Text: Roland Stimpel
Kein historisches Zentrum einer europäischen Großstadt ist so tot wie das von Kaliningrad, früher Königsberg. Das gesamte städtebauliche Inventar der früheren Altstadt, 70 Jahre nach Kriegsende, ist rasch aufgezählt: anstelle von 44 einstigen Wegen und Gassen zwei Schnellstraßen namens Moskau-Prospekt und Lenin-Prospekt nebst gemeinsamem Autobahnknoten.
Der 16-stöckige Rohbau eines Sowjetpalasts auf dem Grund des früheren Schlosses – kurz nach 1970 begonnen und wegen des unzureichenden Baugrunds nie vollendet, steht seit rund 40 Jahren als totes Monumental-Gerippe im leeren Raum. Schließlich der Dom auf der Kneiphofinsel mit dem Grab Immanuel Kants, als einziges Gebäude der Altstadt wieder aufgebaut. Ansonsten bestehen Kaliningrads 650.000 zentrale Quadratmeter nur aus Brachen, Parkplätzen und mehr oder minder systematisch drapiertem Verlegenheitsgrün.
Die Ödnis ist allen peinlich
Die Sowjet-Leere reicht den Russen jetzt. Architekten, Stadtplaner und Historiker haben sich zu einer Initiative namens „Herz der Stadt“ zusammengeschlossen. Wichtige Anstöße gab der Architekt Arthur Sarnitz – in Kaliningrad aufgewachsen, in den 1990er-Jahren längere Zeit in Großbritannien und den USA unterwegs. Sarnitz möchte gleich die ganze Altstadt rekonstruieren, zumindest städtebaulich. Diese Idee gab wichtige Impulse, war aber vielen zu radikal. Die Pragmatiker beim „Herzen der Stadt“ suchen eine Synthese aus altem Königsberg, Spuren der Sowjetzeit und einer neuen ost-westlichen Stadt.
2013 fand ein erster Entwurfs-Workshop mit Teams aus fünf Ländern statt, von Holland über Deutschland, Polen und Russland bis Finnland. 2014 folgte ein städtebaulicher Wettbewerb, gemeinsam ausgelobt von den „Herz“-Leuten sowie den Machthabern in der Stadt und der Oblast, der gleichnamigen Provinz. Auch die Regierenden goutieren das Projekt – Leere nützt keinem, und die Sowjetspuren sind heute allen peinlich, selbst Freunden der alten Sowjetunion. Auch sieht niemand hier die Neugründung der einst deutschen Altstadt als Trojanisches Pferd des Westens. Viele Kaliningrader begreifen trotz der aktuellen politischen Kalamitäten ihre Stadt als Drehscheibe zwischen Ost und West – was sich auch städtebaulich ausdrücken soll.
Der Auslobungstext zum Wettbewerb begann urbanistisch-grundsätzlich: „Es ist noch nie ein Versuch gelungen, die Entwicklungsgeschichte einer Stadt nachträglich neu zu schreiben. Deren verlorene Strukturen erzeugen immer einen Phantomschmerz.“ Und den Teilnehmern wurde vorgegeben: „Wir reißen kein einziges Stück eines Baus aus Sowjetzeiten ab oder sprengen gar das Haus des Sowjets. Sie sind Geschichtszeugnisse, genau wie die Fundamente der Königsberger Häuser, die unter den Trümmern verborgen sind.“
Der Wettbewerb gab am Sowjet-Rohbau ein Kulturviertel mit Museen, Konzertsaal und Bibliothek vor. Für den Rohbau selbst waren alle Gedanken erlaubt – außer dem Abriss und der plumpen Verwandlung in ein Einkaufszentrum. Zwischen dem Bau und dem Fluss Pregel boten sich Reminiszenzen an die bürgerliche Altstadt an. Die Kneiphofinsel sollte schließlich bis auf die Kathedrale unbebaut bleiben, allerdings veredelt zum „Philosophischen Park“.
Vorsitzender der Jury wurde der Publizist und Kurator Bart Goldhoorn. Er stammt aus den Niederlanden und gründete nach 1990 „project russia“, die erste Architekturzeitschrift in englischer und russischer Sprache. Drei Juroren kamen aus Deutschland: die Karlsruher Urbanistin Barbara Engel, Berlins früherer Senatsbaudirektor Hans Stimmann und der aus Russland stammende Hamburger Architekt Sergei Tchoban. Zu den Sachpreisrichtern gehörten der Gouverneur und der Bürgermeister.
Am Wettbewerb beteiligten sich 39 Architekten; es gewann das Büro Studio 44 aus Sankt Petersburg. Es sieht ein kleinteiliges Viertel am Fluss vor, mit den alten Straßen und möglichst auch den alten Grundstücken. „New Altstadt“ heißt der hübsche Begriff dafür. Den Sowjetpalast will Studio 44 mit einem Sockel umbauen, weitere moderne Neubauten daneben platzieren und auf diese Weise den Klotz ins Quartier integrieren – allerdings um den Preis, dass sich hier die Baumassen und Nutzflächen ballen. Den Lenin-Prospekt wollen die Wettbewerbssieger abreißen und die legendären sieben Brücken der Stadt neu errichten lassen.
Ein Konsens zum Altstadt-Neubau ist da, aber der Fortgang offen. Die Wirtschaftskraft ist nicht besonders hoch und wird momentan durch die Folgen des Ukraine-Konflikts weiter geschwächt. Vor allem fehlt ein breites und leidlich vermögendes Bürgertum, das den individuellen Hausbau auf einstigen Altstadt-Parzellen tragen könnte. Zudem sind die Besitzverhältnisse teils ungeklärt, auch wenn kein Nachkomme früherer deutscher Besitzer mehr Ansprüche auf Großvaters Grundstück erheben kann.
Das Jury-Mitglied Hans Stimmann resümiert: „Angesichts der politischen und planerischen Schwierigkeiten, die dabei zu bewältigen sind, erscheinen die von Berlin vergleichsweise klein.“ Aber die Kaliningrader haben ein simples Beschleunigungsmittel, das Berlin fehlt: Sie sind entschlossen, ihr Zentrum wieder aufzubauen.
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