Die Altstadt von Göttingen hatte den Krieg heil überstanden, doch ein Vierteljahrhundert später empfand man sie im Rathaus als hoffnungslos vorgestrig. Also holte Göttingen die ausgebliebenen Bombardements mit Baggern nach: Der Neue-Heimat-Konzern ersetzte die historische „Neustadt“ durch so anonyme wie kurzlebige Allerweltszeilen. Göttingens barocker Reitstall wich einem fensterlosen Kaufhaus-Klotz, der nach zwölf Jahren schon wieder leer stand. Gegenüber kam anstelle eines Fachwerkblocks eine Waschbeton-Burg, die längst ein Sanierungsfall ist. Und das Jugendstil-Stadtbad löste ein Neubau ab, der schon 1998 seinerseits abgerissen wurde. Öffentlicher Raum war nur Nutzraum; für Urbanität gab’s ja die Fußgängerzone. Und in den Neubauvierteln draußen entwarf man so etwas wie Stadtraum gleich gar nicht.
Das alles hat Göttingen bald bitter bereut; mühsam versucht es seit 30 Jahren, zu reparieren und zu restaurieren, was vor rund 40 Jahren in Klump ging. Zwei Beispiele dafür waren am Tag der Architektur zu besichtigen. Das große, zentrale Beispiel nennt sich „Quartier am Leinebogen“ und füllt die Lücke, die neben dem Ex-Hertie auf dem Ex-Stadtbadgrundstück klaffte. Ein Gebäudekomplex für Gewerbe und ein größtenteils bewohnter Komplex bilden einen Raum und wenden einander ihre Längsseiten zu. Da sie nicht ganz parallel stehen, bilden sie einen trapezförmigen öffentlichen Platz. Das Ganze liegt an der Schnittstelle zwischen dem grobschlächtigen Nachkriegs-Göttingen und einem Stück pittoresker Altstadt mit den Überresten einer 700-jährigen Mühle sowie dem vor einem Wehr verbreiterten Leinekanal.
Der Leinebogen beruht auf dem Siegerentwurf eines städtebaulichen Wettbewerbs des Büros generalPLAN GmbH planning + construction management aus Hannover, das dann auch den Hochbau leistete. Für das Büro führten Andreas Uffelmann und Claus Cajus Pruin am Tag der Architektur eine runde Hundertschaft von Göttingern durch ihr Karree, ein recht großes Interesse für die 120.000-Einwohner-Stadt. Das Publikum konnte besichtigen, wie die Schnittstellen-Aufgabe gelöst worden war: Die beiden Gebäude nehmen den großen Maßstab der Nachkriegsbauten auf, sind aber baulich ein gutes Stück feiner gegliedert als diese und werden innen viel kleinteiliger genutzt. Damit und mit ihrem Trapez-Platz vermitteln sie insgesamt zwischen zwei Göttinger Welten, statt einen neuen Kontrast zu setzen. Ein solcher Kontrast lehrt allein an der Nordseite des Wohnbaus das Gruseln: Der Neubau ragt neben einem zweistöckigen, lehmfarbenen Fachwerkhäuschen doppelt so hoch und mit seinem Rot fünfmal so schreiend auf, und dann besteht auch noch das Erdgeschoss aus nichts anderem als zwei quadratischen Tiefgaragen-Mäulern. Aber das ist zum Glück nur eine Neben-Perspektive; den neu gewonnenen Wege- und Platzraum zwischen den beiden Bauten beurteilte das Tag-der-Architektur-Publikum offenkundig freundlich.
Der zweite an diesem Tag präsentierte Platz liegt in vielerlei Hinsicht am Rand: in der ebenfalls um 1970 gebauten Sozialbau-Siedlung „Grone Nord“ in Göttingens billiger Gegend zwischen Autobahn und Eisenbahn. So etwas wie ein Zentrum fand man damals überflüssig; viel wichtiger schien ein zweigeschossiges Parkhaus zu sein. Auch das hielt keine 40 Jahre; dann wurde die obere Platte wegen Baufälligkeit gesperrt. Die Eigentümergesellschaft ließ sich vom Berliner Landschaftsarchitekten Fabian Lippert inspirieren, daraus den bisher fehlenden Quartiersplatz zu machen. Unten wird weiter geparkt. Auf dem Plateau aus Sportplatz-Tartan gibt es zwei Pergolen, ein paar Sportgeräte, Sitzgelegenheiten und auf dem Boden ein Muster aus großformatigen bunten Buchstaben, gestaltet von der Künstlerin Ina Geißler. Aus ihm kann man den Stadtteilnamen Grone, aber auch Begriffe wie Gerne, Gruen oder Norden herauslesen.
Auf diesem Stadtrand-Platz fanden sich zwar am Tag der Architektur nur wenige Besucher ein. Doch das ist halb so wild für Lippert: Sein Freiraum ist für den Alltag da; vor allem die Jüngeren im Quartier sind für das kantige Plateau dankbar. Auch dieser Platz zeugt von Göttingens Rückbesinnung auf Stadträume, die mehr sind als Verkehrsflächen oder Abstandsgrün – wiewohl die Stadt zu dem quasi-öffentlichen Projekt auf privatem Grund selbst nichts beitragen mochte. Aber Lippert zieht eine so schlichte wie positive Bilanz: „Ich bin sehr zufrieden. Was ich mir für diesen Platz gewünscht hatte, das klappt jetzt im Gebrauch tatsächlich.“
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: