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Den Tiger reiten

Blumen, Blumen, Blumen? Die diesjährige Bundesgartenschau in Heilbronn stellt erstmals auch ein Stück Stadt aus – und ringt dem alten Format so neue Qualitäten für die Stadtentwicklung ab

30.04.201910 Min. Kommentar schreiben

Von Christoph Gunßer

Im „Ländle“ ist alles etwas kleiner als anderswo, auch die Flüsse. Nennenswerte Häfen gibt es darum kaum, in den einst grünen Auen wird bis heute produziert. So ging auch die postindustrielle Aneignung alter Hafenflächen, die in den letzten Jahrzehnten so manche spektakuläre Waterfront hervorbrachte, am deutschen Südwesten vorbei.

Heilbronn hingegen hatte am Neckar lange einen wichtigen Flößerhafen, und auch heute noch werden Massengüter wie Salz aus den nahen Salinen und sogar Container umgeschlagen. Die stadtnahen historischen Hafenbecken indes waren längst zugeschüttet und zum Lagerplatz für alles Mögliche verkommen. Fast hätte man hier, gleich hinterm Bahnhof, das Möbelhaus mit dem Elch oder den Platzhirsch Audi ein Logistikzentrum bauen lassen. Doch weitblickend setzte die Stadtpolitik auf Wandel: Ein Stück Stadt sollte entstehen, die Neckarvorstadt, heute Neckarbogen genannt.

Mit Millionen aus dem Fördertopf „Stadtumbau West“ wurde das rund 32 Hektar große Areal erworben und aufgeräumt, wurden 600.000 Kubikmeter teilweise kontaminiertes Erdreich abgegraben. Unter anderem kamen Fliegerbomben, ein altes Schiff und ein Güterwaggon zum Vorschein. Dieses Flächenrecycling am eigentlichen, alten Flussufer ließ indes die aktiven Hafen- und Industrieanlagen am westlich gelegenen Neckarkanal unberührt. Mischsilos, Kais und Verkehrstrassen lärmen also neben dem künftigen Vorzeigegebiet munter weiter. Konsequenz: Die ohnehin nötige Bodendeponie wurde ein mächtiger Westwall, dessen schnurgerader Verlauf die zwei Welten Heilbronns – hier kleinteilige Stadt vor Weinbergkulisse, dort Industrie 1.0 – krass trennt. Im Zeichen des Immissionsschutzes gelang es sogar ziemlich geräuschlos, eine Bundesstraße aus dem Gebiet herauszuverlegen.

Innere Stadterweiterung

Vor diesem Hintergrund fand 2009 ein städtebaulicher Wettbewerb statt, 2011 ein landschaftsplanerischer für die Bundesgartenschau, die schon seit 2003 avisiert worden war. Die Konzepte von Steidle Architekten, München, und SINAI aus Berlin (mit dem Büro Machleidt) wurden weitgehend umgesetzt. Kern ist ein kompaktes Baugebiet aus zumeist sechsstöckigen Blöcken, das sich als dreieckige Figur auf der Ostseite, der Stadtseite, in den Neckarbogen einfügt. Von diesem zweigen zwei den ehemaligen Hafenbecken nachempfundene Seen ab, die den Mittelpunkt des kleinen Viertels bilden.

Als kritische Masse für ein lebendiges Quartier wurde eine Bewohnerschaft von 3.500 Menschen und rund 1.000 Arbeitsplätzen angenommen. Noch zu einer Zeit allgemein stagnierender Wohnungsmärkte angedacht, plante die Stadt aber eine schrittweise Realisierung. Zur BUGA stehen erst drei der Baufelder, in denen rund 800 Leute wohnen. Der Rest soll in zwei Bauabschnitten durch Aufsiedelung der Landschaftsbänder entstehen, die für die temporären Gärten der BUGA angelegt wurden.

Das alte Format zittert

Teile des Landschaftskonzepts sind nämlich ein „Inzwischenland“ und eine „Sommerinsel“. Über Teilen der unvermeidlichen Messe wölbt sich ein Schirm aus 1.700 Pappeln, die bereits vor fünf Jahren gepflanzt wurden, eine Art Kurzumtriebsplantage, die danach in den Häcksler wandert.

Auf dem Landrücken zwischen den Seen ließen die schon von anderen Gartenschauen bekannten Land-Artisten von LOMA aus Kassel die Bagger eine parametrische Hügelfolge formen, die während der BUGA bespielt wird – unter anderem stehen hier die innovativen, Roboter-gefertigten Bionik-Pavillons der Uni Stuttgart. Danach wird alles wieder abgeräumt für weitere Stadthäuser. So ein Festival ist nicht gerade nachhaltig, doch sicher ein Highlight für die Erlebnisgesellschaft, der Gartenschauen auch gerecht werden müssen. Planungsleiter Oliver Toellner sieht im „Erlebnisraum Grün“ weiter den Markenkern von Gartenschauen. Das Einzugsgebiet der Schau sei eher wenig urban, weshalb man auf die angestammten Hauptzielgruppen Rücksicht nehmen müsse. Aber: „Wir wollen einen breiteren Raum in der Gesellschaft abbilden“, fügt die Leiterin der Stadtausstellung, die Architektin Barbara Brakenhoff, hinzu. Denn, sagt sie, „das alte Format zittert“.

Neuzugänge: Die drei Baufelder wurden in 23 Parzellen geteilt, vergeben wurde nach Konzept zum Festpreis. Kein Architekt durfte zwei benachbarte Häuser bauen.

Mischung moderieren

Bleiben soll darum die „Stadtausstellung“, die eine „Stadt der Zukunft“ präsentiert. Damit die drei Baublöcke urban geraten, überließ man nichts dem Zufall. Konzeptvergabe hieß hier das Zauberwort, ein Novum in Heilbronn: Die drei in 23 Tranchen parzellierten Baufelder schrieb die Stadt für Investoren zum Festpreis aus, und eine Kommission unter Reiner Nagel, dem Vorsitzenden der Bundesstiftung Baukultur, puzzelte aus 85 Bewerbungen die Blocklandschaft zusammen – in zehn Sitzungen und fünfzig Baufeldgesprächen in knapp einem Jahr, nach einem mehrjährigen Vorlauf an Workshops und Bürgerbeteiligung.

Städtebaulich hergeleitet vom typischen Heilbronner Block, der eher offen und gemischt genutzt angelegt ist, entstand so ein Patchwork aus sehr passablen, großteils nobel zurückhaltenden Geschossbauten unter einheitlicher Traufkante, mit vielen Dachterrassen und gemeinsam gestalteten Höfen, die öffentlich zugänglich bleiben sollen. Mag das Quartier manchem auch zu bunt sein und die lokale Architektenschaft etwas grummeln, weil es keinen regulären Wettbewerb gab – das intensiv moderierte Ensemble entspricht in seiner Vielfalt durchaus dem liberalen Geist im Ländle.

So bietet die „Ausstellung“ stilistisch allerlei: Lochfassaden neben Mehrschichtigem, viel Holz, sogar Holzschindeln, aber auch etwas Streamline Modern, Ziegel, Blech und Putz. Kein Architekt durfte zwei Häuser nebeneinander bauen. Das stadtseitige Entree bilden ein zehngeschossiges Holzhaus von Kaden+Lager (Baustellenbericht hier) und eine Jugendherberge. Es gibt zwei Baugruppenhäuser, ein Generationenhaus, ein Inklusionsprojekt samt Café und Waschsalon, ein Boarding House, Studentenwohnheime und ein städtisches Kinderhaus, insgesamt eine knappe Mehrheit an Mietwohnungen, zu fast 40 Prozent öffentlich gefördert. Die Eigentumswohnungen tendierten hingegen zum Luxus, hier kostete der Quadratmeter zwischen 4.000 und über 6.000 Euro.

Das Ganze wurde innerhalb weniger Jahre straff realisiert, wobei nicht alle Investoren mithalten konnten – es gab mehrere Wechsel in den Bauteams. Und Abstriche beim Aspekt „Zukunft“, der sich vor allem noch in der sozialen Mischung zeigt und in neuen, wenn auch nicht experimentellen Bau- und Haustechnik-Konzepten.

So blieb eine andere Mobilität Papier: In der stark an der Auto-Industrie hängenden Stadt war der Verzicht auf teure Tiefgaragen im Gemeinderat nicht durchzusetzen. Mutig war einmal geplant, umnutzbare oder demontable Stadtteilgaragen am Rande des Viertels zu errichten und so den Anteil des Autoverkehrs von 60 auf 30 Prozent zu reduzieren (was im Vorbild Freiburg-Vauban funktioniert hat). „Wie wollen Sie die Leute zum Umsteigen bewegen, wenn das eigene Auto im Keller steht?“, fragt Thomas Bergunde, Sprecher der Lokalen Agenda 21 in Heilbronn, der bei der Bürgerbeteiligung zum Neckarbogen mitgewirkt hat.

Doch Heilbronn ist (noch) nicht Freiburg. „Wir wollten keine Planung von oben aufsetzen“, sagt Barbara Brakenhoff. Immerhin gelang es, den Stellplatzschlüssel im Quartier von 1,5 auf 1,0 zu senken, ein autonom fahrender Shuttle bedient während der Schau das Gebiet, und das Verkehrskonzept für das Großereignis ist insgesamt stadtverträglich.

Lohnender Umweg: Am Südeingang der Gartenschau liegt das Science Center „Experimenta“, dessen spektakulären Erweiterungsbau Sauerbruch Hutton nach 2013 gewonnenem Wettbewerb Ende März fertigstellten.

Der für die Vernetzung mit Bahnhof und Innenstadt sehr wichtige Steg über die Gleise wurde aber als zu teuer vertagt. Der nun nötige Umweg führt am kristallinen Neubau des Science Centers „Experimenta“ vorbei (Architektur: Sauerbruch Hutton), der komplett von der in der Region ansässigen Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) finanziert wird. Die Erfahrung lehrt, dass unter dem Termin- und Kostendruck eines Groß-Events am Ende meist die Sachzwänge und „hilfreiche“ Sponsoren die Oberhand gewinnen. Offen bleibt indes die Frage, ob der 174 Millionen Euro teure Neckarbogen samt Park für 18 Millionen Euro ohne die BUGA überhaupt – und wenn ja, so rasch – zustande gekommen wäre (die BUGA insgesamt kostet offiziell 44,5 Mio.). Außer den Bundesmitteln für Stadtumbau und Planungsprozess konnte die Stadt immerhin rund 56 Millionen Euro für den Neckarbogen beim Land locker machen.

Vorläufig ist das neue Stück Stadt (inklusive der ersten Bewohner) eingezäunt, von den erwarteten 2,2 Millionen Besuchern erhofft man sich 34,5 Millionen Euro Eintrittsgelder. Der Stadt Heilbronn bliebe dann ein Eigenanteil von nur zehn Millionen Euro. Zusammen mit dem Erlös aus dem Verkauf der Grundstücke (81.800 Quadratmeter Nettobauland, was übrigens fast der historischen Kernstadt entspricht) wäre diese innere Stadterweiterung auch wirtschaftlich durchaus vernünftig – und soll auf die Reststadt ausstrahlen: Eine „Stadt der kurzen Wege“ ist Programm, ein anspruchsvoller „Masterplan Innenstadt“ beschlossen. Gemessen an den isolierten Musterhaus-Schauen vergangener Gartenschauen, zuletzt auf der igs in Hamburg, geht der Neckarbogen also als nachhaltig durch – sofern auch bei den weiteren Bauabschnitten auf urbane Qualitäten geachtet wird.

Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht: Erst unlängst beschloss der Gemeinderat, für die Aufsiedlung die Baukommission mit externen Planern beizubehalten und weiter auf Qualitätswettbewerbe zu setzen, für die der bisherige Gestaltungsleitfaden gelten soll. Auch Baugemeinschaften will man weiter fördern. „Der Neckarbogen darf nicht zum Investorenprojekt zur Renditemaximierung verkommen“, fordert Thomas Bergunde von der Agenda-Gruppe und drängt weiter auf ein wegweisendes Mobilitäts- und Energiekonzept.

Endlich zu Fuß am Fluss

Bislang orientiert sich der kompakte Stadtteil nicht ausgeprägt aufs Wasser hin. Erst im dritten Bauabschnitt will man mit den Gebäuden näher an die Seen heranrücken. Das nahe Neckarufer, früher eine unzugängliche steile Böschung neben der Bundesstraße, gliedern heute Sitzstufen aus alten Kaimauern unter gerettetem Baumbestand. Richtig im beziehungsweise über dem Fluss liegt aber die Biotop-Zone jenseits der neuen eleganten Neckarbrücke. Hier wurde ein breiter, 600 Meter langer hölzerner Ufersteg im Schilf angelegt. Am Freizeitsee gibt es einen respektablen Strand, beschirmt von riesigen Kiefern, wo vor ein paar Jahren noch täglich 30.000 Autos fuhren. Auch der bis zu 15 Meter hohe grüne „Westwall“ (offiziell heißt er Hafenberg) trägt viele Bäume und lädt hinter den Gabionen zum Klettern ein.

An das raue Areal von früher erinnern der gefundene Schiffsrumpf, eine Peitschenlampe und etwas Asphalt der Bundesstraße, Schuppen, Schleusen und ein Kran am Neckar. Angenehm schlicht und unaufgeregt gelang die Gestaltung von Park und Mobiliar – für Projektleiter Peter Hausdorf von SINAI Landschaftsarchitekten ein „Kraftakt“. Umso stolzer ist er, dass es „keine Stiefmütterchenparade“ geworden ist.

Aus der engen, an vielen Stellen immer noch autogerecht-nachkriegsgrauen Stadt an den grünen, belebten Fluss gehen zu können, ist ein großer Gewinn für Heilbronn, das aufwändige Flächenrecycling für eine Gartenschau beachtlich: Man muss den herumziehenden alten „Tiger“ dieser Events offenbar nur zu reiten wissen, um daraus lokalen Nutzen zu ziehen.

In vier Jahren schon wird die BUGA im neckarabwärts gelegenen Mannheim stattfinden. Das Thema wird, eher abstrakt, ein regionaler Grünzug sein. Dass die Schau dort 2013 in einem Bürgerentscheid mit nur 50,7 Prozent abgesegnet wurde, andernorts schon Bewerbungen abgelehnt wurden, zeigt, wie wacklig der Event inzwischen unterwegs ist – und wie abhängig von einer prägnanten, weitblickenden Planung. In Heilbronn äußerten sich daher vor Jahren 86 Prozent der Befragten positiv zur BUGA.

„Es ist fast schon unheimlich, wie viel Heilbronn bisher richtig macht“, schreibt die Stuttgarter Zeitung und hofft sogar, dass der Elan auf die Landeshauptstadt abfärben wird: Nicht nur ist der Neckar dort noch total verbaut, die Quartiersplanung um den Bahnhof eher trist – mit der IBA steht bald auch ein „Event“ ins Haus, der daran etwas ändern könnte.

 

INFO:

Die Projekte der Stadtausstellung und die beteiligten Planer finden Sie hier

 

Mehr Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Sorgsam

 

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