Ein Protest von Jürgen Tietz
Jetzt beginnt sie wieder, die große Zeit der Fanmeilen. Dann schauen Zehntausende Fans deutschlandweit in bester Innenstadtlage gemeinsam Fußball. Es wird geprostet, gegrillt und (hoffentlich) gejubelt. Doch vor dem kollektiven Torschrei steht der Aufbau von Leinwand, Bühnen und Buden. Und damit sich in der Halbzeitpause nicht alle bierselig in den Parks und an Häuserecken erleichtern, gibt es auch noch haufenweise mobile Plastikklos. Ist dann das letzte Tor geschossen und der letzte Pokal vergeben, kommt das mobile Räumkommando und schält unter all dem provisorischen Plunder die eigentlichen Städte wieder frei. Egal ob Fanmeilen, Silvesterparty vor dem Brandenburger Tor oder Weihnachtsmärkte – der bundesdeutsche Budenzauber kennt viele Varianten und kaum Grenzen. „Alle Lust will Ewigkeit“ teilt Friedrich Nietzsche im „Zarathustra“ mit. Die Lust an den Buden endet rasch – doch ihre Abfolge an solchen Orten scheint ewig und fast unterbrechungslos zu sein.
Sie sind inzwischen zu einem festen Bestandteil der Eventisierung der Innenstädte geworden. Doch temporäre Plastikzelte und Bühnenaufbauten haben mit qualitätvollen Stadtmöbeln oder gar mit einer nachhaltigen Stadtplanung herzlich wenig zu tun. Vielmehr stehen sie für eine zeitweise Vermüllung des öffentlichen Raums, die längst zum erfolgreichen Geschäftsmodell geworden ist.
Dabei haben ephemere (rasch vergängliche) Architekturen seit der Renaissance eine lange Tradition. Doch von den grandiosen Triumphbögen und Festdekorationen eines Giorgio Vasari in Florenz sind nur die Hüpfburgen der Gegenwart übrig geblieben.
Gestalterisch mäßig, am Ort leider regelmäßig
Dass „fliegende Bauten“ auch ohne einen besonderen architektonischen Gestaltungswillen eine stadträumliche, ja soziale Qualität besitzen können, beweisen viele Wochenmärkte aufs Schönste: Mit einigen in die Jahre gekommenen Holzböcken und etwas Plane lässt sich für einen Vormittag ein stimmungsvolles Stück Stadt im Miniaturformat aufbauen. Und bei mancher Ausstellungsarchitektur, die einst nur temporär geplant war, können wir heute höchst dankbar sein, dass sie nicht demontiert wurde. Wer würde schon gerne auf den Pariser Eiffelturm verzichten?
Doch das sind die Ausnahmen. Bei den meisten provisorischen Musical-Zelten, wie etwa dem 1997 in Köln aufgestellten oder dem von 2002 in Hamburg, wünscht man sich keineswegs, dass sie ewig stehen bleiben. Wer würde anderseits dem Dauerprovisorium des „Spiegelzelts“ gleich neben dem Haus der Berliner Festspiele auf einem Charlottenburger Parkdeck ernsthaft seinen Wert absprechen? Nicht nur mit seinem Veranstaltungsprogramm, sondern auch mit seinem Erscheinungsbild lässt das 1912 in Flandern als „Danse Paleis“ geschaffene Jugendstilzelt ferne Zeiten lebendig werden und fasziniert so seit vielen Jahren seine Besucher. Das lässt sich von den meisten temporären Zeltkonstruktionen kaum behaupten, deren Qualität sich in ihrer Funktion als Witterungsschutz erschöpft. Nun könnte man sagen: Wer angesichts eines drohenden Regengusses noch nie ein Baumarkt-Bierzelt in seinem Garten aufgestellt hat, der werfe den ersten Stein. Doch das Problem greift leider tiefer: Kaum jemand ereifert sich darüber, wenn ab und an ein Zirkuszelt auf einer Stadtbrache zum Besuch lockt. Doch das Verhältnis von Gestaltungsqualität, Ort und Dauer ist bei provisorischen Bauten entscheidend. Wenn Gläubige und Touristen vor lauter dauerhaft-provisorischen Bretterbuden samt begleitenden Schmuddelecken nicht mehr den Weg in die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche finden, dann ist das ein Ärgernis – selbst wenn dadurch dringend benötigte Einnahmen für die Sanierung der maroden Kirche generiert werden.
Und ganz zu Recht hat es zu massivem Protest geführt, als Berlins Bebelplatz in schönster Geschichtsvergessenheit mit Event-Zelten zugestellt wurde – samt Micha Ullmans eindruckvollem Erinnerungsmal für die Bücherverbrennung. Es besteht eben ein kleiner, aber entscheidender Unterschied zwischen ephemeren und provisorischen Bauten: Während die einen den Stadtraum für einen Moment interpretieren und dadurch bereichern, erweisen sich die anderen als Banalitäten in Plastik.
Architektur nur noch als Hintergrundkulisse
Die Innenstädte mit Bierzelten zu traktieren, dokumentiert einen geradezu schmerzhaften Mangel an Respekt vor dem öffentlichen Raum. Statt ihn zu qualifizieren, wird er aufgrund der klammen Kassen der Kommunen oft genug um jeden Preis kommerzialisiert. Doch bedürfen Reit- oder Tennisturniere in provisorischen Stadien tatsächlich einer städtischen Triple-A-Lage? Viele Party-Installationen bedienen sich lediglich einer werbewirksamen Natur- oder Architekturkulisse, die sie durch die Banalität ihrer Gestaltung und Nutzung entwerten und nicht selten auch noch beschädigt hinterlassen. Wie es mit temporären Mitteln auch anders geht, das hat die legendäre Infobox von Schneider und Schumacher am Potsdamer Platz als Mutter aller Infoboxen zu Beginn der 1990er-Jahre hinlänglich bewiesen. Temporäre Gestaltung mit Raum- und Aufenthaltsqualität funktioniert übrigens auch auf der grünen Fläche, wie die schöne Gestaltung des Berliner-Schloss-Areals durch relais Landschaftsarchitekten aus Berlin zeigt. Solange es möglich ist, sollte sich dort jeder einmal an einem schönen Sommertag niederlassen und den Blick auf die Stadt aus ungewohnter Perspektive genießen – denn auch die Verschiebung des Blickwinkels kann eine Qualität von ephemerer Architektur und Stadtgestaltung sein.
Einen Ausweg aus dieser Banalisierung durch die Eventisierung zu finden, mag mühsam sein, ist aber nötig. Dafür wird es allerdings nicht ausreichen, architektonisch anspruchsvollere Veranstaltungszelte zu entwerfen – selbst wenn sie mit dem Gestaltungsniveau der sommerlichen Gartenpavillons der Londoner Serpentine Gallery wetteifern würden, die Architekten, wie zuletzt Peter Zumthor, Jean Nouvel und Sanaa, entwerfen. Vielmehr gilt es, bestimmte Orte gerade in den Innenstädten vor ihrer hemmungslosen Übernutzung zu schützen – auch wenn diese noch so temporär sein mag. Nicht jeder Marktplatz eignet sich für die Tribünenaufbauten eines Konzerts, nicht jede etwas längere Straßenachse muss als Partymeile fürs Public Viewing herhalten. Die Art, wie wir unsere Straßen, Plätze und Parks mit temporären Bauten und Nutzungen zumüllen, lässt ganz grundsätzliche Rückschlüsse auf unser Verständnis von Stadt und öffentlichem Raum zu. Sie ist ein Gradmesser für das baukulturelle Selbstverständnis eines Landes.
Dr. Jürgen Tietz ist Kunsthistoriker und Journalist in Berlin.