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Zurück Welterbe

Aufstand der Mieter

Was ist wichtiger an Siedlungen der 1920er-Jahre: Erscheinungsbild oder Bewohner-Alltag? Im Berliner Unesco-Welterbe gerät beides in Konflikt

31.10.20129 Min. Kommentar schreiben
Weisses Wohnschiff: „Panzerkreuzer“ ist der Spitzname des von Hans Scharoun entworfenen Hauses in der Siemensstadt, in dem er 30 Jahre lang selbst lebte. Nach Beschädigungen im Krieg wurde es vereinfacht wieder aufgebaut. Foto: Landesdenkmalamt Berlin/W. Bittner

Text: Ralf Kalscheur und Roland Stimpel

Viele Bewohner interessieren sich mehr für bunte Pflanzen als für die Architektur ihres Hauses – selbst wenn es von Hugo Häring entworfen wurde. Foto: Deutsche Wohnen AG

Bunte Strähnchen, Nagellack und Hornhautraspeln im Weltkulturerbe von Berlin-Siemensstadt: Muss das wirklich sein? Thomas Krüger ist nicht besonders glücklich über Läden wie das „Friseur- und Kosmetikstübchen inkl. medizinische Fußpflege“, das eine Frau namens Bianca in dem halbrunden Hausanbau von Hans Scharoun betreibt. „Für die Ladenlokale wünsche ich mir Nutzungen und Gestaltungen, die der kulturellen Bedeutung des Ensembles angemessen sind.“ Doch Galerien oder Architekturbüros wollen zu Krügers Leidwesen nicht hierher. Die Ringsiedlung in der Berliner Siemensstadt ist eine Kleine-Leute-Gegend mit einer Mehrheit von Rentnern, Ausländern und Arbeitslosen und einem Altersdurchschnitt von 54 Jahren. Hier gibt es kaum Kundschaft, die von historischem Avantgarde-Design im Stil von 1931 zu beeindrucken wäre. Wer hier wohnt, sucht eher Fußpflege, Kneipe oder Hundesalon. Immerhin existiert neuerdings eine Welterbe-Infostation im klassischen Erscheinungsbild, betrieben vom Architekten Thomas Krüger. Er führt mit seiner Agentur „Ticket B“ Besucher durch die sechs unter Welterbeschutz gestellten Siedlungen der frühen Moderne.

Beim Nagelstudio hat Krüger auf seine Art recht: Dem Denkmalwert der Siedlung entsprächen eher Nutzer in der Optik der Goldenen Zwanziger als Billigläden, die in die Fenster rosa Folienbuchstaben kleben. Aber die Fußpflegerin Bianca und ihre Kunden haben auch recht: Das Quartier ist in der Spätzeit der Weimarer Republik für Arbeiter der nahen Siemens-Werke im sozialen Geist errichtet worden, manche würden heute sagen: für Unterschichten. Und haben die etwa keinen Anspruch auf Nagel- und Hornhautpflege für kleines Geld, und hat Bianca kein Recht auf diese Art Existenzgrundlage? Im Berliner Welterbe ist ein Konflikt zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen ausgebrochen: Es kann volkstümlich sein, ist dann aber aus bürgerlicher Sicht auch schäbig, oder es ist herausgeputzt, dann aber auch teuer.

Buntes und Rundes: In der Hufeisensiedlung ist die Welt optisch auch heute in Ordnung. Eigentümer achten den Denkmalwert ihrer 400.000-Euro-Reihenhäuser und streichen nur in Bruno Tauts originalem Farbton. Bewohner des zentralen Hufeisens pflanzen aber gern Nadelbäume in ihre Mietergärten und haben wenig Sinn für klassisch-moderne Freiraumgestaltung. Foto: Deutsche Wohnen AG

Man kann es Gentrifizierung nennen

Zwei der Siedlungen repräsentieren die Extreme: In der Siemensstadt geht es eher rustikal und dafür billig zu. Auf der anderen Seite steht Bruno Tauts legendäre Hufeisensiedlung. Hier konzentriert sich mehr und mehr ein denkmalbewusstes, zahlungskräftiges und -williges Publikum, das die Ehre des Erbauers hochhält. Andererseits treibt es, ohne das zu wollen, der Siedlung den sozialen Geist der Erbauungszeit aus: Für 100-Quadratmeter-Reihenhäuser werden 400.000 Euro gezahlt – Preise wie in Berlins feinsten Villengegenden. Manuela Damianakis, Sprecherin der Siedlungseigentümerin Deutsche Wohnen AG: „Die Häuschen sind total begehrt und werden uns aus den Händen gerissen. Die Ecke wird plötzlich bildungsbürgerlich.“ Man kann es auch Gentrifizierung nennen. Alteingesessene hatten zwar schon 1998 eine Genossenschaft gegründet, um ihre Häuser zu kaufen, aber das war schon damals zu teuer. Mietwohnungen kosten pro Quadratmeter und Monat deutlich mehr als den Gesamtberliner Mittelwert von 5,21 Euro.

Wer sich schon eingekauft hat, stört sich nicht daran. Zu den Bewohnern der denkmalfreundlichen Art gehört Marie Louise Jenschke. Die 44-jährige Psychologin besitzt ein Reihenhaus und ist Gründungsmitglied im Verein „Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung Berlin-Britz“, der die auch in diesem Quartier eingerichtete Info-Station als Vereinsheim nutzt und ehrenamtlich mitbetreibt. An zwei Tagen pro Woche hat das kleine Café bislang geöffnet; dann kommen 50 bis 60 Menschen. Thomas Krüger berichtet: „Wir betreiben auch in der Siemensstadt eine vergleichbare Info-Station, aber dort kommen kaum fünf Leute am Tag. Dort fehlt es einfach noch am Bewusstsein für den Wert der Siedlung.“

Bürger und Baugeschichte: Die Reihenhauszeilen, die vom Hufeisen abgehen, sind bei architektur- und designbewussten Käufern inzwischen höchst beliebt. Hier lässt es sich heimelig leben, zum Beispiel am Anger namens „Hüsung“. Auch die optischen Wirren der Großstadt bleiben dank des Denkmalschutzes draußen. Foto: Landesdenkmalamt Berlin/FTB-Werbefotografie

Für ihr Quartier hat Jenschke festgestellt: „Vor allem seit der Aufnahme in die Welterbe-Liste ist hier ein anderes Publikum hingezogen. Die neuen Bewohner sind oft sehr Architektur-interessiert. Viele Akademiker-Familien mit Kindern sind darunter.“ Ruhe, Gärtchen, Denkmalschutz und damit den Schutz vor Verunzierung der Nachbarschaft sowie den Luxus einer vorstädtisch-geringen Dichte (GFZ 0,4) muss man sich leisten können. Die Verteuerung betrifft allerdings nur den Reihenhaus-Kern, nicht so sehr die Geschossbauten am Ostrand der Siedlung und im zentralen Hufeisen selbst.

Klassischer Vermieter für Ärmere

Nur Mietshäuser prägen die Siedlung in der Siemensstadt. Vertreter des sozialen Geistes sind heute die kapitalistischen Eigentümer des Quartiers: die Aktiengesellschaften Deutsche Wohnen (dieselbe wie in der Hufeisensiedlung) und GSW. Sie nehmen von den bereits ansässigen Mietern in der Siemensstadt im Schnitt etwas über fünf Euro pro Quadratmeter und für neu zu vermietende Wohnungen rund sechs Euro. Das ist auch für Ärmere bezahlbar, zumal die Wohnungen meist klein, doch effizient geschnitten sind – von Großmeistern der Frühmoderne wie Gropius, Scharoun, Otto Bartning und Hugo Häring, die sich zum Architektenbund „Der Ring“ zusammengeschlossen hatten.

Bei mäßigen Mieten soll es bleiben, versichert GSW-Vorstand Jörg Schwagenscheidt: „Ich bin zwar ziemlich sicher, dass man modernisierte Wohnungen hier für zehn Euro pro Quadratmeter vermarkten könnte. Wir sind aber ein klassischer Vermieter für Haushalte mit mittlerem und unterem Einkommen. Weder die Bewohner noch wir hätten etwas davon, wenn wir solche Häuser luxus-modernisieren und dann versuchen würden, von einem anderen Publikum das Doppelte zu nehmen.“ Für die Deutsche Wohnen versichert Manuela Damianakis das Gleiche: „Wir wollen hier nicht in ein gehobenes Segment gehen.“

Serielles und Schadhaftes: Verschleiß und Schäden, wie hier an Otto Bartnings „Langen Jammer“ mit seinen 25 gleichen Eingängen, sind Denkmalpflegern ein Dorn im Auge. Eigentümer wollen lieber die Mieten niedrig halten als Häuser aufwendig aufzuwerten. Foto: Roland Stimpel

Natürlich sind beide Eigentümergesellschaften nicht passiv. Mit Hilfe von fünf Millionen Euro Bundesregierungsmitteln fürs deutsche Welterbe bauen sie Balkontüren mit Isolierglas ein, dämmen Kellerdecken und Dächer und ersetzen marode Kastendoppelfenster aus Holz durch neue. Wanddämmung im Welterbe ist für alle ein Tabu. Über andere Begehrlichkeiten von Denkmalfreunden wundert sich Schwagenscheidt manchmal: „Einmal hieß es, die Teppichklopfstangen seien unpassend und sollten weg. Jetzt können sie doch bleiben. Denn es hat sich herausgestellt, dass sie aus der Ursprungszeit der Siedlung sind.“

Man sieht dem Quartier an, dass hier sparsam gewirtschaftet wird: Wichtige Häuser kommen nicht im Welterbe-Sonntagsstaat daher. Zum Beispiel Otto Bartnings 338 Meter langes Haus mit 25 gleichen Eingängen, an dem wegen seiner Monotonie jeder Fleck doppelt stört. Aber auch an Scharouns schiffsartig geformtem „Panzerkreuzer“, dem südlichen Eingangsbau der Siedlung, in dem er einst selbst wohnte. Thomas Krüger meint: „Gerade die GSW könnte sich deutlich stärker für ihr Kulturerbe engagieren.“

Schwagenscheidt meint dazu: „Wir halten zum Beispiel Scharouns einstige Wohnung mit viel Aufwand instand. Sie liegt aber in einem bewohnten Haus, und wir können den Nachbarn nicht ständig Gruppen von Architekturtouristen im Treppenhaus zumuten.“ Streitpunkt sind auch Garagen aus der Nachkriegszeit – nicht von Spitzen-Architekten, sondern ziemlich ambitionsfrei, teilweise auch noch mitten in Scharouns Sichtachse positioniert. Thomas Krüger findet sie „ignorant und rücksichtslos“ und fordert den Abriss; Jörg Schwagenscheidt denkt nicht daran: „Dann hätten wir einen Aufstand der Mieter.“ Er sieht sich aber nicht nur als Hüter des sozialen Erbes, sondern auch des alltagspraktischen Geistes der Bauhaus-Epoche: „Die Siedlung war damals sehr stark funktionial orientiert. Wären dieselben Architekten heute aktiv, dann würden sie sich natürlich Gedanken über den Autoverkehr machen. Deshalb folgen wir der Absicht ihrer Erbauer, wenn wir uns den Anforderungen des täglichen Lebens nicht verschließen. Es wäre paradox, alles einzufrieren.“

Auf Kleinpflaster rollt der Rollator schlecht

Das gilt auch für die Lädchen. „Beim Gewerbe zählt für uns vor allem, das sMieter Angebote in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnungen haben.“ Und die lila Buchstaben am Fußpflege-Studio? „Wir achten natürlich darauf, dass Werbung den Charakter einer Fassade nicht zu stark beeinflusst. Andererseits ist aber auch die Architektur der Bauten kein Selbstzweck.“

Ist ihm das Denkmal eher lästig? „Nein, wir sind stolz und sind uns unserer Verantwortung bewusst. Aber wir sind in erster Linie den Mietern verpflichtet und müssen die Balance zwischen der Bewahrung des Denkmals, den funktionalen Anforderungen an eine Siedlung heute und der Bezahlbarkeit von Mieten halten. Und die Gesellschaft hat sich seitdem weiterentwickelt. Dem müssen wir auch hier Rechnung tragen.“ Schwagenscheidt betrachtet das gebaute Erbe teilweise kritisch: „Manches funktioniert einfach nicht, zum Beispiel die dauernd mit Graffiti und Müll verunzierten Unterführungen, wo man mit dem Reinigen gar nicht mehr nachkommt. Da ist das städtebauliche Konzept nicht aufgegangen.“ Sauberkeit ist für Wohnungssuchende wichtiger als Status: „Für die Vermietung spielt es keine wesentliche Rolle, dass die Siedlung Weltkulturerbe ist. Viele Interessenten wissen gar nichts davon.“

Die Deutsche Wohnen setzt sich offensiver als die GSW für eine denkmalgerechte Optik ein. Aber damit macht sie sich nicht nur Freunde. Das ursprüngliche Brandenburger Kleinpflaster auf Fußwegen war durch Betonsteine ersetzt worden; kürzlich wollte die Deutsche Wohnen zum historischen Belag zurück. Sprecherin Manuela Damianakis: „Da haben dann ältere Bewohner den Behindertenbeauftragten alarmiert, weil sie Angst hatten, das Kleinpflaster würde zu holprig für ihre Rollatoren sein.“ Jetzt hat der glatte Gang für Senioren Vorrang vor dem historisierenden Muster.

Ein großes Ärgerthema in den Welterbesiedlungen ist das Grün. In beiden Siedlungen wurde es vom frühmodernen Landschaftsarchitekten Leberecht Migge gestaltet, in beiden ist es heute teils zugewuchert, teils durch weniger ambitionierte Bepflanzungen verfremdet – etwa die bei Bewohnern und Baugesellschaften so beliebten pflegeleichten Koniferen. So etwas sollte nun wieder weg. In beiden Siedlungen bildeten sich Bürgerinitiativen. Die in der Siemensstadt sammelte rasch 300 Unterschriften gegen das Fällen ausgewachsener Birken zugunster denkmalgerechter, doch viel kleinerer Apfeldornbäume. In der Taut-Siedlung protestierte das Bündnis „Grünes Hufeisen“ gegen das Absägen von Hainbuchen – vor dem Info-Zentrum fielen sie trotzdem. Naturschützer von BUND und NABU sprachen in der Siemensstadt über „Kahlschlagwirtschaft“ und in der Hufeisensiedlung von der „Zerstörung ökologisch wertvollen Stadtgrüns“. „Die mit sozialreformerischem Anspruch entwickelten Siedlungen werden zu sterilen und statischen Denkmälern ihrer selbst reduziert“, klagte Herbert Lohner vom BUND. Und Manuela Damianakis seufzt: „Grün ist nun mal populärer als Welterbe.“


Mehr Informationen

Eine ausführliche Reportage aus der Hufeisensiedlung von Ralf Kalscheur finden Sie hier.

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