DABonline | Deutsches Architektenblatt
Menü schließen

Mehr Inhalt

Services

DABonline | Deutsches Architektenblatt
Zurück Schwerpunkt: gereift

Bürgersinn und Blockadestimmung

Das mittelgroße Lübeck und das sehr große Berlin haben überraschend ähnliche Altstadt-Potenziale. Die eine Stadt nutzt sie begeistert, die andere wehrt sich dagegen.

30.10.201411 Min. 1 Kommentar schreiben
Wirklichkeit in Lübeck: Kleinteilig und giebelständig, doch auch zeitgenössisch soll das künftige Gründungsviertel wirken.
Wirklichkeit in Lübeck: Kleinteilig und giebelständig, doch auch zeitgenössisch soll das künftige Gründungsviertel wirken.

Text: Roland Stimpel

Vorn eine gigantische, von Archäologen durchgepflügte Grube, wo mal ein Stück mittelalterliche Stadt war, wo Bomben fielen und die Nachkriegszeit die Gegend neu prägte. Links und rechts Wohn- und Behördenhäuser meist jüngeren Alters, hinten je eine Marienkirche: So weit gleichen sich das Lübecker Gründungsviertel und das Berliner Marienviertel. Man könnte vermuten, dass ähnliche Vergangenheiten und eine ähnliche Gegenwart auch zu ähnlichen Planungs-Antworten für die Zukunft führen. Aber das Gegenteil trifft zu: Lübeck ist drauf und dran, ein Musterstück für zeitgenössische Stadtentwicklung auf historischem Grund zu schaffen. Berlin dagegen tut sich schwer, in dem Areal überhaupt eine Chance zu sehen. Soweit Städtisch-Amtliches überhaupt erkennbar ist, gilt es allein der Frage, wie man hier Entwicklungen möglichst verhindern kann.

Beide Städte bieten in der Gegenüberstellung ein Lehrstück für den Einfluss auf die Stadtplanung, den örtliche Mentalität und Bürgersinn, Konsens- oder Blockadewille, Verwaltungsstrukturen und privates Engagement ausüben. All das klafft in Lübeck und Berlin so weit auseinander, wie sich Historie und Städtebau rund um die Brachen ähneln. Ein Äpfel- und Birnen-Vergleich? In mancher Hinsicht ja, so grundverschieden, wie beide Städte sind. Aber spannend ist ja gerade, unter welchen Bedingungen in Lübeck eine saftige urbane Birne zu gedeihen beginnt, während in Berlin bisher jeder Ansatz zur Fruchtbildung schon im Knospenstadium erfriert.

Fantasie in Berlin: „Esplanade“ hieß eine von sehr vielen Ideen, denen eins gemeinsam war: Bloß keine Häuser und Sträßchen in Berlins früherer Altstadt! Den Ursprung des Begriffs Esplanade erklärt Wikipedia: „eine eingeebnete, als Schussfeld dienende freie Fläche“.
Fantasie in Berlin: „Esplanade“ hieß eine von sehr vielen Ideen, denen eins gemeinsam war: Bloß keine Häuser und Sträßchen in Berlins früherer Altstadt! Den Ursprung des Begriffs Esplanade erklärt Wikipedia: „eine eingeebnete, als Schussfeld dienende freie Fläche“.

Das Gründungsviertel zwischen der wichtigsten Stadtkirche und der Trave ist die Keimzelle des mittelalterlichen Lübeck. Das Marienviertel zwischen der Spree und dem heutigen Alexanderplatz ist (oder war) einer der frühesten Teile Berlins; die Marienkirche ist das älteste noch als solches genutzte Gotteshaus in der Stadt. Schräg gegenüber vom Lübecker Areal wohnten die echten Manns und die literarischen Buddenbrooks. Im Berliner Quartier legten Lessing, Mendelssohn und Nicolai Grundsteine der deutschen Aufklärung in Literatur, Philosophie und Publizistik. Beide Gebiete wurden im Krieg weitgehend zerstört.

Danach agierte Lübeck rasch: Wo rund 40 Einzelhäuser auf kleinen Parzellen gestanden hatten, baute die Stadt zwei Berufsschulen sowie ringsum Kamm- und Zeilenbauten zum Wohnen, alles in braver Nachkriegsmoderne und außen umfassender verklinkert, als die Häuser früher je gewesen waren. „Vorstadt statt Altstadt“ hieß das unausgesprochene Motto.

Berlin, in diesem Quartier nunmehr sozialistisch, wollte es gewaltig: Ein 150 Meter hohes Parteihochhaus sollte her, in formal simplifizierter Stalin-Mächtigkeit nach Moskauer Vorbild – oder genauer: Moskauer Order. Das Projekt war von gestern, bevor ein Stein bewegt wurde. In den 1960er-Jahren kamen dann der Fernsehturm sowie eine freigeräumte Staatsachse zum späteren Palast der Republik. An ihren Seiten blieben als antiquarisches Dekor das Rathaus und die Marienkirche stehen, die von Zentralismus und Atheismus zu Bauten von gestern degradiert waren. Der alte Stadtgrundriss verschwand weit gründlicher als in Lübeck. Heute wissen nur ein paar Berliner mit stadtarchäologischem Spezial-Know-how, wo einmal Bischofstraße und Kleine Poststraße, Hoher Steinweg und Heiligegeiststraße waren.

In Lübeck wie Berlin blickte man nach dem Krieg nach vorn statt zurück, sah sich als schnelllebig und nur bedingt als traditionsverhaftet. Doch ebenso rasch verschwanden die Grundlagen des Städtebaus: im Osten Deutschlands der Staat mit der Staatsachse, in der Hansestadt im Norden die Berufsschulen, die aus der Stadt zogen und für deren rasch verschlissene Bauten niemand eine sinnvolle Verwendung sah. Lübeck riss die Schulen ab, Berlin jenseits der Spree den Republikpalast.

In Lübeck geschah das später als in Berlin, aber dann ging es für Städtebau-Verhältnisse ziemlich rasch. 2011 rief das Planungsamt unter Bausenator Franz-Peter Boden Vertreter diverser Altstadt-Interessen zu einer Expertenrunde zusammen; im Februar 2012 tagte dann im Haus der Handwerkskammer die „Gründungswerkstatt“ öffentlich an zwölf Tischen, diskutierte und planspielte zu Nutzungen, Wohnen, Verkehr, Dichte, Höhe, Bebauung und mehr. Zwar klaffen auch in dieser Stadt die Ideen und Lebenswelten oft weit auseinander – um öffentlichen und privaten Raum diskutieren und konkurrieren kleine Kaufleute und die Kinder eingewanderter Türken, Handelskonzerne und Sozialdemokratinnen, Denkmalschützer und Autofahrer. Aber es gibt einen Konsens: Die Altstadt ist geografischer, mentaler und wirtschaftlicher Mittelpunkt. Sie ist Deutschlands größtes Flächendenkmal mit Weltkulturerbe-Status; der Wiederaufbau ihrer sieben Kirchtürme war nicht einmal in der Nachkriegszeit umstritten. Wo seit 800 Jahren Stadt ist, käme niemand auf die Idee, zum Beispiel nach dem Abriss von Schulen einfach mal gar nichts zu bauen.

1 Gedanke zu „Bürgersinn und Blockadestimmung

  1. Der Autor will uns glauben machen, die Stadtplanung für Lübeck sollte nachahmenswert für Berlin sein. Meines Wissens wäre es erstmals in der Geschichte Berlins, dass es sich an Lübeck orientiert oder sich mit einer anderen deutschen Mittelstadt vergleicht. Lübeck als ehemalige Hansestadt ist eine Bürger- und Kaufmannsstadt und verbindet ihr Selbstverständnis u.U. heute noch mit dieser Zeit.
    Berlin hat als Residenzstadt, Industriemetropole, Regierungssitz mehrerer Regierungen nach Ende der Monarchie – und dabei auch als Brennpunkt deutsch / deutscher Geschichte – Bedeutung erlangt. Die mittelalterlichen Stadtrelikte waren irgendwann relativ bedeutungslos, was sich u.a. durch die Orientierung des barocken Hohenzollernschlosses nach Westen – also mit dem Rücken zum Teil der älteren Stadtgeschichte – vermittelt. Wenn das jemand der heutigen Planer und Historiker für kritikwürdig hält, kann er / sie darüber Bücher schreiben, Vorträge halten, Ausstellungen organisieren u.ä. um diese Zeiten ins heutige Bewusstsein zu transportieren. Keinesfalls muss Geschichte dadurch bewahrt werden, dass man Gebäude, Stadtentwicklungen – nachdem wichtige Weltereignisse eine Zäsur geschaffen haben – als Fake wiederenstehen lässt und den Berlinern, den Hauptstädtern, das am Beispiel Lübecks versucht schmackhaft zu machen.
    Nebenbei: meist stammen die leidenschaftlichsten Verfechter dieser Ideen aus deutschen Mittel- und Kleinstädten.

    Jutta Kriewitz, Architektin und Bauhistorikerin. Berlin

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Sie wollen schon gehen?

Bleiben Sie informiert mit dem DABnewsletter und lesen Sie alle zwei Wochen das Wichtigste aus Architektur, Bautechnik und Baurecht.

Wir nutzen die von Ihnen angegebenen Daten sowie Ihre E-Mail Adresse, um Ihnen die von Ihnen ausgewählten Newsletter zuzusenden. Dies setzt Ihre Einwilligung voraus, die wir über eine Bestätigungs-E-Mail noch einmal abfragen. Sie können den Bezug des Newsletters jederzeit unter dem Abmeldelink im Newsletter kostenfrei abbestellen. Nähere Angaben zum Umgang mit Ihren personenbezogenen Daten und zu Ihren Rechten finden Sie hier.