Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Zurückhaltung und Präzision“ im Deutschen Architektenblatt 03.2024 erschienen.
Von Christoph Gunßer
Sieben introvertierte Quadratmeter Wohnfläche auf einer Verkehrsinsel, extrem ausgeklügelt und effizient, zugleich auf pfiffige Weise wohnlich – das ungewöhnliche Mikrohofhaus in Ludwigsburg machte Florian Kaiser, 36, und Guobin Shen, 39, auf einen Schlag bekannt. Sie arbeiten schon seit dem Studium an der Uni Stuttgart zusammen. 2017 gründeten sie das Atelier Kaiser Shen und gewannen direkt den Raumpioniere-Wettbewerb, aus dem das Mikrohofhaus hervorging.
Zuvor waren die beiden monatelang durch China gereist und hatten traditionelle Wohnformen studiert. In der Beschränkung aufs Wesentliche entdeckten sie ihr Thema. „Das Mikrohofhaus ist ein schwäbisches Haus, weil es so klein ist – mit einem chinesischen Hof“, reflektiert Florian Kaiser. Er selbst lebte bis vor Kurzem auf 20 Quadratmetern, mit Thoreaus „Walden“ als Lieblingslektüre.
Wettbewerbe als Startrampe
Seit dem minimalistischen Erstling ging es mit dem Büro bergauf: Nachdem sie bei Europan 14 den ersten Preis für ihren Entwurf zur Sanierung eines Wohnhochhauses in Aschaffenburg errungen hatten, gelang bei einem Wettbewerb der IBA Stuttgart zum Stuttgarter Stöckach zweimal eine Zweitplatzierung, in einem Fall unter 83 Büros.
Bauherr will Holz, Lehm und Stroh
Dann kam erstmals ein Bauherr direkt auf sie zu. Dem ähnlich jungen Stuttgarter Bauingenieur und Experten für nachhaltiges Bauen imponierte das Mikrohofhaus. In seinem Heimatort wollte er ein Modellprojekt, ein „green building“, realisieren, das zeigt, was alles ökologisch möglich ist: ein zu vermietendes Doppelwohnhaus aus Holz, Lehm und Strohballen.
Auch wenn das ökologische Bauen ein eigentlich urschwäbisches Thema ist, bescheiden und gottgefällig, hatten weder Florian Kaiser noch Guobin Shen damit Erfahrung. Also arbeiteten sie sich in die neue Materie ein.
Anonyme, lokale Bautraditionen als Vorbild
Der Bauplatz des Zweifamilienhauses liegt zentral im Ortskern der kleinen Gemeinde Pfaffenhofen bei Heilbronn, direkt gegenüber der mittelalterlichen Kirche. Auch deshalb lag eine konventionelle Kubatur des Neubaus nahe – die meisten alten Fachwerkhäuser haben hier einen Sockel und ein Satteldach.
Kaiser Shen greifen gern Eigenheiten des anonymen, lokalen Bauens auf. An spektakulären neuen Bildern sind sie nicht interessiert. Während viele zeitgenössische Architekten einen Dachüberstand aus Gründen des puren, klaren, leichten Erscheinungsbildes vermeiden, haben die jungen Stuttgarter mit diesem Element kein Problem.
Strohhaus braucht trockene Füße
Auch den Sockel als weiteres „typisches“ Element des traditionellen Hausbaus übernahmen die Architekten; sie übertreiben ihn gleichsam. Denn bei einem Strohballenhaus, das rundum in diesen nachwachsenden Baustoff eingepackt werden soll, gilt es ohnehin, den Boden des untersten Wohngeschosses trocken zu halten: „Feuchte, Feuer, Viecher“ sind die drei neuralgischen Punkte bei dieser Bauweise.
Ein Haus zum Weiterentwickeln
Das erste, schlicht gehaltene Buch über ihr Büro nannten die beiden programmatisch „Unfertige Häuser“. Damit meinen sie nicht, dass sie die Baustellen vorzeitig verlassen würden. Es geht vielmehr um Freiräume, die sie den in den Häusern Lebenden zur Aneignung, zum Weiterbauen lassen.
Diese strukturalistische Herangehensweise ließ die Planer hier den nötigen Sockel gleich so bemessen, dass er als Freiraum vielseitig verwendbar ist. Das Souterrain vieler schwäbischer Siedlungshäuser ist ein solcher Multifunktionsraum, der als Werkstatt, Garage oder als Einliegerwohnung taugt. Hier also wird das Holzhaus gleichsam aufgebockt.
Sockel als Joker-Geschoss
Die Gartenebene wird so zum Joker-Geschoss: Zur Straße dürfte sie zwar zum Parken genutzt weden, auf der Rückseite aber gibt es in einem der Gevierte schon eine Einliegerwohnung. Und daneben begannen die Bauarbeiter bereits in der Bauzeit, einen Sitzplatz mit Sommerküche zu etablieren.
Raffinierte Verschränkung der Wohnungen
Entlang der tragenden Betonwand geht es in Längsrichtung hinauf ins Obergeschoss, und zwar von beiden Seiten. Zwei einläufige Treppen erschließen als Himmelsleitern mit hellem Oberlicht die beiden Wohngeschosse, die sich auf diese Weise auch vertikal unterteilen lassen.
Die Überraschung: Im ersten Wohngeschoss ist das Haus längs geteilt, im zweiten quer. Jeweils vier quadratische Wohnräume von vier mal vier Metern mit gleichförmigen quadratischen Fenstern sind unten der Länge nach als Enfilade gereiht, oben kompakt zum Durchwohnen verbunden.
Stroh innen, Holz und Lehm außen
Die Bilder von der Stroh-Baustelle sind (noch) ungewöhnlich: Stapel aus 36 Zentimeter starken Strohballen wandern per Muskelkraft in die vorgesehenen Wandabteile aus Stegträgern, Weichfaser- und Brettstapelplatten, werden per Heckenschere „frisiert“, mit Holz- oder Lehmbauplatten verkleidet und mit Lehm verputzt.
Im Zusammenspiel mit Parkett, Holztüren und -fenstern wirkt das Interieur hell und edel. Sehr schön sind im Dachgeschoss die breiten Dachfensterbänder, die sich elektrisch weit öffnen lassen und den Blick auf die dörfliche Dachlandschaft freigeben. Die dachintegrierte Photovoltaik-Anlage liefert rund 35.000 Kilowattstunden pro Jahr.
Perfekt durchgeplante Ordnung
Die Stärke der Tüftler Kaiser und Shen erkennt man an der perfekt durchgeplanten Ordnung des Gebäudes: Von den Maßen der Strohballen bis zur Solaranlage passt einfach alles zusammen. Weder Feuchte noch Viecher finden da Einlass. Und die Feuerpolizei war mit den anleiterbaren Balkonen als zweitem Fluchtweg zufrieden. Präzision, wohin man blickt: In der Weißtannenschalung außen ist bei näherem Hinsehen sogar die interne Wohnungsaufteilung ablesbar.
Überzeugende Energiebilanz
Auch die Energiebilanz des Modellprojektes ist eigentlich unschlagbar: 95 Prozent weniger CO₂-Ausstoß, als ein vergleichbarer Massivbau verursacht hätte! Dazu kommen noch die 100 Tonnen CO₂, die in den 140 Kubikmetern heimischem Holz gespeichert sind. Und der Betrieb der Deckenstrahlungsheizung über die PV-Anlage dürfte den schwäbischen Mietparteien sehr gefällige Nebenkosten bescheren.
Mehrfachbeauftragung für neues Flüchtlingsheim
Derzeit planen Kaiser Shen nach gewonnenem Wettbewerb im Remstal bei Stuttgart eine weit größere Wohnanlage mit rund 45 Einheiten (darunter zwei Clusterwohnungen) für eine junge Genossenschaft, ebenfalls in Strohballenbauweise – einer aus der Genossenschaft hatte das Pfaffenhofener Haus besichtigt. Das modulare Projekt mit wohnlichen Laubengängen soll zum Stuttgarter IBA-Jahr 2027 fertig sein.
Vom Mikrohofhaus war dagegen die Gemeinde Schönaich südlich von Stuttgart so angetan, dass sie Kaiser Shen zu einer Mehrfachbeauftragung für ein neues Flüchtlingswohnheim einlud. Der wie das Strohballenhaus auf einem strengen Raster basierende Holzbau auf massivem Sockel wird im Frühjahr fertig. Flexibel und kommunikativ angelegt, taugt die Struktur auch für eine reguläre Wohnnutzung.
Lokale Kreisläufe geschlossen
Auch Umbau ist inzwischen im Büro ein Thema: In Florian Kaisers Heimatgemeinde bei Biberach gewann das Team die Konkurrenz für den Umbau der Mehrzweckhalle aus den Sechzigern. Sorgfältig Neues von Altem absetzend, stocken sie die Struktur auf und legen eine zweite Schicht vor die Südfassade.
Und in Müllheim im Schwarzwald erweitern sie eine Grundschule, indem der Klassentrakt pfiffig verdoppelt wird und ein neuer Flur als Treffpunkt entsteht. Das Holz für die Erweiterung stellt die Gemeinde, der ein Teil des Schwarzwalds gehört, selbst. Auf diese Weise werden Transportwege verkürzt und lokale Kreisläufe geschlossen.
Akquise meist über Wettbewerbe
So gesellt sich eins zum andern. Die Akquise gelingt weiter vorwiegend über Wettbewerbe. „Wir haben uns hochgearbeitet“, sagt Florian Kaiser nicht ohne Stolz, mahnt aber an, dass die Kammern sich noch mehr für junge Büros einsetzen sollten: „Eine Quote für junge Büros bei Wettbewerben würde vielen helfen, insbesondere auch für ‚leckere‘ Aufgaben. Wir würden auch gern mal ein Museum oder eine Kirche bauen.“
Finanziell kommen sie inzwischen über die Runden. Die kleinen Projekte bieten mehr Spielraum zum Erproben, werfen aber wenig ab. „Beim Strohballenhaus haben wir draufgezahlt“, berichten sie.
Intensiver Meinungsaustausch im Architekturbüro
Das Büro ist mit acht Mitarbeitenden gut ausgelastet. Überall stehen Modelle herum, die dem Team als Experimentier-Grundlage dienen. Wie Florian Kaiser sagt: „Wir sind oft unterschiedlicher Meinung und diskutieren laut und intensiv, aber dadurch entstehen bereichernde Kontraste.“
Zur Inspiration haben sie die Ateliergespräche eingeführt, bei denen jeweils ein Kollege einen Vortrag hält, der dann diskutiert wird. Doch auch beim Mittagessen löst die assoziativ behängte Pinnwand regelmäßig Fachgespräche aus, die dann manchmal den Projekten einen neuen Dreh geben.
Neue Ideen nach Stuttgart bringen
Unendlich viel wachsen soll das Team nicht mehr. Da man weiter alle Leistungsphasen inklusive Bauleitung abdecken möchte, ist der Wirkungskreis erst mal auf den Südwesten begrenzt. In Stuttgart ist man gut vernetzt und nutzt die aktuelle „IBA-Welle“, die laut Kaiser und Shen „tolle Bauaufgaben und neue Ideen nach Stuttgart bringt“.
Aber mal im Ausland zu bauen, reizt sie schon. Ganz Schwabe, wollte Florian Kaiser da schon immer hin. Beide waren nach dem Studium eine Zeit lang bei Herzog & de Meuron in Basel, was sie sehr geprägt hat. Guobin Shen, der 2006 eigentlich nur für ein Gastsemester nach Deutschland kam, lebt jetzt bald länger hier als im heimatlichen Shanghai. Dort etwas zu bauen, kann er sich gut vorstellen. Sicher ist: Von dem schwäbisch-chinesischen Tüftler-Team wird man noch hören.
Alle Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Jung.
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