Von Roland Stimpel
Ein Stück Entfremdung
Seit mich knapp vier Wochen nach dem Mauerfall der Erfurter Architekt Helmut Schurig durch die Pergamentergasse führte, habe ich zu ihr ein sehr sentimentales Verhältnis. Das ganz knapp vor dem Verfallstod gerettete Sträßchen ist mein Symbolort für die Rettung und Wiederbelebung ostdeutscher Altstädte. Die eigene Sentimentalität legt es nahe, auch vor den Sentimentalitäten anderer Leute Respekt zu haben. Und zu fragen, ob es klug ist, dass das Haus zur Rose die Altstadtgefühle vieler Erfurter offenbar verletzt. Eine Frage, die nicht nur Fachwerkgassen betrifft, sondern Grundsätze des Verhältnisses zwischen Architektenstand und Laien: Wie viel Provokation darf und soll es sein, wenn es um die Verwirklichung eigener Vorstellungen geht? Und wie viel Rücksicht gegenüber Vorstellungen muss sein, die partout nicht die eigenen sind?
Dass das Haus provoziert, berichtet Joachim Deckert nahezu mit Genuss: „Da drohen uns schon mal Leute mit den Fäusten und rufen: ‚Schämen Sie sich was.‘ Und als eine alte Mutter sich über das Haus empörte, sagte ihre Tochter: ‚Ich glaube, das ist Kunst. Und davon verstehe ich nichts.‘“ Sie versteht nicht, warum dieses hübsche, aber fremdartige Metalldekor die Erdgeschossfassade prägt, warum man keine Tür sieht, sondern allenfalls den Klingelknopf, warum die Fassaden bündig-glatt sind, die Fenster in Bändern statt schmal und einzeln, und was ein rechtwinkeliges Terrassengeschoss anstelle eines roten Steildachs mit Erkern und Gauben soll. „Ja, es polarisiert schon“, sagt Rainer Mester.
Aber nach seinem Empfinden nicht sehr stark. „Es ist ein normales Haus in einer normalen Altstadtsituation.“ Jedenfalls in der relativ abstrakten Sichtweise von Experten: Maßstab, Höhe, Etagenzahl, Nutzung. Doch Laien gucken nach der Vertrautheit von Bildern, nach Fassadenmustern und Silhouetten, nach konventioneller Ornamentik. Es irritiert und schreckt Spaziergänger aus ihrer Fachwerkseligkeit auf. Das wiederum ist im Expertenmilieu tolerabel, wenn nicht gar nötig. Hier hat jede Zeit ihre Spuren hinterlassen. Warum nicht auch unsere?“, fragt Mester. Zumal die zeitgenössische Zeichensetzung kein Selbstzweck sei, sondern sich zum Gutteil aus dem Inneren und seiner Wohnnutzung erkläre. Aber wie weit darf „Form follows function“ in der Pergamentergasse gelten? Sie gehört für die meisten Erfurter zu den Refugien des heute Unfunktionalen, des Klein-klein-Teiligen, des unökonomisch Krummen und vor allem zu den Refugien der räumlichen Beständigkeit in einer Welt, in der sonst alles immer unbeständiger wird. „Warum nicht auch hier?“, fragt Rainer Mester. „Es soll halt nicht alles sein, wie man es kennt.“ Der Denkanstoß zähle: „Ich würde es nicht als Provokation ansehen, sondern als Rätselaufgabe.“ Es mache die Leute für Hochwertig-Unkonventionelles aufnahmebereiter. Aber ich fürchte, das gelingt nicht in einem Umfeld mit solchen festen Seherwartungen. Hier setzt es keinen Denkprozess in Gang, sondern lähmt eher vor Empörung. Das Haus erzieht Laien nicht zu einem professionellen ästhetischen Verständnis, sondern es tut etwas Problematisches weit über Altstädte hinaus: Es schafft ein weiteres Stückchen Entfremdung zwischen Baukünstlern und gewöhnlichen Bürgern.
Von Cornelia Dörries
Revitalisieren, nicht musealisieren
Es spricht für die gelungene Wiederbelebung der 245 Hektar großen Erfurter Altstadt, dass es dort keine touristisch-gastronomische Monostruktur gibt. Das Quartier ist auch eine beliebte Wohnadresse, wo die wenigen noch vorhandenen Baulücken teuer gehandelt werden. Doch nicht jeder, der in die mittelalterlich verwinkelte Altstadt ziehen möchte, träumt von der Stubengemütlichkeit eines Fachwerkhauses. Denn auch wenn dessen pittoresker, vertrauter Zuschnitt das Auge erfreut – zeitgemäßen Wohnbedürfnissen entspricht es mit seinen dunklen, kleinen Räumen schon lange nicht mehr. Haben also moderne Wohnansprüche in einer mittelalterlich geprägten Altstadt keinen Platz?
Die Architekten Joachim Deckert und Rainer Mester haben mit dem Haus zur Rose in der Pergamentergasse 2 bewiesen, dass anspruchsvolle, moderne Wohnarchitektur auch in eine enge Gasse aus dem 11. Jahrhundert passt. Es ist ein Neubau, der sich anders als viele seiner Nachbarn nicht als Altbau camoufliert. Mester und Deckert, zugleich Bauherren und Bewohner des Hauses, gestehen: „Wir wollten den konventionellen Sehgewohnheiten etwas entgegenstellen.“ Auch dafür wurde das Haus mit dem Thüringer Architekturpreis 2009 ausgezeichnet. Es gibt keinen erkennbaren Eingang, die bündige Putzfassade wird von zwei unterschiedlich hohen horizontalen Fensterbändern durchzogen, und der leicht zurückgesetzte Sockel verschwindet hinter einer gülden schimmernden Aluminiumgardine mit ausgestanztem Rosenmotiv. Dass zu beiden Seiten gegenwärtig noch Brachen gähnen, lässt das Haus wie einen Solitär wirken und verstärkt seine gestalterische Extravaganz. Doch mangelnden Respekt vor seiner Umgebung lässt sich dem Bau nicht vorwerfen. Er zeichnet den Umriss des 1986 abgerissenen Vorgängers aus dem Mittelalter nach und nimmt die Traufhöhe der Nachbarn auf. Die horizontal gegliederte Fassade, die im Weichbild des Sträßchens ganz unkapriziös aufgeht, trägt vor allem der schwierigen Lage in einer schmalen, schattigen Gasse Rechnung: Weil das Gebäude nur von der Straßenseite mit Tageslicht versorgt werden kann, musste der Front so viel Fensterfläche wie möglich abgerungen werden.
Denn die äußere Erscheinung des Neubaus ist keiner egozentrischen Provokation geschuldet, sondern seiner inneren Struktur und einer meisterhaften Tageslichtökonomie. So wurde im verschatteten Erdgeschoss, in dem sich Gästezimmer, Technikbereich sowie die ebenerdige Garage befinden, ganz auf Fenster verzichtet. Im ersten Obergeschoss liegen die Schlafzimmer mit einem in Brusthöhe verlaufenden schmalen Fensterband. Das zweite Obergeschoss bietet einem großzügigen Ess- und Wohnbereich Platz und lässt mit seiner lichten Höhe von drei Metern und einer unverstellten Fensterfront für reichlich Tageslichteinfall die beengte Altstadtlage vergessen. Das oberste Geschoss teilt sich in eine zur Gasse hin platzierte Terrasse und kleine Rückzugsräume; und das Treppenhaus wird über eine Lichtkuppel erhellt. Natürlich bleiben dem Passanten diese Qualitäten verborgen. Er sieht nur die äußere Hülle, die in ihrer ungewöhnlichen Optik zu einem Baustein der allenthalben beschworenen Kleinteiligkeit und Vielfalt geworden ist. Der intakte städtebauliche Kontext wirkt hier noch auf jede Extravaganz mit erzieherischer Mäßigung. Oder anders gesagt: Der Charakter der Erfurter Altstadt leidet nicht darunter, wenn Lücken mit Gebäuden gefüllt werden, die sich als Architekturen des 21. Jahrhunderts zu erkennen geben. Revitalisierung heißt schließlich nicht Musealisierung.
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Architektur ist immer ein Ausdruck der Gesellschaft. So stellt sich dieses Haus auch als Sinnbild der heutigen Gesellschaft dar: Rücksichtslos die eigenen Interessen vertretend, arrogant und Andersdenkende als „Ewig Gestrige“ bezeichnend. Der Betrachter spürt diese Überheblichkeit, nicht zuletzt unterstützt durch die Porsche-Silhouette auf der Garage.
Schlimm, dass man als Architekt keine andere Meinung vertreten darf, als derartigen gefühllosen Bauten Beifall zu klatschen. Schon die Einladung zur Diskussion zeigt durch die Wortwahl, was ein Architekt zu denken hat: „Mutig oder Massengeschmack?“
Es gibt so viele Beispiele, wie man auch mit modernen Stilelementen in einer Altstadtbebauung Akzente setzen kann, aber Vokabeln wie „Einfügen“, „Einordnen“, „Anpassen“ zeugen in unserer Gesellschaft scheinbar nur von Schwäche.
Nichts gegen das Haus an sich, in jedem Neubaugebiet, wo sich die „Häuslebauer“ gegenseitig mit überzogenem Selbstdarstellungswillen ihre Individualität beweisen, aber nicht in einer gewachsenen historischen Altstadt. Solch ein Bau gibt jedem Hobby-Handwerker die Berechtigung, auch zu machen was er will und konterkariert Bestrebungen um den Erhalt unserer Altstädte.
Burkhard Günther, Architekt, Stadtbaumeister Weissenhorn (Bayern)
Diesen Appell an den Zwang zur zeitgeistigen Fassadengestaltung kann ich nicht mehr hören. Ist das Arroganz, Dummheit oder einfach ein Zeichen für den Bildungsnotstand vieler Architekten. Denn diese Art von „Schwarzwälder-Kirsch“-Fassaden und ihre stadtbildzerstörende Wirkung kennen wir doch schon aus den 20ern, 60ern, 70ern und bis heute wird sie gern genommen. Eigentlich hat Prof. Moewes in seinem Beitrag alles gesagt. Aber wer kennt das noch? Es lohnt sich noch einmal zu lesen:
Globalisierungs-Zoo
oder: warum Architektur-Zoos keine Heimat sind.
Über die Wiederherstellung von Vielfalt und Regionalbezug im Bauwesen
in Zukünfte Nr.25 Herbst 1998
Dörfer, Städte, Regionen waren unverwechselbar, prägnant, erinnerbar, waren Heimat. Dieser Evolution wirkt heute ein Prozess der Entdifferenzierung und Nivellierung entgegen. Im Norden entstehen die gleichen Verwaltungs-Glaspaläste wie in den Tropen- hier schlecht gedämmt und verschwenderisch beheizt, dort ohne jeden Sonnenschutz und verschwenderisch gekühlt.
Überall entsteht das gleiche beliebige Gemisch aus Naturmüll und Zivilisationsmüll, bei dem man nicht mehr weiß, wo die zersiedelte Landschaft aufhört und die durchgrünte Stadt anfängt. Anstatt sich dieser Vermischung entgegenzustemmen, wird sie zum Markenzeichen der Moderne erhoben.
Die Stadt wird zum Architektur-Zoo. Überall das gleiche, ortlose, beliebig austauschbare Unikate-Gemisch, nichts mehr unverwechselbar, nichts mehr erinnerbar. Funktionstrennung und lineare Aufzählungsmentalität verankerten das Zoo-Prinzip im funktionalistischen Städtebau: Anstatt Quartiere mit (regionalem) unverwechselbarem Charakter zu schaffen, verlegte man sich auf einen kuriosen Gebäudemix: Im Norden vier Punkthaus-Giraffen, davor sechs Geschosszeilen-Büffel, davor acht Mähnenschafe als Reihenhauszeilen und am Grünrand jede Menge freistehende Einfamilienhaus-Kleinnager.
Regionalität ist etwas Kulturelles. Sie entsteht, wenn menschliche Produktivität auf Vorgefundenes eingeht: Topografie, Klima und Ressourcen.
Das widerspricht natürlich unserer heutigen Globalisierung.
Gebäude in Gebieten mit hoher Sonnenscheindauer müssen anders aussehen als solche in Gebieten mit hoher Bewölkungsdichte.
Während er sich im Urlaub über jeden Neubau ärgert, der dort die strukturelle Unverwechselbarkeit, die „heile Welt“ stört, nimmt er das Chaos zu Hause als unabwendbares „Naturereignis“ hin.
Wann gelingt es uns endlich den Spruch von Jane Jacobs (1962) zu widerlegen, dass“die Planer dieser Welt krankhaft bemüht sind, Fehler zu wiederholen und Erfolge zu vernachlässigen“
Michael Stojan, Stadtbaurat, Siegen
die fragestellung strotzt vor unbegründeter arroganz, was bezeichnet der fragesteller als vorangehen? mit 100 jahre alten gestaltungsversatzstücken unter missachtung jeder bautechnischen grundsätze alles bündig setzten?
form follows funktion, darum ist der eingang an einem wohnhaus versteckt, zeigt dem städtischen gemeinschaftsraum die kalte schulter? ja, mit denen wollen wir nichts zu tun haben, wir heben uns ja von der masse ab…
o.k jeder soll nach seiner facon glücklich werden, aber warum muss jemand der die altstadt offensichtlich so ablehnt dahin? weil die kiste woanders nicht eneckt?
keine der parolen erhält eine begründung, warum muss sich dieser bau so von seiner umgebung unterscheiden und abgrenzen?
hier liegt nach meiner einschätzung das problem!
ulrich winter, freier architekt, heidelberg
Es macht mich als Architekt nachdenklich, dass anspruchsvolle Wohnarchitektur, wie sie im Innenraum bei diesem Projekt verwirklicht wurde, mit einer ohne klassischen Poportionen gegliederten Fassade in diesem denkmalwürdigen Stadtgebiet geplant bzw. genehmigt wurde und durch verschiedene Institutionen nachfolgend gefeiert wird.
Diese Fassade könnte ebenso ein Bürohaus schmücken oder das Haus könnet als Solitär in einem der Wohnhaussiedlung Nord nahe der Stadt stehen. (Letzeres nehme ich zurück)
Loben muss man natürlich die Umsetzung des Grundgedankens beider Architekten, „Wir wollen den konventionellen Sehgewohnheiten etwas entgegenstellen.“ Das ist gelungen.
Ist das nun die Architektur des 21. Jahrhunderts oder ist es ein erwirkter Einzelfall in der sonst städtebaurechtlich geforderten Denkweise der Stadt?
Natürlich muss man auch die schwierige Bausituation beachten. Da stellt sich die Frage für einen selber. Wie wäre ich mit der Situation umgegangen. Sensibler?
Mir fehlen bei der Fassade dieses Hauses die Proportionen, die Wohlgefallen auslösen. Das ist kein schönes Gesicht, sondern ein provokantes Gesicht.
Stephan Henke, Architekt, Erfurt
Mutig voran gehen oder den Massengeschmack respektieren ??
Mit der geschickten Fragestellung outet man sich mit einem Contra zweifelslos als Anhänger des Massengeschmacks. Das Preisgericht hat sich anscheinend davon leiten bzw. verleiten lassen. Das hochrangig besetzte Preisgericht wollte nicht Masse sein (widerspricht ja auch dem elitärem Gedanken), auch wenn dessen Meinung dem Städtebaubild hier gut getan hätte.
Das Objekt wurde extra preisgekrönt, weil es gerade den konventionellen Sehgewohnheiten entgegensteht. Im Umkehrschluss würde dies auch den Bau eines klassischen Schwarzwaldhauses inmitten der Weissenhofsiedlung in Stuttgart rechtfertigen. Die Aufmerksamkeit der Fachwelt wäre dem Architekten gewiss. Und darum, glaube ich, geht es vielen Architekten und Bauherren heutzutage. Der Konsens mit der Nachbarbebauung ist vollkommen zweitrangig, Was zählt, ist der spektakuläre Auftritt ohne Rücksicht auf die Umgebung. Der Egoismus ist halt ein Spiegel unserer Zeit. Mit der Architektur ist es wie mit der menschlichen Psyche, dem Bösen ist in Gänze einfach nicht beizukommen.
Günter Maas, Stadtplaner, Rheda-Wiedenbrück
Natürlich kann man über die Form streiten und unendliche Diskussionen führen, mal schauen, wie man mit den Lücken links und rechts umgeht?! Da wird es erst spannend…….
Auf jedenfall bewiesen die Autoren viel Mut so etwas zu bauen. Lass ein Paar Jahre vorbei gehen und es sieht vielleicht alles anders aus. Es gibt in der Baugeschichte etliche Beispiele für kontroverse Bauten und manche werden heute sehr bewundert und gelten als ein touristisches Magnet .
Also keep cool, wie es so schön auf Neudeutsch heißt.
pavel effenberger, architekt, freiburg
Ich bin kein Architekt, nur ein an historischen Altstädten interessierter Laie, dem dieser Artikel zugeschickt wurde. Ich frage mich, warum Neubauten in historischer Umgebung provozieren, Rätsel aufgeben oder polarisieren sollen. Woraus leiten die Architekten ihre arrogante Selbstberufung ab, Denkanstöße geben zu müssen, die Menschen für Hochwertig-Unkonventionelles aufnahmebereiter zu machen oder konventionellen Sehgewohnheiten etwas entgegenzustellen? Wie erklären sie den Widerspruch, einerseits die Atmosphäre einer mittelalterlich verwinkelten Altstadtumgebung genießen zu wollen, sich aber von eben diesem Ensemble bewusst ab- und auszugrenzen? Wenn sich jede Generation mit einer Geisteshaltung a la Haus zur Rose eingebracht hätte, dann wäre das Problem heute gelöst, denn es gäbe keine intakten mittelalterlichen Altstadtkerne mehr in Deutschland. Die Vokabeln im Pro-Artikel lassen auch in ihrer negierten Form tief blicken und zeigen deutlich das eigene Unbehagen der Verfasserin: Extravaganz, mangelnder Respekt vor der Umgebung, egozentrische Provokation. Ich schließe mit Manfred Mosebach, der in seinem FAZ Artikel vom 26.06.10 zum Tag der Architektur (Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön) u.a. schrieb „Es bedarf…., sondern vor allem die Demut, sich dem Vorhandenen bescheiden einzufügen und die vorgegebene Atmosphäre möglichst wenig zu stören.“
Das ist ja schon spannend, was man hier zu lesen bekommt. Als Architekt und Bewohner des Steins des Anstoßes frage ich mich, wieso hier eigentlich derart viel Negativmeinungen der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Die Zahl derer, die sich freuen, wenn sie in der Pergamentergasse ein frisches Haus aus unserer Zeit sehen, steigt täglich. Allerdings sind dies überwiegend die jüngeren Passanten. Mag sein, dass auf diesem Forum eher Menschen ihrem Unmut Luft verschaffen, die genug Zeit dazu haben, also die jenseits der Erwerbstätigkeit. Die Zeit hätten sie sich lieber nehmen sollen, um das Haus in seiner Umgebung zu verstehen. Ich kann allen aufgeregten Schreibern versichern, dass wir uns sehr wohl und sehr intensiv mit der Umgebung auseinandergesetzt haben. Nicht nur dass wir akribisch die Proportionen der Nachbarhäuser aufgenommen haben, selbst die viel geschmähten Fensterbänder sind eine Interpretation der alten Fassaden: Möglichst viel Licht hereinholen und wenn man damals gekonnt hätte, hätte man auf die Stützen zwischen den Fenstern auch verzichtet. Dies zeigen auch die horizontalen Gesimse, die die Fenster zur horizontalen Reihe zusammenbinden. Die perforierte, goldfarbene Verblendung des Erdgeschosses hebt dieses wie ein Schaufenster vom Normalgeschoss ab. Allerdings sei es uns gestattet, hier keine Schaufenster anzuordnen, da wir kein Gewerbe betreiben, was ein solches erfordern würde. Die Perforation besteht aus ca. 1.000 Rosen, die an das 1986 abgerissene Haus zur Rose erinnert. Die halbtransparente Verkleidung verschließt sich eben gerade nicht der Altstadt gegenüber, auch wenn sich dahinter Nebenräume und Garage befinden. Aber für die werten Kritiker ist wahrscheinlich schon die Unterbringung einer Garage nicht altstadtgerecht. Vielleicht am Schluss noch der Hinweis, dass zu allen Zeiten in den Altstädten gebaut wurde – aber zu keiner Zeit derart rückwärts orientiert. Z.B. die Gründerzeit scherte sich weder um Straßenfluchten noch um die Höhen der umgebenden Bebauung: völlig maßstabssprengend. Allein die Tatsache, dass diese Gebäude inzwischen historisch sind, stimmt uns milde, lässt die enormen Brüche in der Alstadt verschwimmen. Diese Milde wird das Haus zur Rose auch erfahren (Danke Herr Effenberger), wahrscheinlich schon, wenn demnächst die Nachbarhäuser gebaut sind. Denn eigentlich ist es die Vielfalt, die die Altstadt so lebendig macht, eben weil nicht jedes Haus wie das andere aussieht.
Und: was meine Studierenden für die benachbarten Lücken entworfen haben, lässt das Haus zur Rose heute schon ganz schön alt aussehen. (Leider kann ich hier kein Bild anhängen.)
nun ja, Architektur ist eine Kunst und Kunst hat auch viel mit Geschmack zu tun, über welchen sich bekanntermaßen trefflich streiten lässt; zugegeben auch, dass im konkreten Fall ein äußerst schwieriges Grundstück sinnvoll zu bebauen war, was für viele fast als unlösbar angesehen wurde; und schließlich sei auch noch zugegeben, dass gerade in dieser Erfurter Gasse viele DDR-Wunden zu heilen waren und noch sind;
nun das ABER: ich meine, dass heutige Architekten zu wenig im Ort und in seiner Geschichte verwurzelt sind, dass sie häufig rücksichtslos mit der Umgebung umgehen und zu viel Angst vor dem fälschlich verpöhnten „Historisieren“ haben, was oft genug zur Folge hat, dass die Gebäude selbst Beliebigkeit aufweisen und damit an beliebigen Standorten stehen könnten;
manche, nein viele Architekten von heute kommen mir vor wie Hunde, die ängstlich an möglichst vielen Ecken ihre Duftspur setzen wollen, um damit andere Duftspuren zu übertreffen -sie begreifen sich als Konkurrent, statt die anderen (das Vorhandene) als Partner zu begreifen, streben nach unbedingtem „Anderssein“, statt nach spannungsvoller Harmonie;
und was die wenigsten wirklich begreifen, oder erst, wenn es zu spät ist dies: was einmal weg ist, ist in der Regel für immer und unwiederbringlich weg; wäre um 1907 genug Geld dagewesen, wäre die Krämerbrücke Geschichte, wäre bei den Nazis genug Geld dagewesen, wäre auf dem Petersberg eine „teutsche“ Trutzburg, wäre zu DDR-Zeiten genug Geld dagewesen, stünde auf dem Petersberg ein neumodischer Turmklotz; leider hatten wir am Hauptbahnhof zuviel Geld ….. nein, Erhalten ist allemal besser, als zwangsneurotisch nicht passendes Neues in eine gewachsene Altstadt zu pressen; die Touristen kommen wegen des Alten, nicht wegen der Neubauten und ich meine, sie werden es auch in Zukunft nicht tun;
bei dem konkreten Objekt mag das Innenleben stimmen, Fassade und Dachform und auch die Gestaltung der Erdgeschosszone werden m.E. jedoch der Umgebung in keiner Weise gerecht; und die Verwendung das mittelalterlichen Hausnamens „Zur Rose“ ändert daran nichts, erweckt eher den Eindruck des Verhöhnens; schlimmer aber ist, dass mit diesem (und weiteren Häusern, siehe z.B. Webergasse) der Einstieg dafür geschaffen wurde, dass das Alte nicht mehr schützenswert, nicht mehr unantastbar ist;
es gibt doch genügend Standorte in Erfurt, die für neue Architektur offen und geeignet ist, warum aber geht man mit dem sensiblen Altstadtkern so unsensibel um? da muss man dann auch nicht mehr Jammern, dass die böse, böse DDR das Andreasviertel ja vollständig abreißen und mit Plattenbauten versehen wollte; ein Architekt, der nach Neuem drängt und nicht zugleich ein Bewahrer des Alten ist, kann in meinen Augen niemals ein guter Architekt sein.
Hallo Herr Deckert,
ich gebe Ihnen völlig Recht: Schon die auf dem Hauptfoto sichtbaren Nachbarhäuser der übernächsten Parzelle zeigen doch sehr anschaulich, wie Ihr Haus dem historischen Bestand seinen Respekt erweist. Wer Augen (Verstand, Bildung und Feinfühligkeit) hat zu sehen…. Sämtliche geschmäcklerische Kritik, die darauf abzielt, hier sei völlig ohne Rücksicht auf den Kontext geplant worden, läuft völlig ins Leere und bleibt in der Betrachtung ganz dicht unter der formalen Oberfläche. Aber ganz unabhängig von der städtebaulichen (und gestalterischen) Reverenz scheint mir das Haus ein gelungenes Beispiel dafür, welche neuen Qualitäten sich dank sensibler Neuinterpretation eines genius loci durch zeitgenössische Architektur, sowie sorgfältiger Planung und hochwertiger Ausführung erzielen lassen. Auch wenn viele der hier zu Wort gekommenen Reko- und Retro-Befürworter dies wahrscheinlich als schlagenden Beweis für meine professionelle Voreingenommenheit, „Verbildung“ und Arroganz auffassen werden, so sage ich dennoch, dass Ihr Haus genau das darstellt, was zeitgenössische Architektur im historischen Kontext leisten sollte und kann: Respekt vor dem Ort und der Tradition ohne sich anzubiedern, neue Qualitäten schaffen ohne das Bestehende zu negieren. Von mir aus dafür großen Respekt und Gratulation! (Wer hier behauptet, das Alte würde gerade durch die selbstbewusste Nachbarschaft zeitgenössischer Architektur entwertet und nicht etwa durch die schleimig-historisierende Fälschung, der irrt. Zu behaupten, gerade das wirklich echte Neue trüge dazu bei, „dass das Alte nicht mehr schützenswert, nicht mehr unantastbar“ sei, argumentiert wirklich unredlich. Denn gerade hier besteht wohl kaum die Gefahr, dass die Grenzen zwischen modernem Plagiat und historischem Original verschwimmen und letzteres dadurch in seiner Authentizität entwertet oder verzichtbar würde. Das neue ist schließlich selbst ein Original.) Lassen Sie sich durch die Kritik nicht verunsichern. Ich würde mir wünschen, dass die Bauherren der Nachbarparzellen vergleichbaren Geschmack, Stil und Mut beweisen. (Dann wird auch der geschmähte Linienporsche in der Brandwandfuge verschwinden..;-)…P.S. Herr Lamprecht: Das lateinische Originalzitat lautet übrigens „de gustibus NON est disputandum.“)
Jörg Kempf, Architekt, Berlin
ja, Herr Kempf, Sie haben natürlich völlig Recht – zumindest, was das lateinische Ursprungszitat betrifft. Aber ich hab´s ja auf deutsch gesagt, nicht zuletzt, weil wir es ja ständig tun: wir streiten uns, auch über Geschmack. Auch Sie tun das, denn auch Ihre Antwort ist nichts anderes, als Ihre Meinung zu Ihrem Geschmack, zu Ihrer Auffassung. Dabei ist Ihre Argumentation nicht mehr wert, als die von anderen, oder auch der meinigen; nur mit dem Unterschied, dass diese zumeist sachlicher, nicht verletzend und weniger anmaßend vorgetragen wurden.
Nun Herr Lamprecht, ich sprach ganz bestimmt nicht über meinen privaten „Geschmack“, sondern darüber, was man 1. ohne große Anstrengung sehen und nachprüfen kann (wenn man die nötige Bereitschaft mitbringt) und was 2. meine professionelle Haltung dazu ist. Das hat wirklich rein garnichts mit der Art von geschmäcklerischer Kritik zu tun, die Sie an den Tag gelegt haben, als Sie sagten : „manche, nein viele Architekten von heute kommen mir vor wie Hunde, die ängstlich an möglichst vielen Ecken ihre Duftspur setzen wollen“…und „ein Architekt, der nach Neuem drängt und nicht zugleich ein Bewahrer des Alten ist, kann in meinen Augen niemals ein guter Architekt sein.“
Wenn das nicht äußerst „unsachlich“, „verletzend“ und „anmaßend“ gewesen ist – insbesondere da es auch noch von einem offenkundigen Laien kommt, dann sind Worte wahrlich nichts mehr wert. Ich weiß nicht, wann und wo Sie Ihre „Meinung“ „zumeist“ sachlicher vortragen. In diesem Falle haben Sie es jedenfalls nicht getan. Dass ausgerechnet Sie nun für sich mimosenhaft eine durch meinen Kommentar verletzte Eitelkeit reklamieren, Sie, der mich und meinen Berufstand ungehobelterweise auf die gleiche Stufe wie instinktgesteuerte Tiere gestellt hat, ist „für meinen Geschmack“ dann doch ein starkes Stück. Solche Vergleiche verbitte ich mir ehrlich gesagt!
Sie schreiben dann weiter, meine „Argumentation (sei) nicht mehr wert, als die von anderen, oder auch“ Ihre. Das ist eindeutig falsch, denn im Gegensatz zu Ihnen habe ich wenigstens den Versuch unternommen, meinen Widerspruch logisch konsequent darzulegen. Gemäß unseren abendländischen Regeln wie ein sachlicher Diskurs auszusehen hat, IST das „mehr wert“, als eine bloße Behauptung. Eine nachvollziehbare Begründung, warum ausgerechnet das erkennbar Neue eine Bedrohung für den Schutz und die Unantastbarkeit des historischen Bestandes darstellt, bleiben Sie hingegen schuldig, Sie konnten nicht schlüssig erklären, warum und in welcher Weise – da ja nichts abgerissen wurde – das neue Haus eine reale Gefahr darstellen soll. Ich behaupte, dass mein Argument da um Einiges stichhaltiger ist: Wenn der Eindruck entsteht, man könne das echte Alte jederzeit „täuschend“ echt wiederherstellen, dann verliert es seine historische Einmaligkeit, dann wird es austauschbar, dann verliert es an Wert. Der „nachgemalte“ van Gogh ist eben unbestreitbar nicht „echt“ – und sei er handwerklich noch so gut. Im Zweifel macht die vergangene Zeit hier Millionen aus! Er wird von denen, die es wissen, weniger geschätzt. Auch hier: entweder Sie respektieren die Sprache und die dahinterstehenden Konzepte oder wir relativieren und banalisieren bis nichts mehr übrig bleibt, worüber es sich zu reden lohnt.
Es gibt einen Unterschied zwischen pointierter Sprache und ehrverletzenden Meinungsäußerungen. Dass Sie mich für anmaßend halten, weil ich mich nicht ungebildeter stellen möchte, als ich bin, nur um Ihre Gefühle nicht zu verletzen, ist mir tatsächlich ziemlich egal. Aber damit müssen wir nun mal alle gleichermaßen leben – auch ich. Ich lasse mich schließlich auch von einem Arzt beraten, ohne gleich beleidigt zu sein, wenn er mehr über die Funktionsweise meines Körpers weiß. Ich habe einen Freund, der Astrophysiker ist, dessen Expertise anzuzweifeln mir im Traum nicht einfallen würde. Aber glauben Sie es mir bitte auch: Ich bin eben ausgebildeter Architekt. Ich darf wohl auch zu Recht davon ausgehen, dass ich über meinen Beruf und mein Fachgebiet mehr weiß als ein Laie – und daher meine Aussagen auch selbstverständlich mehr Gewicht haben als seine. (Wenn man nach jahrelangem Universitätsstudium nicht gebildeter wäre und Relevanteres zu sagen hätte, als ein x-beliebiger anderer, glauben Sie wirklich unsere Gesellschaft würde sich diesen Luxus leisten?) Das sollten Sie respektieren und nicht andere Menschen „Hunde“ nennen, nur weil Sie Ihre Haltung nicht verstehen oder achten wollen. Das sage ich Ihnen in aller professionellen Sachlichkeit.
MFG J. Kempf
„die Architekten sind die Einzigen, die wissen was gute Gestaltung ist“.?!
das Fatale ist lediglich, dass auch nach 90 Jahren Überzeugungarbeit es ihnen nicht gelungen ist, das natürliche Empfinden ihrer Mitbürger für Harmonie und Proportion zu beeinflussen (das bezeugen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen von Gestaltpsychologen weltweit).
Können die Architekten denn wirklich stolz auf ihre Arbeit sein bei einem Blick auf den Zustand unserer Ortszentren und Neubaugebiete?
Wir suchen einen Ausgleich zu diesem Chaos beim Besuch historischer Städte-und viele Architekten tun das auch. Wenn es aber um die Lösung einer Bauaufgabe geht , werden alle Grundsätze vergessen, dem Zeitgeist gefrönt und wieder zerstört eine Bausünde (so nannte man das früher) bisher noch intakte Strassenbilder.
Es gibt doch genug Bauaufgaben für alle Stilrichtungen. Wann gelingt es uns endlich einen Konsens herzustellen, dass Architektur wieder Ausdruck von Gemeinsinn ist und Rücksicht nimmt auf die Reste unser weltweit einmaligen architektonischen und städtebaulichen Kulturlandschaften mit Lösungen die zeitgemäß sind aber doch den genius loci ernst nehmen?
Der Architekt Fritz Schupp, als Planer der Zeche Zollverein sicher kein Retro, hat gesagt: „wenn der Zweck eines Gebäudes seine Einordnung in Alltägliches verlangt, einen Verzicht auf jeden Individualismus, dann liegt die künstlerische Leistung des Architekten eben in der Unterordnung unter den Zweck.“
Unabhängig davon, dass Schupps Ausspruch exakt dem Haus zur Rose zugrunde liegt, würde ich mich nicht trauen, allzu eilfertig Zitate in dieses Forum zu stellen. Schließlich hatte der Industriearchitekt Fritz Schupp (1896-1974) herzlich wenig mit dem Bauen im Bestand am Hut. Seine Blütezeit findet nicht von ungefähr zeitgleich mit der der Nazis in Deutschland statt. Sein Bochumer Bergbaumuseum spricht deren eindeutige, rückwärtsgewandte, unmaßstäbliche Machtsprache. Dessen ungeachtet, ist die Zeche Zollverein in der Tat für die zwanziger Jahre revolutionär und hat damals gewiss die gleiche Kritik der ewig gestrigen heraufbeschworen, wie das kleine Haus zur Rose heute. Nur ist der Maßstab ein anderer. Was ist eigentlich an Vielfalt falsch? Was ist falsch daran Stadt weiterzubauen? Falsch können nur Maßstäbe sein, nicht die Zeit aus der ein Bauwerk stammt. Jedes Heute ist morgen schon ein Gestern. Selbst die ältesten Häuser einer noch so zauberhaften Altstadt waren einmal neu – und damit gewöhnungsbedürftig.
Werter Herr Stadtbaurat (Reine Neugier: Welche Qualifikation muss man eigentlich haben, um Stadtbaurat zu werden?) tun Sie doch mal „Butter bei die Fische“: Nennen Sie mir doch mal einige der erwähnten „weltweiten“ Studien von Gestaltpsychologen, die Ihre These stützen, dass es Architekten „auch nach 90 Jahren Überzeugungarbeit (…) nicht gelungen ist, das natürliche Empfinden ihrer Mitbürger für Harmonie und Proportion zu beeinflussen.“ (Das würde mich wirklich interessieren. Zumal ich längere Zeit mit dem Gedanken geliebäugelt habe, über das Thema „Architekturwahrnehmung“ zu promovieren und insofern ernsthaft großes Interesse an relevanter Forschung auf dem Gebiet habe. Mir war nicht klar, dass die Frage schon mit solcher Klarheit entschieden ist.) Ich kann mich aber erstens garnicht daran erinnern, im meinem Studium ein Seminar besucht zu haben, in dem gelehrt wurde, wie man Mitbürger beeinflusst. Und warum sollte es dieses obskure Anliegen erst seit 90 Jahren geben? Habe ich etwa in der Baugeschichte und Architekturtheorie geschlafen? Zweitens gehören Architekten gemeinhin doch auch zu der Spezies Mensch und den Bürgern. Wollen Sie mir und meinen Kollegen nun unterstellen, wir würden im Studium und in unserer Arbeit tagtäglich aus unerfindlichen Gründen wider unser „natürliches Empfinden für Harmonie und Proportion“ trainiert und vorgehen? Sind wir nun einfach nur dumm und unsensibel oder wurde unser Gehirn gewaschen? Und welcher „Stil“ entspricht denn nun dem natürlichen Empfinden? Klassizismus? Neobarock?, Neorenaissance? Historismus? „Altdeutsch“? Jugendstil? Postmoderne? Ich bin ratlos.
Drittens: Ich nahm immer an, dass die klassischen Proportionslehren über die Jahrhunderte in nahezu allen Stilen zur Anwendung kamen und heute noch kommen. War es nicht z.B. erst in den 1940ern der zutiefst „moderne“ LeCorbusier, der seinen Modulor auf der seit der Antike bekannten Lehre des „Goldenen Schnitts“ aufgebaut hat und der sich in der Tradition Vitruvs ausdrücklich zum „menschlichen Maß“ in der Architektur bekannte? Mir scheint, Sie haben ein zumindest sehr „individuelles“ Verständnis davon, was Architekten lernen und wie sie arbeiten.
Wo wir schon fast beim Kollegen Schupp wären: Seine Auffassung in allen Ehren, aber bei näherer Betrachtung hält sie schlicht nicht stand: „Wenn der Zweck eines Gebäudes seine Einordnung in Alltägliches verlangt…“…Ja, welcher Zweck? Ist Wohnen ein solcher? Oder nur Arbeiten? Oder Repräsentieren? Oder Aufbewahren? Was mit Häusern, in denen man wohnt, arbeitet, repräsentiert und aufbewahrt? Wer entscheidet, welcher Zweck wann den Verzicht auf Individualismus zur Folge hat? Und warum? Und was genau ist „das Alltägliche“? Kann man diese Frage heute noch genauso beantworten wie vor 20, 50 oder 100 Jahren? Mir scheint dieses Zitat wie eine hübsche, herrlich zu instrumentalisierende Sprechblase, die aus dem Augenwinkel betrachtet schön schillert, aber schnell zerplatzt, wenn man sie scharf ansieht.
Unsere moderne westliche Welt huldigt inzwischen unbestreitbar dem Individualismus in allen Bereichen des Lebens. Und ich denke, wir alle sind heilfroh, dass dem so ist. Die fortschreitende Entdeckung des Individuums seit der Aufklärung ist ein wesentliches – und großartiges – Projekt der europäischen Moderne. (Aktuell findet nicht von ungefähr in Peking dazu eine große von Deutschland gesponsorte Ausstellung statt.) Gerade wir Deutschen haben in unserer Vergangenheit in grausamster Weise erfahren, wie problematisch die Unterdrückung des Individuums sein und wohin die Glorifizierung eines Gemeinsinns und das Aufgehen in der Masse führen kann. Ganz bestimmt: Nicht DIE Architekten sind „schuld“ am Zustand unserer deutschen Städte. Schauen Sie sich doch einmal die Aufnahmen amerikanischer Kriegsberichterstatter aus dem Jahre 1945 an und denken anschließend noch einmal scharf nach. Vor diesem Hintergrund finde ich dann auch Äußerungen wie „und wieder zerstört eine Bausünde (so nannte man das früher) bisher noch intakte Strassenbilder“ ziemlich schäbig und irgendwie zynisch. Besonders, wenn ich an die vielen meiner Kollegen denke, die sich in der Vergangenheit mit viel Leidenschaft und Sachverstand für den Erhalt echter (!) historischer Bausubstanz und gegen die Zerstörung schützenswerter Ortsbilder aus Profitinteressen oder ideologischer Verblendung eingesetzt haben und die dies heute noch jeden Tag tun. Die Stadtbauräte und Behörden beraten und nötigenfalls auch gegen bereits erteilte Abbruchgenehmigungen Sturm laufen. (Und kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, dass dem nicht immer so war. Denn auch wenn ich Ihnen da sofort Recht gebe, so fand dieser „Zeitgeist“ des Wiederaufbaus gemäß den Richtlinien der Charta von Athen erstens nicht in einem „luft“- und geschichtsleeren Raum statt – sondern im angesicht der Trümmer – und zweitens war er konsualer Ausdruck eines gesellschaftlichen Aufbruchs in eine bessere und modernere Welt – besonders der des massenhaften „Individual“verkehrs – wo wir dann wieder bei dem Porsche wären;-) Das was Sie heute als Zerstörung schmähen, war damals genau das, was Sie heute in anderer Gestalt gerne sähen: Nämlich ein Gemeinsinn.)
„Es gibt doch genug Bauaufgaben für alle Stilrichtungen.“ Architektur- und Baugeschichte ist doch keine Olympiade der Stilrichtungen. (Stile sind derzeit völlig irrelevant, auch wenn viele Laien sie für besonders wichtig halten.) Und hier werden auch keine Medaillien vergeben oder Quoten erstellt, wo und warum an der einen Stelle so und der anderen wieder anders gebaut werden sollte oder darf. Wir leben in einem freien Land und jeder hat grundsätzlich das Recht (innerhalb der geltenden gesetzlichen Bestimmungen) so zu bauen, wie er es für richtig hält. Das tut ein Bauherr dann bestenfalls mit einem Architekten seiner Wahl. Wer wollte ihm das verwehren? (Ich fände vielleicht auch, dass unsere Straßen schöner aussähen, wenn es nur ein einfarbiges Einheitsauto gäbe. Muss ich deshalb richtig liegen?)
Ich denke im Kern wurde Ihren vagen Gedanken und Ihr Unbehagen – sofern ich dieses richtig interpretiere – schon einmal präziser wissenschaftlicher Ausdruck verliehen. Das Buch „Der Verlust der Mitte“ von Hans Sedlmeyer wird seit seiner Erstveröffentlichung 1948 immer wieder kontrovers diskutiert und war auch zu meiner Studienzeit Pflichtlektüre. Es ist also völlig irrig anzunehmen, moderne Architekturstudenten würden einseitig indoktriniert oder dazu gebracht, nur einem bestimmten – gar klassisch-modernen – „Stil“ anzuhängen, den sie dann „auf Teufel komm raus“ gegen alle Widerstände (auch gegen die der eigenen Auftraggeber) durchsetzen müssten. Moderne Architektur ist heute wie zu allen Zeiten ein Projekt, dass nicht nur einseitig von (bösenbösen) Architekten getragen wird. Sie wird im freien Kräftspiel von Wirtschaftlichkeit, Moden, gesellschaftlichen Anforderungen, dem Stand der Technik und der Wissenschaften, den Lüsten und Wünschen der Bauherren, den Behörden und Gesetzen, den Nachbarn und den Medien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) ausgehandelt. (Dass ausgerechnet ein Stadtbaurat solch eine Front gegen einen Berufstand aufmacht, mit dem er schon von Amts wegen Zusammenarbeiten muss, finde ich ausgesprochen kontraproduktiv und fragwürdig. Meine Stimme als Bürger hätten Sie jedenfalls nicht.)
Wo wir beim letzten Thema wären: Ich glaube wir hatten nie in unserer Geschichte vorher eine Gesellschaft, die mehr auf Konsens bedacht war als unsere heutige. Eine Gesellschaft, in der auch jede noch so kleine Stimme eines Einzelnen gehört werden , in der jeder sich ausdrücken darf und seinen Platz behaupten kann. (Selbst die Hufeisenfledermaus kann heute in die Gestaltung von Großprojekten massiv eingreifen oder diese gar zu Fall bringen.) Ständische oder höfische Regeln, die von oben herab verbindlich diktierten, was zu tun oder lassen war, sind passé. In diesem Sinne reflektieren unser zeitgenössisches Baugeschehen und die Bauformen genau diese pluralistische Gesellschaft. Und wissen Sie was: Damit kann ich gut leben. Darin finde ich nichts „Chaotisches“ und Verabscheuungswürdiges, sondern im Gegenteil: Diese Vielfalt, Offenheit und Toleranz, die sich auch für alle sichtbar in der Gestalt unserer Städte widerspiegelt, gibt mir Ordnung, Sicherheit und Vertrauen darin, dass im Zweifel auch meine Stimme gehört und nicht etwa einem vagen übergeordneten „Gemeinsinn“ geopfert würde.
P.S. Wer sich wissenschaftlich gehaltvoller in das Thema einlesen möchte, dem sei der hervorragende Reader zum Symposium „Identität durch Rekonstruktion?-Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume“ empfohlen. Herausgegeben vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung und kostenlos als PDF zu beziehen unter http://www.architektur-baukultur.de.
MFG. J. Kempf, Architekt, Berlin
Sehr geehrte Herren,
architektonische Geschmacksdiskussionen hin oder her – die Geschichte jeder so hochgelobten „europäischen“ Stadt ist nur deshalb erzählens- und erhaltenswert, weil die europäische Stadt seit je her als ein lebender Organismus funktioniert und dem es gelingt sich kraft seiner „Bewohner“ selbst zu verändern, zu entwickeln und zu wandeln. Städte sind seit je her Motor und Zentrum für Innovation, Entwicklung und Fortschritt jeder Hochkultur, sie waren es, die ganzen Bevölkerungsgruppen Zuflucht, Hoffnung auf ein besseres Leben in Frieden und Wohlstand durch Anteilnahme an kulturellen, ökonomischen und sozialen Prozessen versprochen hat.
Erhaltung kann nie bedeuten, die „Tür“ für Entwicklung und Fortschritt zuzuschlagen, dies würde gleichbedeutend mit dem Entzug der Lebensgrundlage der Mikro- und Makroorganismen innerhalb der europäischen Stadt bedeuten. Wir brauchen keine Museen, sondern funktionierende und attraktive Städte hoher Qualität, in denen sich zu Leben lohnt und erstrebenswert ist und die nachhaltig und sinnvoll mit den vorhandenen Ressourcen umgehen. Die Rekonstruktionswut historischer Stadtkerne stellt dabei keine Lösung für Fragestellungen unserer heutigen Zeit dar; ist Kulissenarchitektur und Betrug um die Errungenschaften unserer Zeit und führt zu absurden Kumulationen wie jüngst den Wettbewerbsergebnissen zum Wiederaufbau des Dom-Römer- Areals in Frankfurt am Main zu entnehmen ist. Daher großer Respekt an die Architekten und Bauherrn, für die einzige richtige Entscheidung im Sinne des Fortschritts unserer Gesellschaft! Rekonstruktion von Dingen, die nicht mehr existieren ist (in meinen Augen) die einzige Modeerscheinung, die es sehr kritisch zu hinterfragen und zu negieren gilt, die Suche nach dem stets Neuen, der Drang nach Innovation und Weiterentwicklung ist eine Tugend, deren Umsetzung oft schmerzlich jedoch unerlässlich ist!
In diesem Sinne,
beste Grüße, Mark Delle.
Es gibt kein Zurück ! Was einmal zerstört ist, kann zwar rekonstruiert werden, doch damit zementiert man immer nur einen bestimmten Zustand (den von 1900, von 1800, von 1700,…) Auch Städte, welche keine massiven Zerstörungen erlitten haben (wozu man Erfurt ja durchaus zählen kann), verändern sukzessive ihr Gesicht. Das Problem, welches wir heutzutage mit solch einem Wandel zu meist haben, ist wohl die Geschwindigkeit und Radikalität mit welcher sich dieser vollzieht bzw. vollzogen hat, und die zumeist mangelhafet räumliche Qualität die hierbei entsteht. Somit scheinen wir zur blanken Rekonstruktion ganzer Stadtzentren anscheinend oftmals keine echte Alternative anbieten zu können.
Dem Erfurter Haus `Zur Rose´im Speziellen kann man all dies jedoch nicht unterstellen. Mit zeitgenössischen Mitteln in Material, Konstruktion und Gestaltung setzt es sich zwar von seinen benachbarten Bauten ab, passt sich jedoch in Größe, Proportion und Gliederung diesen an. Aus meiner Sicht hätte ein anderer Ansatz hier nur zur Karikatur eines Hauses wenn nicht zu Schlimmerem geführt: Meine Glückwünsche an Bauherr, Architekt ud Erfurt !
Die vielen namenlosen Meinungen und Gedanken, gerade von alten und jungen Menschen sind so wesentlich, denn sie entspringen einem natürlichen, zum einen noch wenig verbogenen und zum anderen von einem sich wieder lösenden Denken und Fühlen von den Glaubenssätzen unser abstrakten Begriffswelt. Viele können leichter ihre Anerkennung für ein Gebäude aussprechen, aber ihre Bestürzung, ihre Betroffenheit, nehmen sie oft lautlos mit. Tausende von Menschen gehen an diesem Haus vorbei. Am Anfang mag es noch „provozieren, mit „mäßiger Erziehung“ auf das gemeine Volk wirken, wie der Intellekt bemerkt. Aber über die Jahre, was passiert im Bewusstsein dieser Menschen. Goethe wusste das noch, denn er konnte unvoreingenommen die Bau- oder Kunstwerke betrachten und sie so auf seine Seele wirken lassen, dass sie sich selbst in einer Seelenstimmung aussprachen.
Das Bewusstsein der vorbeiziehenden Menschen wird sich abschließen, es wird kein Licht spüren, keine Sprache hören, die vom Bauwerk ausgeht. Auch wird es kein offenes und freudiges Zwiegespräch ganz im Stillen geben. Ein tatsächliches Freuen, ein Interesse, ein hineinleben mit den Augen, Ein Plastizieren, die Lust am gestalten nachempfinden, das erleben der Farbe und ihr innerster Ausdruck auf das Gemüt, welche sinnerfüllten Möglichkeiten! Der Sinnesprozess ist ein enorm wichtiger Nahrungsprozess. Bauwerke die in Schönheit erstrahlen, die Inhalte vermittelt, die leicht und anziehend wirken, werden weniger. Licht und Schatten, die Art der Formen, tragen enorm zum inneren Aufbau eines gesunden Menschen bei. Das Nervensystem und die Organe brauchen künstlerisches Schaffen, die Augen brauchen das Licht, wofür sie geschaffen sind, sonst verkümmern sie und der Mensch wird krank, psychisch und organisch. Das Wissen darum ist bekannt. Doch die Fassade in Erfurt, nur ein Beispiel von vielen, zeigt kein Licht mehr, sie ist nach innen gekehrt, sie verschließt ihr Wesen, dunkel und glatt ist sie, wie ein Abwasserkanal, wenn die Häuserzeile in gleicher Weise ergänzt wird. Auch der Baustoff Glas als Massenware ist stumpf und zeigt nur die Hilflosigkeit im Gestalten mit Wänden, er gleitet ins Reflektorische hinüber und ist geradezu der Repräsentant unseres reflektorisch begrenzten Denkens. Der intellektuelle Planungsprozess und seine hofierende Kritik hat sich längst verselbstständigt.
Ich sage es mit aller Deutlichkeit. Es ist das kollektive Unbewusste, das sich vehement in dem heutigen Verstandesdenken widerspiegelt und in das man sich gerne einklinkt. Denn darüber verschafft man sich u.a. durch „Provokation“ und „Extravaganz“ Gehör, da bekommt der Architekt seine Anerkennung. Das schlichte Einordnen, das Mitfühlen ist weder die verdrehte emotionale Gebäudeplastik, noch der kantig funktionale Bau. Was gibt es noch? Diese Zukunftsfrage müssen sich die Planer stellen, wenn sie einen wirklichen Beitrag zur Baukunst und damit zur Gesunderhaltung des Menschen, schaffen wollen. Das Abwenden müssen von dem Kulturträger schlechthin, dem Bauen, ist tragisch für die betrogenen Menschen, und für die Architekten, die ihre Verantwortung nicht übernehmen mit wahren Bewusstseinsinhalten, das Gemüt der Menschen anzuheben, es mitzunehmen und damit wirklich Baukultur schaffen.
Walter Buckel, Burgbernheim
In der heutigen Zeit sind die Begriffe Transparenz und Teilhabe in aller Munde. Politiker müssen ihre Taten über Umfragen legitimieren lassen….Herr Prof. Deckert, lassen Sie doch einfach mal eine Umfrage bei den Menschen in der Stadt machen, um zu sehen, ob Sie in der Bevölkerung verankert sind, oder ob Sie doch eher eine elitäre und nicht vermittelbare An(Welt)sicht haben. Oder meinen Sie, dass die Gesellschaft nicht beteiligt werden sollte? Das würde mich allerdings ratlos zurück lassen.
Reinhard Seevers, Architekt, Burweg (Bossel)
Herr Kollege Seevers:
Der Vergleich zwischen Architekten und Politikern hinkt gewaltig – ist geradezu fußlahm: Politiker und Amtsträger sind vor dem Gesetz dem Bürger als Souverän verpflichtet. Der Bauherr und sein Architekt hingegen sind ja gerade freie Bürger, die im Rahmen der geltenden Gesetze tun und lassen können wie und was ihnen beliebt. Freie Menschen also, die niemandem Rechenschaft schuldig sind und auch niemanden an ihrer Willensbildung beteiligen müssen. Der Architekt bedarf keiner gesellschaftlichen Legitimation. Der Architekt ist erstmal Interessenvertreter des mündigen Bauherrn. (Sein Anwalt – wenn Sie so wollen. Und als Anwalt wird man gelegentlich gerade Positionen vertreten, die unbequem und nicht „mainstream“ sind.) Das mögen Sie vielleicht irgendwie „elitär“ finden. Aber diese Freiheit (der Gedanken, der Rede, der Meinung, der persönlichen Entfaltung, Kunst usw.) wird durch unser Grundgesetz nun mal garantiert. Bauen ist kein Privileg von Amtes oder der Nachbarn Gnaden, sondern eines jeden gutes Recht. Wo kämen wir denn da hin, wenn neuerdings jeder erst einmal eine Umfrage starten müsste, um zu erfahren, ob seine An- oder Weltsicht die Zustimmung der Allgemeinheit findet? Wollen Sie so eine (faschistoide) Gesellschaft? Wenn Sie die Architektur einer solchen „Prüfung“ unterwerfen wolen, warum dann nicht auch gleich die Gesinnung? Dem Kollegen Deckert kann es – auf gut Deutsch gesagt – wurstegal sein, ob sein ästhetisches Empfinden in der Bevölkerung „verankert“ oder „vermittelbar“ ist. Es gehört zu einer freien Gesellschaft, dass man die Freiheit der anderen auch tolerieren und aushalten können muss. Sie dürfen ja gerne anderes planen. Wenn alle so dächten wie Sie es anscheinend tun, wir würden heute wohl noch in Hütten hausen und auf offenem Feuer kochen. Ihr Kommentar – von einem Architekten?! – lässt mich ratlos zurück….ja erschreckt mich sogar.
Tja Herr Kollge,
gem. §12 Thüringischer Bauordnung heißt es u.a.: Bauliche Anlage dürfen das Straßen- Orts- und Landschaftsbild nicht verunstalten“
Nun ist die Überwachung und Prüfung eine öffentliche Aufgabe, die wiederum von öffentlichen Bediensteten erbracht wird, die wiederum vom Steuerzahler bezahlt werden. So einfach kann sich der Architekt nicht aus der Affäre ziehen und seine Definition von „guter“ Gestaltung seinem Ego und seinem vermeintlichen Ausbildungsstand entsprechend geltend machen. Eine solch herausragende bauliche Maßnahme hat sich neben den gelten Rechtsvorschriften, auch der Prüfung aus ästhetischer Sicht zu stellen. Leider haben hier etliche Kollegen eine etwas „abgehobene“ theoretische Sichtweise, die den Beurteilenden „Laien“ zuweilen als Unwissenden abstempelt, um es milde auszudrücken.
Reinhard Seevers, Architekt, Burweg (Bossel)
Tja Herr Kollege,
da liegen Sie falsch. Ich muss mich schon wundern. Das lernt man doch alles in den ersten Semestern:
1. Das Gebot der Vermeidung der Verunstaltung des sogenannten „Ortsbildes“ ist juristisch und verwaltungstechnisch zunächst rein städtebaulicher Natur und gehört zum Bauplanungsrecht. Es geht dabei ausschließlich um „Art und Maß der Nutzung“. Eine solche Beeinträchtigung liegt im fraglichen Fall offensichtlich nicht vor. Das Gebäude fügt sich gemäß den baurechtlichen Anforderungen ein und war deshalb selbstverständlich zu genehmigen. Der Verunstaltungsbegriff im Baugestaltungsrecht ist so allgemein gehalten, dass sich daraus kaum Nennenswertes für die Entwurfsplanung gewinnen läst. Es gibt dazu ja umfangreiche Kommentierungen, allerdings sind mir in der Praxis kaum Beispiele bekannt, wo es gelungen wäre, auf dieser Basis seitens einer Öffentlichkeit dem Planer zwingende Vorschriften zu machen oder gar bestimmte Ausführungen zu untersagen.
2. Darüber hinaus gehende konkrete gestalterische -ästhetische – Vorgaben (Fensterformate, Farben, Materialien, Konstruktionen ect,) müssen über Satzungen geregelt werden. Das allgemeine Bauplanungs- oder Bauordnungsrecht schreibt derartiges jedenfalls nicht vor. Wenn es in diesem Bereich keine Gestaltungssatzung gegeben hat, gibt es auch keinen Grund, solche Anforderungen auf der Basis diffuser Mutmaßungen darüber, was wohl die Nachbarn gut finden würden, zu konstruieren. Hat es sie dennoch gegeben, hat der Architekt sie offensichtlich erfüllt:
3. Eine Prüfung der Bauantragsunterlagen hat stattgefunden. Das Haus ist genehmigt worden (sic!). Es steht demnach nicht im Widerspruch zu geltenden Recht. Was wollen Sie also noch?
4. Die Baumaßnahme ist außerdem eben keineswegs „herausragend“. Sie ist ein gewöhliches Wohnhaus in einem Gebiet, wo es viele vergleichbare Wohnhäuser dieser Art gibt. Nochmal: Das Haus fügt sich nach Art und Maß der Nutzung. Mehr ist im Grunde garnicht zu beachten.
5. Zwingende und in irgendeiner Form rechtsverbindliche „ästhetische Prüfungen“ werden nicht durch irgendeine „Allgemeinheit“ auf der Grundlage des persönlichen Geschmacks vorgenommen. Das widerspricht unserer freiheitlichen Grundordnung. Der Architekt hat sich hier nichts und niemandem „zu stellen“ oder gegenüber zu rechtfertigen. Bauen ist kein Privileg, sondern ein Recht. Der Architekt mag es vielleicht nicht unbedingt besser wissen, als der Laie, aber umgekehrt gilt es natürlich ebenso.
6. Wie der Kollege Deckert über architektonische Laien denkt, ist mir nicht bekannt und auch egal. (Und wahrscheinlich ist es für seine Arbeit auch völlig irrelevant. Selbst wenn er der dünkelhafteste Mensch wäre: Hey! Auch das ist nicht verboten. Auch das müssten Sie gegebenenfalls aushalten.) Ich allerdings werde meine in langen Jahren erworbene Auffassung zur Architektur nicht einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung unterwerfen. (Wenn ich krank bin, suche ich mir schließlich auch einen Arzt meines Vertrauens und lasse meine Gebrechen nicht von interessierten Laien auf Facebook erörtern.) Wie gesagt: Es steht Ihnen frei, Ihre Entwürfe jedesmal auch einer Öffentlichkeit zur geneigten Abstimmung vorzulegen. Ich bezweifele allerdings, dass Sie damit weit kommen werden. Außerdem würde ich annehmen, dass Sie dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen sich und Ihrem Bauherren, dessen Interessenvertreter Sie sein sollten, nicht gerade befördern.
Ich frage mich allerdings wirklich, welchen Schlus Sie daraus ziehen möchten, wenn Sie feststellen sollten, dass Ihre Arbeit und Gestaltungsideen so garnicht „goutiert“ werden…hängen Sie dann den Job an den Nagel und satteln um?…Oder machen Sie nur noch Konsensarchitektur? Wenn möchten Sie alles befragen? Mich?, Herrn Deckert?, Tom, Dick oder Harry aus Dresden, Berlin, Bilbao oder Oberursel?
Sie unterstellen den Architekten eine „abgehobene theoretische“ Sichtweise. Nun, die hat mein Arzt hoffentlich auch. Denn nichts anderes erwarte ich von jemandem, der eine solide Ausbildung erworben hat und der seinen Beruf mit Kompetenz und Hingabe betreibt. Wenn Architektur so einfach wäre, dass es jeder könnte, dann bräuchten wir keine Architekten. Gleiches gilt jedoch für alle anderen Berufe. Warum ein Erfahrungs- und Wissensvorsprung nun aber bei allen anderen Berufen gut und ausgerechnet für Architekten von Nachteil sein soll, konnte mir bislang niemand glaubwürdig erläutern.
Von der Kunstfigur Bernd Stromberg stammt der Ausspruch: „Zuviel Kompetenz macht unsympathisch!“ Das mag wahr sein. Aber ich übe meinen Beruf auch nicht aus, weil ich mich beliebt machen will. Das, was zu jeder Zeit allen gefallen hat und allen noch gefällt, was nie Skepsis und sogar Widerwilen hervorgerufen hat, wird mit Sicherheit nichts sein, worüber sich das Nachdenken oder nur das Reden lohnt. Und es wird nichts sein, was unsere Kultur auch nur ein bisschen vorangebracht hat.
Die Folge solchen Denkens sind Gestaltungssatzungen und Gestaltungsbeiräte…..:-)
„Avantgarde und Altstadt“ – besser wäre das Streit-Thema überschrieben „Provokation und Altstadt“, denn was an diesem Erfurter „Haus zur Rose“ avantgardistisch sein soll, erschließt sich mir nicht. Schließlich hat die hier zugrundeliegende Stilhaltung gerade ihren 100. Geburtstag gefeiert und vor ca. 80 Jahren ihre meisterliche und wahrhaft avangardistische Blütezeit erlebt. Darauf folgte jahrzehntelange epigonale Verwässerung, folgte das verzweiflungsvolle Aufbäumen der „Postmoderne“ und schließlich die definitive Etablierung eines Historismus, der nun anscheinend für alle Zeiten von den Leistungen der legendären Bauhaus-Bewegung der Zwanziger Jahre zehren soll. Diesen Historismus als Stil unserer Zeit zu deklarieren, als Avantgarde gar, ist geradezu kurios.
Außerdem: Käme in heutigem Bauen ein Stil unserer Zeit zum Ausdruck, dann gründete dieser in einem durchgängigen Lebensgefühl, in dem sich Baumeister und übrige Bevölkerung vereinen würden, wie dies in Deutschland bis zum Jahr 1933 im großen und ganzen gegeben war. Davon kündet zumindest die Architektur, in der, nach Geoffrey Scott „die Geschichte der Zivilisation ihre wahrsten, weil unbewusstesten Aufzeichnungen hinterlässt“. Davon sind wir heute weit entfernt, und die provokante Wirkung des „Hauses zur Rose“ beruht gerade auf dem Auseinanderfallen der Erwartungen an Architektur zwischen einer verunsicherten, in ästhetischen Fragen führungslos gewordenen Bevölkerung und einer zu großen Teilen verschworenen und ziemlich arrogant auftretenden Architektenschaft, welche die Deutungshoheit über das, was als zeitgenössisches Bauen zu gelten hat, an sich gerissen hat und mehr oder weniger aggressiv gegen die Erwartungen der Bevölkerung durchsetzt. Ein wahnhafter Avantgardismus auf der einen Seite steht gegen das hilflose Verlangen nach bergender, beheimatender und beglückender Umweltgestaltung auf der anderen.
Ein wahrhaft zukunftshaltiges Bauen würde darauf abzielen, diese beiden Extreme miteinander zu versöhnen, und es gibt tatsächlich nicht wenige Architekten, selbst in Deutschland, die von diesem Streben durchdrungen sind. Die Frage, wie minimalistisch karg oder reich gegliedert eine Fassade sich präsentiert, verblasst dann vor dem Ziel, gediegen und verantwortbar öffentliche und private Räume auszugestalten, die das leibliche, seelische und geistige Gedeihen der Bewohner befördern.
Dr. Harald Streck, Publizist, Murrhardt
„Diesen Historismus als Stil unserer Zeit zu deklarieren, als Avantgarde gar, ist geradezu kurios.“
Sagt ausgerechnet ein „Stadtbild-Deutschland“-Ideologe. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so absurd klänge.
Jörg Kempf, Architekt, Berlin
Viele Architekten erwecken den Eindruck, dass sie ihren Beruf als professionell Suchende betreiben und nicht als Künstler und somit als Könner. Diese Haltung gipfelt nicht selten in Gebäuden, die genau den Geist ausdrücken, dem sie entsprungen sind: unsichere Vorstellungen von angemessener Ästhetik treffen auf Unkenntnis über gestalterische Grundlagen und gehen dann mit dem Anspruch das Rad ewiglich neu erfinden zu müssen eine unheilvolle Verbindung ein. Das was der Öfftentlichkeit häufig zugemutet wird ist Ausdruck eines kindlichen Selbstdarstellungsdrang nach dem Motto: Der will doch nur spielen. Leider haben die meisten Architekten offensichtlich nicht verinnertlicht, dass sie keine (Mode) Desinger sind, deren Produkte die Saison nicht überdauern müssen. Das was sie aufstellen, bleibt bis auf weiters im Raum stehen. Die damit bedingte Verantwortlichkeit erfordert einen Könner, dessen Werke dann auch Kunst genannt werden dürften. Allerdings bietet die Baukunst nicht die Freiheiten, die sich ein Jonathan Meese oder auch Gerhard Richter nehmen dürfen oder sogar müssen. Der Architekt sollte vor allem Zurückhaltung und Einordnung üben, zumindest solange bis er die Reife erworben hat, die den Könner und Künstler vom Blender und Scharlatan unterscheidet. Um diese Archi- Kids zur Räson zu bringen braucht es aber öffentliche Gremien, die über einen breiten Bildungskanon und mindestens eine stringente und zündende Idee zum großen Ganzen der gebauten Umwelt verfügen.
Naja: man wird ja noch träumen dürfen.