
Diese Großzügigkeit übertrug sich am 6. März 2018 auch auf das Symposium „Bezahlbar besser wohnen. Transformation im urbanen Kontext“, denn im Hochbunker in der Münchner Hotterstraße saßen die Zuhörer quasi im Wintergarten der bordelaiser Wohnblöcke zwischen Yucca-Palmen und Fototapeten – der Ausstellungsarchitektur zur zugehörigen Schau „Never demolish!“ Weite, Freiheit und Schönheit. Attribute, die vermutlich nicht jedem Architekten beim ersten Brainstorming zum Entwurf eines Sozialwohnungsbaus einfallen würden; den Architekten Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal und Frédéric Druot dagegen schon. Nach deren erfolgreicher Transformation des Tour Bois le Prêtre, einem Wohnhochhaus mit 100 Sozialwohnungen am Stadtrand von Paris im Jahr 2011, wurden die Architekten von ihrem Bauherrn Bernard Blanc, dem Direktor der sozialen Wohnungsbaugesellschaft Aquitanis erneut beauftragt: dieses Mal mit der Transformation dreier Hochhausscheiben aus den 1960er-Jahren für rund 4.000 Bewohner in Bordeaux. Aufgrund der stattlichen Projektgröße zog der Bauherr für Umbau und Vergrößerung der insgesamt 530 Wohneinheiten das Architekturbüro von Christophe Hutin mit hinzu. Während des Umbaus verschwanden die ursprünglichen Lochfassaden, an deren Stelle es jetzt Vollverglasungen mit Schiebeelementen gibt. Davor liegt eine neue, 3,80 Meter tiefe Raumschicht aus Wintergärten und Balkonen. Innen angebrachte Thermovorhänge unterstützen den Wärmedämmeffekt des Wintergartens. Als Klimapuffer erreicht diese Konstruktion Dämmwerte wie ein 17 Zentimeter dickes WDV-System.
Eine Ahnung von bezahlbarem Wohnraum in der Münchner Altstadt
Mit der Ausstellung „Never Demolish“ injizieren die Kuratoren Andreas und Ilka Ruby das Thema „bezahlbarer Wohnraum“ direkt ins Herz der Münchner Altstadt; also genau dorthin, wo die Quadratmeterpreise so hoch sind, wie nirgendwo anders in Deutschland. Und sie demonstrieren anhand des Projekts in Bordeaux, dass es sehr wohl Alternativen zur inzwischen leider anerkannten Alternativlosigkeit von Abriss und Neubau gibt. Besucher erfahren in einer 1:1-Installation den grundsätzlichen Raumtypus: die Erweiterung eines Wohnraums durch den Wintergarten. Eine zehn Meter lange und knapp drei Meter hohe Fotowand übernimmt die Rolle der Glasfassade mit Schiebeelementen. Von einer Seite aus simulieren diese Fotos den Blick vom Wintergarten in den Wohnraum und von der anderen Seite den Ausblick vom Wohnraum auf die Wintergärten und weiter über die Dächer von Bordeaux. Reale Thermo- und Sonnenschutzvorhänge wurden vor die Fotowände gehängt und mit Mobiliar wie Sofas, Fernseher, Perserteppich oder Yucca-Palmen ausgestattet. Die Installation verwandelt den Ausstellungsraum in Wohnungen und vermittelt, wie weit und licht es auch im Sozialwohnungsbau sein kann.
Rückbau auf die Hardware
Aus Amsterdam berichtete Kamiel Klaasse von NL Architects über die Großwohnsiedlung Bijlmermer, die so umstritten und heruntergekommen war, dass große Teile bereits abgerissen wurden. Für eine noch erhaltene Hochhausscheibe, die für nur einen Euro den Besitzer gewechselt hatte, war ein intelligentes Sanierungskonzept die Rettung: Rückbau auf die „Hardware“, variable Grundrissvorschläge und Selbstausbau brachten den Erfolg und neue Bewohner. Nanni Grau und Frank Schönert vom Berliner Büro „Hütten und Paläste“ stellten anhand einiger Projekte verschiedene Strategien urbaner Transformation vor, aus denen resultierend erschwinglicher und sozial verträglicher Wohnraum entsteht. Sie setzen in ihrer Arbeit auf Themen wie urban gardening, Kreislaufsysteme materieller, sozialer und ökonomischer Art, aber auch auf Gemeinschaftsinitiativen oder -nutzungen wie Co-Working Spaces. In allen Vorträgen wurden qualitativ hochwertige (Sozialwohnungsbau-)Projekte gezeigt, die sich durch Größe, Raumstruktur, Belichtung und Komfort mit gehobenen Wohnungsbauten messen können. Deutlich wurde dabei auch, dass Partizipation oder Gemeinschaftseinrichtungen gut mit Energieeffizienz und Bezahlbarkeit vereinbar sind. Tenor: der Verzicht auf die Abrissbirne ist im Wohnungsbau absolut sinnvoll!
Melanie Schlegel ist freie Redakteurin und Autorin. Sie lebt in Seefeld (Bayern).
MEHR INFORMATIONEN
Die Ausstellung „Never Demolish!“ war bereits in Kopenhagen, Aarhus und Hamburg zu sehen und bleibt in München bis zum 16. April 2018. Die nächste Station soll voraussichtlich Basel sein. Passend zum Thema zeigt das Münchner Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne bis zum 21. Mai 2018 die Ausstellung „Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen! Wohnungsbau in Bayern 1918 | 2018“.
„Never Demolish!“
Ausstellungsdauer: bis 16. April 2018
AIT-ArchitekturSalon, Galerie für Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign
Hotterstraße 12, 80331 München
Öffnungszeiten:
Mi – Mo 10 – 20 Uhr
dienstags geschlossen
„Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen! Wohnungsbau in Bayern 1918 | 2018“
Ausstellungsdauer: bis 21. Mai 2018
Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne
Barer Straße 40, 80333 München
Öffnungszeiten:
Di – So 10 – 18 Uhr
Do 10 – 20 Uhr
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