Jürgen Tietz
Die Gardinen sind verschwunden, die sprossenlosen Fenster nur noch dunkle Löcher. Doch noch immer markieren die drei Satteldächer den Rand des Berliner Lützowplatzes. Die Zukunft der bis 1983 von Oswald Mathias Ungers errichteten Wohnbauten ist jedoch besiegelt, der Abriss hat im hinteren Teil der Anlage bereits begonnen – Bauschäden nannten die Eigentümer als Grund.
Zwar wurden die Bauten in ihrer Materialität einst nicht so ausgeführt, wie sie Ungers entworfen hatte – gleichwohl galten sie als wichtiges Pilotprojekt. Als Beispiel für ein verdichtetes und dennoch grünes innerstädtisches Wohnen wurden sie im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) in den 1980er-Jahren viel gelobt. Seitdem scheinen sich die städtebaulichen Leitbilder nur wenig verändertzu haben: die „Renaissance der Städte“, die die IBA einst mitinitiiert hatte.
Der Blick auf die Ungers-Bauten zeigt allerdings, dass sich die Zeiten doch gewandelt haben. Und mit ihnen die architektonischen Stile und Moden. Wie die Stadtin der Folgezeit von der Politik gewollt und von Investoren verwirklicht wurde, kann man wenige Meter nördlich von hierauf dem Klingelhöferdreieck mit der CDU-Zentrale und mehr noch gegenüber auf dem Köbis-Dreieck sehen: Die vermeintliche „urbane“ Dichte wird dort zur bedrückenden Enge. Aber auch die architektonischen Formen haben sich seit de rPostmoderne gewandelt. Referenzen an historische Vorbilder, wie sie einst in der Rauch- und Ritterstraße bei der IBA entstanden, tragen heute gerne historistische Fassadengewänder. Und selbst die Materialität des „steinernen Berlins“ hat sich vom Putz- zum Natursteinbau verlagert.
Nahe Geschichte – fernes Denkmal
So wirft der anstehende Verlust des IBA-Projektes am Lützowplatz eine ganz grundsätzliche Frage auf: Ist es nichtan der Zeit, ihre Epoche einer kritischen Würdigung zu unterziehen? Die erste postmoderne Frische haben die meisten IBA-Bauten schließlich längst verloren – für etliche Projekte heißt es im Wohnalltag „bonjour tristesse“. Mit dem nötigen Zeitabstand gehören ihre städtebaulichen und architektonischen Konzepte erneut auf den Prüfstand.
Doch ist dieser notwendige Abstand bereits vorhanden? Wann ist – ganz grundsätzlich – die Distanz groß genug, um einenkritischen Blick wagen zu können, der sich nicht zwangsläufig in gerade aktuellen Themen verfängt, sondern Architektur und Städtebau als zeitgeschichtliche Phänomene begreift und in ihrem historischen Zusammenhang verortet? Der Rückblick könnte auch die Frage klären: Ist die IBA denkmalwürdig – und wenn: welche ihrer Projekte? Doch hat die IBA nicht eigentlich erst gestern stattgefunden?
Und lebt sie nicht in der sogenannten „kritischenRekonstruktion“ des neuen Berlin weiter, dessen Protagonisten in Teilen schon die IBA mitbestimmten – vor allem Josef Paul Kleihues? Doch das IBA-Modell der Stadtreparatur maß dem innerstädtischen Wohnen eine zentrale Rollebei; dagegen bildete dies in der Neuerfindung der BerlinerMitte nach 1990 lediglich eine 20-Prozent-Staffelgeschoss-Ausnahme. Diese vorgeschriebene Wohnquote in Neubauten erfüllten zudem Investoren und Architekten oft nur mit deutlich sichtbarem Widerwillen.
Auch hier zeigt sich, dass die IBA ein Zeugnis einer abgeschlossenen (Architek-tur-)Epoche ist – der letzten des alten Westberlin, auch der alten Bundesrepublik. Das gilt generell als Voraussetzung dafür, dass sie als Denkmale bestimmt werden.
Zeitgrenzen und Gattungsgrenzen
Meist sind allerdings die Zeitgrenzen fließend; nur selten lassen sie sich an Ereignissen festmachen wie etwa dem Ende der DDR. Hier sind einerseits Bauten aus jüngerer Zeitbereits geschützt, etwa ein Wohnhaus von 1972 in Neubrandenburg und das Stadtbezirksrathaus Marzahn von 1985, beide vom Berliner Architekten Wolf-R. Eisentraut. Allerdings lehrt der Umgang mit anderen bedeutenden Zeugnissen der DDR-Architektur, dass diese Zugehörigkeit zu einer(abgeschlossenen) Epoche keineswegs auch den Erhalt ihrer schutzwürdigen Bauten sicherstellt.
Was jeweils als schutzwürdiges Dokument der Bauge-schichte verstanden wird, rückt aber seit fast 200 Jahrenimmer dichter an die Gegenwart. Für Karl Friedrich Schin-kel etwa waren noch in erster Linie die „vaterländischen“Bauten des Mittelalters denkmalwürdig. Der Barock einesAndreas Schlüter nahm in Schinkels klassizistisch geprägtem Denkmalverständnis noch eine Ausnahmerolle ein;B arock an sich war ihm wohl eher ein Gräuel als denkmal-wert. Erst nach und nach rückte die Zeitlinie, die in denkmalwürdige und noch nicht denkmalrelevante Bauten trennte, in Richtung Gegenwart.
Zugleich erweiterte sichder Fokus der als denkmalwert erachteten Gattungen von Herrschafts- und Sakralbauten zunehmend auch auf Profanarchitektur. Im gewandelten Denkmalverständnis drücktsich ein verändertes gesellschaftliches Interesse an der Geschichte und ihren baukünstlerischen Zeugnissen aus. Gleichwohl galt noch für Georg Dehios großes Projekt des „Handbuches der deutschen Kunstdenkmäler“ die Zeitschwelle um 1800 als terminus ad quem – jünstmöglich für Denkmalwürde. Bauten von Schinkel oder gar Semper wa-ren noch viel zu jung.
Nun ist bis heute die besondere Qualität „des Dehio“,dem Leser eine Auswahl an Bauten vorzustellen – ganz imGegensatz zum Inventar der Denkmalpfleger, die möglichstden kompletten erkannten Denkmalbestand einer Regionverzeichnen sollen. Doch für beide besitzt eine Selektionmöglicher Denkmale durch die Mühlen der Zeit durchausVorteile. Schafft sie doch eine klärende Distanz, die den Blick von der verfälschenden Brille der Zeitgenossenschaftzu befreien hilft. Andererseits hat gerade das 20. Jahrhun-dert mannigfaltig bewiesen, dass ganze Denkmalgruppenin immer schnelleren Abständen zu verschwinden drohen.Gelegentlich sogar, noch ehe sie in den Blick der Denkmal-wächter geraten konnten. Die Ursachen dafür sind höchstvielfältig und liegen – etwa in Europa – keineswegs allein inder zerstörerischen Wirkung zweier Weltkriege.
Keine Epoche ist von Abriss und Umbau so stark gefährdet wie die des eben gerade abgeschlossenen Zeitabschnitts. Generell zeigt sich, dass die Söhne und Töchter die Bauten (und Konzepte) der Eltern liebend gern verwerfen und zerfleischen. Freilich nur, damit diese dann von der Generation der Enkel wiederentdeckt werden können.
Ein Phänomen, das ganz aktuell an den Bauten der 1960er- und1970er-Jahre zu beobachten ist: Der Charme von Betonkassettendecken, abgerundeten Kunststoffeinbauten, aluminiumsichtigen Fensterrahmen und orange-braunen Farbkom-binationen wird derzeit in Ausstellungen, Publikationen, aber auch in Neubauten opulent gefeiert. Der Generation der IBA-Vertreter dürfte solch eine „Rückbesinnung“ auf die von ihnen verabscheute späte Nachkriegsmoderne freilich Schauder über den Rücken jagen.
Wandlung kontra Bestand
Hinzu kommt, dass sich Bauaufgaben und Anforderungenan Gebäude durch Investoren und Nutzer kontinuierlich verschieben – auch das in immer kürzeren Abständen. Mit Nutzungsanforderungen und technischen Ansprüchen verändern sich die gestalterischen Vorstellungen – auch wenn Architekten meinen, „zeitlos“ gebaut zu haben. Der Versuch, sich den Moden oder dem Zeitgeist zu entziehen, istbekanntlich ein müßiges Unterfangen, das nur den wenigsten gelingt.
Beim Blick auf die sich wandelnden architektonischenModen droht in Vergessenheit zu geraten, dass die mas-siven ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre undJahrzehnte erhebliche kulturelle Verschiebungen nach sichziehen. Denkmale sind mehr als nur aufgehübschte Reliktefür die städtebauliche Stimmungsaufhellung. Das gerät angesichts manch aufgeregter Schlossfassadendiskussion gelegentlich in Vergessenheit.
Es sind herausragende kulturelle Zeugnisse und damit aussagekräftige Dokumente überdie Bau- und Kulturgeschichte. Doch diese ganz unterschiedlichen Dokumente drohen in der Beschleunigung derZeiten unwiederbringlich zu verschwinden. Bedroht sind davon nicht nur die Bauten der erweiterten Nachkriegsmoderne. Der rasante Veränderungsdruck richtet sich genauso gegen historische Bahnhöfe, die aus der Nutzung gefallen sind, gegen leer stehende Sakralgebäude oder nichtmehr bewirtschaftete Bauernhöfe. Daher wird es immerdringlicher, weitaus früher und stets aufs Neue auf möglicherweise denkmalwerte Gebäude zu schauen.
Befreiung aus der Zeitgenossenschaft
Die Berliner IBA-Bauten erweisen sich somit als Bausteinein der komplexen Veränderung der Erhaltungsbedingungenfür Denkmale. Der Abriss der Ungers-Bauten kann aber denAnstoß dazu geben, sich der IBA vonseiten des Denkmal-schutzes rechtzeitig zu stellen – und zwar bevor die erste Sanierungswelle über die Häuser schwappt und ehe inner-städtische Verdichtungstendenzen zu weiteren Abbrüchenführen. Gewiss sind nicht alle IBA-Bauten denkmalwert. Doch die, die es sind, sollten auch als Denkmale behandeltwerden.
Dafür müssen überprüfbare Kriterien ausgebildetwerden. Möglich ist das nur durch ihre fundierte wissen-schaftliche Erforschung und Bewertung, auch im Vergleichmit verwandten Projekten wie der Bebauung der Saalgassesüdlich des Frankfurter Römers. Sie trägt in ihrem Bemü-hen um die Wiederbelebung städtischer Parzellenstrukturenmit zeitgenössischer Ausformung eine ganz ähnliche Hand-schrift wie zeitgleiche Berliner IBA-Bauten. Die Entwicklungam Lützowplatz zeigt allerdings, dass für die Bewertung und Unterschutzstellung der IBA-Bauten – ähnlich wie bei der späten Moderne der 1960er- und frühen 1970er-Jahre – wohl nicht mehr besonders viel Zeit bleiben wird. Sonst überholen die Abrissbagger die Geschichte.
Jürgen Tietz ist Kunsthistoriker und Journalist in Berlin.