Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Die Schmökerscheune“ im Deutschen Architektenblatt 02.2020 erschienen.
Berlin kriegt eine „Kulturscheune“ für moderne Kunst, Kressbronn hat schon eine – für Bücher. 2009 erwarb die Gemeinde einen leer stehenden Stadel, den letzten im Ort. Mit dem mächtigen Baukörper in Sichtweite des Rathauses wollte man ein Stück altes Ortsbild bewahren, das mehr und mehr abhandenzukommen droht. Die kleine Gemeinde unweit von Lindau am Bodensee ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen, Tourismus und Wohnungsbau sind inzwischen wichtiger als der Anbau von Hopfen und Obst.
2015 schrieb die Gemeinde einen beschränkten Architekturwettbewerb für die öffentliche Nutzung des Stadels aus, mit der Bücherei und einem Mehrzwecksaal als möglichem Programm. Das schließlich beauftragte drittplatzierte Büro von Steimle Architekten aus Stuttgart hatte eigentlich geplant, das massive Erdgeschoss des erst 1923 errichteten Gebäudes nur mit Beton-Fertigteilen zu ummanteln, um heutigen Standards zu genügen. Doch erwies sich die Substanz als so bröselig, dass man sich zum Abriss und Neubau des Gebäudes entschloss. Der Dachstuhl indes konnte demontiert, ertüchtigt und großenteils wiederverwendet werden. Im Zuge des Neuaufbaus wurde die Struktur verstärkt und um drei Joche verlängert.
Sockel aus Dämmbeton
Siebzig Zentimeter messen nun die Wände aus Dämmbeton im Sockelgeschoss. Hier liegen das Foyer und ein teilbarer Mehrzweckraum samt Nebenräumen. Breit lagernde Fenster und Türen öffnen sich zum Vorplatz und zum kleinen Park auf der Rückseite. Als eine Art Betontisch entwickelt sich die neue Struktur ziemlich massiv bis in die zweite Etage – überragt vom darum umso filigraneren offenen Dachstuhl, der auf den Traufseiten wie bisher weit vorspringt und sich übrigens komplett selbst trägt. Alt und Neu bleiben auf diese Weise tektonisch wie haptisch stets klar unterscheidbar.
Leider konnte die geplante Öffnung des Foyers nach oben, zur Bücherei, nicht umgesetzt werden, denn die räumliche Unabhängigkeit der zwei Funktionen war wichtiger. Eine Schiebetür verschließt nun den Aufgang zu den Büchern bei Bedarf.
Sichtlich viel Sorgfalt wurde auf die Schalung des Betons verwendet: Jedes Brett ist samt Maserung als Abdruck sichtbar, und sind die Türen geöffnet, verschwinden sie in eigens ausgesparten Nischen. Etwas mehr Raumhöhe hätte man sich im Erdgeschoss aber leisten sollen.
Als Einraum noch lesbar
Die bietet der Dachraum dann umso eindrücklicher: Wer die einläufige Betontreppe hinaufging, fühlte sich im Rohbau fast in eine Kirche versetzt. Auch wenn seither die kleinteiligen Einbauten für die Bücher hinzugekommen sind und noch eine weitere Zwischenebene aus Beton als Galerie anschließt, lässt sich der lange Einraum der ehemaligen Tenne mit der teils sichtbaren Holzbalkenstruktur noch gut erfassen. Büro und Ausleihe sowie Leseraum und Fluchttreppenhaus samt Lift bilden klare Blöcke, die sich dem „Zelt“ des Daches unterordnen.
Ganz in der Nähe leistete sich die Gemeinde vor ein paar Jahren eine große Festhalle, die nach Art der Vorarlberger Baukunst ganz in schmale Holzlatten gekleidet wurde. Dieses viel kopierte, hier ja auch naheliegende Attribut verfeinerter Ländlichkeit mieden die Architekten des Stadels gottlob, ebenso wie das ziemlich modische Geflecht, das der erste Preisträger (unter schnöder Tilgung des Dachüberstandes) über den Stadel werfen wollte. Doch eine zweite Fassadenschicht musste sein, schon als Sonnenschutz.
Zweite Schicht aus Brettern
Beim ersten Ortstermin war Architekt Thomas Steimle auf die Tenne gestiegen und zeigte sich fasziniert von den Lichtstrahlen, die die alte Stülpschalung durchließ. Das inspirierte ihn zum Schirm aus senkrechten Kanthölzern, der sich über dem Sockel um das ganze Gebäude zieht. In Abstimmung mit dem Bauphysiker und der Tageslichtplanung fand das Team eine Stellung und Dichte für diese Filterschicht, die einerseits homogen genug ist, um das Gebäude formal zusammenzuhalten, andererseits aber in einer Art Wellenbewegung abwechslungsreich genug ist, um stellenweise Durchblick und direkten Lichteinfall zu erlauben. Eine Gratwanderung, wie sich herausstellte, denn vor allem der voll verglaste Südgiebel lässt auf diese Weise etwas zu viel Solarstrahlung eindringen – sommerliche Überhitzung war die von den Nutzern beklagte Folge. Es lassen sich jedoch an vielen Stellen Fenster und Luken öffnen, und auch der Bauphysiker bemühte sich um Abhilfe: Eine erdsondengespeiste Lüftungsanlage sorgt nun für Zirkulation. Vor den Fenstern im Erdgeschoss sind die gleichen Lamellen beweglich montiert, um die Räume komplett abdunkeln zu können. Das war für die Leserschaft oben nicht erwünscht.
Ästhetisch fügen sich die derben, hellgrau lasierten Hölzer aus Weißtanne in ihrem ruhigen, geordneten Hin und Her gut ins Bild eines immer noch ländlichen Nutzbaus, der auf diese Weise nur Facetten seines verlockenden Inneren preisgibt. Einladend und sicher noch mehr bespielbar ist auch die Vorzone des Gebäudes unter der breiten Dachkrempe – ein typisches Detail in dieser regenreichen Gegend.
Alte Kontur und neue Textur verbinden sich so im Stadel zum erhofften „Ankerbauwerk“ inmitten des Wandels, der momentan gleich ums Eck ziemlich allerweltsmäßig weitergeht. 4,1 Millionen Euro brutto für diesen Identitätsstifter mit 860 Quadratmetern Nutzfläche erscheinen da angemessen – die Berliner Kulturscheune könnte 600 Millionen kosten.
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Preisverdächtig
Die Bibliothek Kressbronn erhielt 2019 den Deutschen Holzbaupreis in der Kategorie Bauen im Bestand und war unter den „Top 3“ des Nachhaltigkeitspreises der DGNB.
Unser Land neu denken
Sie wollen mehr gute Beispiele sehen oder auch mal den Finger in die Wunde legen? Über Potenziale und Herausforderungen ländlicher Räume wird am 31. März beim Kongress Archikon der Architektenkammer Baden-Württemberg diskutiert. Die Teilnahme kostet 175 Euro (145 Euro für AiP/SiP), Anmeldeschluss ist der 15. März.
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