Cordula Rau, Roland Stimpel
Neue urbane Identität
In München wollte die Werkbundsiedlung Wiesenfeld Maßstäbe für modernes Wohnen in der Stadt setzen. Ein Wettbewerbs erscheint als geeignetes Instrument. Der erste Preis von Kazunari Sakamoto verspricht jenseits von Block und Zeile neue urbane Identität. Differenziert in Höhenentwicklung und Maßstäblichkeit bringt sein Entwurf das Punkthaus auf den Punkt. Ein Minimum an Form ermöglicht ein Maximum an Freiheit. „Die innovative Komplexität des Entwurfs bildet einen wesentlichen Beitrag für die Stadt des 21. Jahrhunderts“, betont die Jury.
Sakamotos Modell schafft individuelle Qualität, sofortige Identifikation und Aussicht in jede Richtung – viel zeitgemäßer als in der Moderne, die mit Licht, Luft, Sonne für alle vor allem Quantität betont und Massenware von der Stange produziert. In der Stadt, in der mit gebauten Münchner Modellen auch soziale Segregation entsteht und selbst unterstes Bauträgerniveau noch gut zu verkaufen ist, begeistert der neue Stadtentwurf nicht nur Soziologen.
Doch in Bayerns Hauptstadt tickt die Politik anders. Mensch und Wohnumfeld stehen nicht im Mittelpunkt, dafür herrscht Angst vor Risiko, vor dem Experiment, vor dem Fortschritt. Dass ein Prototyp nicht zum 08/15-Tarif sozialer Mietskasernen zu haben ist, war schon nach der Wettbewerbsentscheidung klar. Bei einer Werkbundsiedlung zählen nun einmal außer Rendite vorrangig Innovation, Prestige und Qualität. Kritisch stimmt auch der Umgang mit engagierten Leuten, mit Architekten und dem Verfahren des Wettbewerbs. München hat eine unwiederbringliche Chance vertan.
Gut gemeint, nicht gut gemacht
Für das Scheitern der Werkbundsiedlung sehen Anhänger tiefere Gründe: die „Süddeutsche Zeitung“ „überschießende Modernekritik“, das „Baunetz“ den „Kulturkampf zwischen Modernisten und Traditionalisten“, laut „FAZ“ „ein Skandal, der in die Baugeschichte eingehen dürfte“.
Aber wer auf angebliche Kulturkämpfer zeigt, lenkt von den Schwächen des Projekts selbst ab. Sakamotos Entwurf gab sich avantgardistisch; die Jury sah ein „neues Modell für stadttypischen gemeinschaftlichen Wohnbau“. Doch das Prinzip kommt aus den 50er-Jahren: Punkthäuser auf der Wiese, wenn auch feiner und im Inneren pfiffiger gebaut. Das aber drohte teuer zu werden: zwölf Millionen Euro mehr als für gleich viele gewöhnliche Sozialwohnungen. Es ging vor allem um Geld, nicht um Hass auf die Moderne.
Zudem verstieß das Projekt auch gegen deren eigene Regeln. Licht, Luft, Sonne? Letztere gäbe es in unteren Etagen teils nur stundenweise durch Spalten zwischen den Nachbartürmen. Hohe Dichte? Nicht höher als in holländischen Reihenhausquartieren (siehe Seite 22). Klarheit der Nutzungen? Undefinierte Außenräume, bezeichnet als „flexible Leere“. Ein Mittel gegen Stadtflucht? Für die Flüchtenden eher ein Grund mehr dazu.
Naiv war die Hoffnung, soziale Integration sei über gemeinsame Wohnhäuser für Arm und Reich zu bewerkstelligen. Unten Einwanderer, an ihnen vorbei Yuppiepaare auf dem Weg in sonnigere Hausregionen – das hätte keinen beglückt. Das Projekt zeigt, welcher Abgrund zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“ klaffen kann.