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Neues Bauen im Heiligen Land

Hier ist das Bauhaus mal nicht museal, sondern Teil des Alltags. Ein Reisebericht aus Tel Aviv und Haifa

05.04.20197 Min. Kommentar schreiben

Von Gottreich Albrecht

Über die so genannte Bauhaus-Architektur oder den Internationalen Stil in Tel Aviv ist schon Etliches geschrieben worden, aber nicht zu viel – im Gegenteil: Die Fachliteratur, die sich der „Weißen Stadt“ aus den 20er- und 30er-Jahren am Mittelmeer widmet, ist überschaubar. Den Rahmen der sehr ambitionierten, aber einzigen Informations- und Geschäftsstelle mitten in Tel Aviv, dem Bauhaus-Center, das wie ein Rufer in der Wüste dieses spezielle Architekturthema in die Öffentlichkeit bringen will, sprengt es nicht.

Tel Aviv findet sich neu

Die Idee der neuen, funktionalen Stadt – aus Europa importiert – ist in Tel Aviv auf fruchtbaren Boden gefallen. Bekannte Architekten (Richard Kaufmann, Arieh Sharon, Yaakov Ginsburg, Yossef Neufeld, Pinchas Hütt, Sam Barkai, Julius Posener) und weniger bekannte waren mit der zionistischen Aufbaubewegung in den 20er-Jahren oder auf der Flucht vor der Naziverfolgung Anfang der 30er-Jahre nach Israel gekommen. Sie haben hier eine Inkunabel des Neuen Bauens an die andere gereiht; wie Perlenketten avantgardistischer Architektur ist ein Straßenzug nach dem andern entstanden. Die höchste Konzentration der insgesamt etwa 4.000 Einzelbauten hat in drei Innenstadtarealen stattgefunden: in der Bialikstraße, am Rothschildboulevard und am Dizengoff-Platz. Im Lauf der Jahrzehnte herangewachsene Bäume füllen die engen Hauszwischenräume und flankieren die Straßenränder; das so gewachsene Stadtgefüge einer funktionell gestalteten und menschlich-maßstäblich komponierten „Optimalstadt“ verblüfft und begeistert den Architekten aus Europa. Hier hat sich der moderne Zeitgeist im damaligen Baugeschehen mit seinem gesamten Formvokabular manifestiert: Flachdach, Fensterbänder, Baukubenstaffelung, Balkonakzente, Kontrastspiel von Horizontale und Vertikale, pure Wandflächen als „Bildträger“ für Licht- und Schattenspiele, der Verzicht aufs Ornament – das alles ist raffiniert eingesetzt und effektvoll ausgespielt. Hier ist gute Gebrauchsarchitektur im Großmaßstab entstanden, hier hat das Neue Bauen eine gesellschaftspolitische, stadtkompositorische Heimstatt gefunden.

Der heutige Verfallscharakter vieler Häuser, der der kostenintensiven und daher jahrelang vernachlässigten Pflege geschuldet ist, kann den geschulten Blick nicht über den unter der Oberfläche bewahrten Schatz der Originalsubstanz hinwegtäuschen. Eher deutet der Abnutzungsgrad auf intensive Wohnnutzung hin, womit – der geringe Leerstand bestätigt dies – bis heute der soziale Wohnwert dieser Bausubstanz gegeben scheint.

Weiße Stadt nicht mehr so weiß

Das gesamte Bauensemble wurde 2002 durch die UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, Beleg für die einmalige bau- und kunsthistorische Bedeutung und die städtebaulich-architektonische Wertschätzung im internationalen Maßstab. Um die heute nicht mehr so weiße Stadt instand setzen und sanieren zu können, sollen städtische Aktionsprogramme die meist privaten Hauseigentümer animieren. Der ideelle Anreiz steigender touristischer Attraktion reicht dafür nicht aus, die Besitzer streben eher nach Gebäudeaufstockung und höheren Mieteinnahmen. Wo also treffen sich die beiden Ziele Denkmalschutz und Renditestreben? In Ausnahmefällen lassen die Behörden eine bis zu zwei Geschossen reichende Aufstockung des hinteren, straßenabgewandten Gebäudeteils zu, wenn der Bauherr die straßenseitige Originalsanierung gewährleistet. Dieser nicht bedenkenlose Balanceakt ist Ausdruck des mühsamen Anliegens, das erhaltenswerte Vergangenheitsbild in eine lebendige Gegenwart und eine hoffentlich gesicherte Zukunft hinüber zu retten.

Das Herzstück des Neuen Bauens in Tel Aviv ist der Dizengoff-Platz, benannt nach einem bedeutenden Bürgermeister der 30er-Jahre. Herzstück zu Recht, zumindest nach dem Eindruck, den historische Ansichten seiner Erbauungszeit als Erinnerungsbild vermitteln. Der Platz war kreisrund mit einem Durchmesser von etwa 100 Metern angelegt. Als radialer Zielort von sechs Straßen war er umgeben von einer – heute noch erlebbaren! – ringförmig-elegant geschnittenen, kompositorisch perfekten, selbstverständlich blendend weiß gestrichenen viergeschossigen Randbebauung. Hier war alles konzentriert, was städtisches Leben damals ausmachte und stimulierte: Geschäfte, Restaurants, Büros und Wohnungen – und gleich zwei Filmtheater zogen das Publikum an. Die federführenden Architekten waren Arieh Sharon, Yehuda Megidovitz. Das eingeschlossene Platzrund bot mit konzentrischen Rabatten, zentralem Wasserbecken, Freisitzen und Baumpflanzungen eine grüne Bühne für alle schaulustigen Flaneure, die damals Augenzeugen eines der interessantesten Stadtplätze der Welt wurden. Für einen Treffpunkt in Tel Aviv wurde selbstverständlich ein Café mit dieser Adresse gewählt.

Mit der Zunahme des Verkehrs traf die Stadtverwaltung in den 80er-Jahren eine Entscheidung mit folgenschwerer Stadtbildveränderung: Der Platz wurde zum Verkehrsknotenpunkt ausgebaut und der Freiraum mit einer fünf Meter hohen, gewaltigen Rundplattform als Aufenthaltsfläche für die unten vertriebenen Fußgänger überdeckt, die nun über Treppen und Rampen hochsteigen, um dem Dunkel der Erdgeschosszone und dem Autoverkehr unter der Plattform zu entkommen. Der berühmte Platz ist hochgradig gestört, seine einmaligen Proportionen und die Architektur sind beeinträchtigt, seine Aufenthaltsqualität ist passé. Stadtgestalter fordern heute zu Recht den Rückbau dieser Fehlplanung. Doch noch stehen die politische Entscheidung sowie die notwendige Mittelfreigabe dafür leider in den Sternen. (Nachtrag: Die Plattform wurde erfreulicherweise inzwischen zurückgebaut.)

Auch eine andere Art Bauimpuls tut der gewachsenen, drei- bis fünfgeschossigen Stadt Tel Aviv nicht gut, obwohl er weiterhin gnadenlos zunehmend die Stadtlandschaft prägen wird: Hochhäuser schießen wie Pilze aus dem Boden und ahmen hier in Nahost das ferne Manhattan nach. Mögen diese zumeist skurrilen, formal miteinander konkurrierenden Turmmarken auch die Horizontlinie aus der Ferne zackig modern machen: Die Sockelbereiche brechen in maßstabloser Grobheit das bisher geschlossene, auf Veränderungen sensibel reagierende Strukturnetz der charakteristischen Stadtbebauung auf und hinterlassen Orte, die man lieber meiden möchte.

Juwel unter dem Karmel

Ein israelisches Sprichwort fasst die Unterschiede der drei großen Städte so zusammen: „In Jerusalem wird gebetet, in Tel Aviv gefeiert – und in Haifa gearbeitet.“ Haifa, die Stadt unter dem Karmel, der als gewaltige Gebirgszunge ins Mittelmeer ragt, hat ihre traditionelle Bedeutung und Ausprägung durch den Hafen erfahren. Und hier nun begegnet einem – neben anderen Attraktionen – ein städtebaulich-architektonischer Höhepunkt, ein verstecktes Wunderwerk des Neuen Bauens, das noch auf seine kulturhistorische Entdeckung wartet: ein Stadtareal, ebenfalls aus den 20er- und 30er-Jahren, das in seiner Imposanz nicht nur dem von Tel Aviv gleicht, sondern es genau betrachtet übertrifft. Während die Bauhausstadt Tel Aviv in der Ebene liegt, entwickelt sich das Pendent von Haifa in ausgedehnter Hanglage. Die kubischen Baustrukturen staffeln sich entlang mäandernder Straßenzüge und erzeugen so das Bild einer großräumig gestuften Treppenskulptur mit immer wieder wechselnden Überschneidungen und Durchblicken: hinauf durch die Gärten in die Berge, hinunter über die Dächer zum Meer. Es ist ein Juwel an baulich-landschaftlicher Einheit, ein Musterstandort der Avantgarde in geradezu dramatischer Inszenierung und ein so einmaliger wie nachhaltig überraschender Erlebnisreiz. Hier möchte man wohnen! Und wünscht als Architekt, dass die UNESCO diesen enormen Baukultur-Schatz baldigst entdecken und heben möchte.

 

Der Schweriner Architekt Gottreich Albrecht verbrachte 2005/06 im Rahmen der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ ein Jahr in Israel. Was er sein ganz persönliches Sabbatical nennt, verschaffte ihm neben der Arbeit in soziokulturellen Projekten die Möglichkeit, das Land zu bereisen und eine Vielzahl an gezeichneten und aquarellierten Reiseskizzen mitzubringen. Im Eigenverlag brachte er sie zusammen mit eigenen Texten und einem Vorwort von Shlomo Mayer, dem damaligen Leiter des Leo Baeck Instituts Jerusalem, unter dem Titel „Ein Jahr in Israel“ als Buch heraus. Jetzt im Bauhaus-Jubiläumsjahr erhält die Publikation frische Aktualität.

 

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