Von Ute Maasberg
Beim 100-jährigen Bauhausjubiläum 2019 erfährt die Geschichte der modernen Architektur große Aufmerksamkeit. Nicht nur, dass zwei neue, eigens für den Sammlungsbestand des Bauhauses entwickelte Ausstellungsgebäude in Weimar und in Dessau eröffnen. Neben der zeitgenössischen Museumsarchitektur rücken vor allem die ikonischen Bauten der 1920er-Jahre aus dem Umfeld der Avantgarde in den Vordergrund. Nur wenige sind allerdings unmittelbar aus der Architekturlehre des Bauhauses abzuleiten. Von daher ist es ganz richtig, dass die von Architekturhistorikern wie Werner Durth, Journalisten und Kulturvermittlern gemeinsam mit Touristikern für das Jubiläum entwickelte Grand Tour (www.grandtourdermoderne.de) als eine der Moderne bezeichnet ist. Diese weite Route durch die Entwicklung der modernen Architekturgeschichte wird durch einen Reiseplaner weiter vertieft mit Tourenvorschlägen durch die einzelnen Bundesländer, Städte und Regionen. In Brandenburg ist beispielsweise in Bernau die ADGB-Schule zu besichtigen, ein Gebäude, das der zweite Bauhausdirektor Hannes Meyer gemeinsam mit seinen Schülern entwickelt hat, aber auch andere Bauten wie der Einsteinturm in Potsdam und die Hutfabrik in Luckenwalde von Erich Mendelsohn sind Teil des Programms. In Baden-Württemberg ist es die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, in Nordrhein-Westfalen sind es die Bauten Mies van der Rohes in Krefeld. Allerdings sind seltsamerweise Bundesländer wie Schleswig-Holstein oder Bayern in diesem Reiseplaner ausgespart, so als hätten die Moderne und das Bauhaus hier gar keinen Einzug gehalten.
Doch die zum Bauhausjubiläum zusammengestellte Route offenbart, dass die Moderne keineswegs ein Phänomen der Großstädte war und auch keines, das nur dem Bauhaus zuzuschreiben ist. Auch fernab von Weimar, Dessau und Berlin in den ländlichen Regionen hat das Neue Bauen in den Zwanzigern seine Spuren hinterlassen, und diese sind vielen Architekturinteressierten bislang eher unbekannt.
Experimentelles Bauen in Celle
Das als Residenz- und Fachwerkstadt bekannte Heidestädtchen Celle ist einer dieser Orte, in denen sich die Architektur der Moderne von der Reformzeit an eindrucksvoll vor Augen führen lässt. Protagonist der baulichen Avantgarde in Celle war der Architekt Otto Haesler. Um die Jahrhundertwende studierte er an der Baugewerkeschule in Augsburg und war drei Jahre als Mitarbeiter von Ludwig Bernoully in Frankfurt am Main tätig. Über einen Wettbewerb kam er zum Umbau des Kaufhauses Friedberg nach Celle. Mit diesem Projekt baute er sich ab 1906 sein Büro in der Celler Altstadt auf. Es folgten Villenbauten nach Vorbild des englischen Landhauses, Schulen im Landkreis sowie Neu- und Umbauten von Geschäftshäusern. Während des Ersten Weltkriegs kam der erste Auftrag für eine Kleinwohnhaussiedlung und ab 1925 zunehmend Siedlungsbau, wie die Siedlung Italienischer Garten (1923–25), die Siedlung Georgsgarten (1925/26) und die Siedlung Blumläger Feld (1930/31). 1928 wurde das Büro Haesler mit dem Bau der Altstädter Schule international bekannt. Die sogenannte „Glasschule“ wurde ein Vorzeigebau für den Bildungsanspruch der Weimarer Republik.
Das Rektorenwohnhaus auf dem Gelände der „Glasschule“ baute Otto Haesler 1927/28. Es zählt zu den wenigen Einzelbauten, die der Architekt während der Weimarer Republik realisiert hat. 2005/06 wurde die Fassade saniert und dabei das Farbkonzept wiederhergestellt. Die Treppenhausfenster wurden rekonstruiert, die anderen Fenster waren im Original erhalten. Das Innere ist stark verändert; heute wird das Haus für Büros genutzt. Adresse: Sägemühlenstr. 7a, Celle
Die Verwendung neuer Materialien und Konstruktionsweisen sowie die Entwicklung funktionalisierter Bauabläufe und experimenteller modularer Bauverfahren zeichneten alle Projekte des Büros Haesler ab 1925 aus. Die niederländische Architektur, auch das wird in Celle sichtbar, war das große Vorbild, weniger das Bauhaus. Am Bauhaus wurde Architektur ja erst ab 1927 durch den zweiten Bauhausdirektor, den Schweizer Architekten Hannes Meyer, und seinen Nachfolger Ludwig Mies van der Rohe gelehrt, theoretisch und auch praktisch. Allerdings profitierten insbesondere die im „Ring“ zusammengeschlossenen Architekten von der jungen, auf die Bauaufgaben der Zeit hin ausgebildeten Architektengeneration am Bauhaus. Otto Haesler holte sich ab 1929 gleich drei diplomierte Bauhäusler in sein Team: Hermann Bunzel, Walter Tralau und eine Pionierin der Avantgarde, die Bauhausarchitektin Katt Both. Kein deutsches Architekturbüro hatte so viel Input aus dem Bauhaus zu bieten.
Mit diesem jungen Team konnte das Büro Haesler seine Wirksamkeit über den Celler Horizont hinaus ausweiten und war rasch mit Wettbewerbsbeiträgen und Bauprojekten in Berlin, Karlsruhe, Hamburg, Hannover, München, Kassel und Braunschweig präsent. Die der Moderne gegenüber aufgeschlossene Kestnergesellschaft in Hannover widmete Otto Haesler als erstem Architekten 1932 eine Einzelausstellung. Eine derartige Aufmerksamkeit hatte es bislang noch nicht für einen Architekten der Moderne gegeben.
Jahrzehnte der Brüche
Neues Bauen, neues Leben, neues Wohnen: Das war die Haltung eines aufgeschlossenen Bürgertums in den Zwanzigern. Doch 1933 fiel mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Aufbruch der Moderne in sich zusammen. Stattdessen entbrannten die bereits von langer Hand angezettelten Streitereien um das Steil- oder Flachdach, um regionale Bauformen, um Fassaden und Formalismen, auch um eine klare Haltung zur Kultur der Moderne und zur demokratischen Gesellschaft. Als Vertreter des Neuen Bauens muss Haesler 1933 sein Büro schließen. Er geht nach Eutin, ist im Zweiten Weltkrieg als stellvertretender Leiter des Stadtbauamtes in Lodz tätig und plant den Wiederaufbau des Hafens in Sewastopol. Ab 1946 wird er in der SBZ mit dem Wiederaufbau seiner Siedlung in Rathenow betraut, 1950 zum Professor für sozialen Wohnungsbau ernannt. Er erhält das Angebot, die Hochschule für Baukunst in Weimar zu leiten.
1962 stirbt Otto Haesler in Wilhelmshorst. Es hat lange gedauert, bis die Gesellschaft sich wechselvollen Biografien wie der seinen, den politischen Verflechtungen und dem mitunter auch zwiespältigen Erbe der Moderne öffnen konnte – und noch längst ist nicht alles erzählt, entdeckt oder bekannt. Das 100-jährige Bauhausjubiläum bietet diese Chance zum Entdecken. Städte wie Celle werden sich auf ihrer Suche nach dem Besonderen und Authentischen plötzlich ihres Architekturerbes aus den Zwanzigern bewusst. Bis in die 1980er-Jahre war das Interesse an diesem baulichen Erbe gering. Die Siedlungsbauten Haeslers galten bis dahin als „Schlichtbauten“; die Meinung, dass sie „bloß für eine kurze Dauer gedacht“ waren – quasi ohne bauliche Qualität –, hielt sich lange.
Mit den Arbeiten von Monika Markgraf und Carsten Hettwer, den Dissertationen von Angela Schumacher und Simone Oelker sowie den Aktivitäten des Celler Künstlers Dietrich Klatt erhielt das bauliche Erbe in den 1990er-Jahren zumindest außerhalb der Stadtgrenzen eine wachsende Aufmerksamkeit. Als 2002 der Teilabriss der Siedlung Blumläger Feld anstand, gab es in Fachkreisen und überregionalen Zeitungen entrüstete Kommentare, und auch in der Stadt bündelten sich mit der „otto haesler initiative“ und der „otto haesler stiftung“ erste stadtinterne Positionen, mit denen die Bedeutung der Architektur der Zwanziger eine Aufwertung erhielt. Seit 2010 gibt es das Kuratorium der otto haesler stiftung.
Mittlerweile ist die „Bauhaus-Architektur“ sogar Teil des Stadtmarketings für die Kleinstadt am Rande der Lüneburger Heide. Schade nur, dass bei den Erläuterungen zum „Geburtsort des Neuen Bauens“ und zum Schaffen des Architekten Haesler spannende Aspekte wie die Arbeit der Architektin Katt Both unbeachtet bleiben. Die Rolle der neuen Frau in der Architektur scheint sich hier noch nicht herumgesprochen zu haben.
Auch über die Weiterentwicklung der Moderne nach 1945, die Arbeit des Bauhäuslers Hermann Bunzel und seiner Büromitarbeiter Arthur Dinkhäuser, Wolfgang Thielemann und Georg Wilhelm Schulze wird bislang in Celle nichts vermittelt.
Ein lückenhaftes Bild
Das betrifft auch andere Routen im Reiseplaner der Grand Tour. Bislang verborgene Orte und Projekte sowie unbekannte Persönlichkeiten bekommen kein Gesicht (eine große Ausnahme wie das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Das Bauhaus in Oldenburg“ des Landesmuseums Oldenburg bestätigt hier die Regel). Vielleicht hilft die informative und gut gestaltete Website www.Bauhaus100.de mit ihren zahlreichen Kommentaren, Bildern und Beiträgen, das Bild der Moderne zu vervollständigen und auch der zeitgenössischen Architektur Raum zu geben. Vor allem ist es Zeit, nach 100 Jahren das große Erbe wertzuschätzen und es als Teil der deutschen Kultur und Gesellschaft zu begreifen.
Welche Bedeutung diese Akzeptanz hat, wird in Celle deutlich, wo derzeit im nördlichen Restteil der Siedlung Blumläger Feld insgesamt 52 Wohneinheiten vor einer Sanierung stehen. Nicht nur in der Celler Lokalpresse, sondern auch in der Süddeutschen Zeitung wurde bereits ein möglicher Abriss in den Raum gestellt. Immer wieder werden die hohen Kosten einer denkmalgerechten Sanierung genannt – der kulturelle Wert hingegen bleibt unerwähnt. Zumindest werden die hoffentlich zahlreichen Besucher dieser Stadt sich ein eigenes Bild machen können und mit ihrer Präsenz zeigen, wie kostbar und geschätzt moderne Architektur sein kann.
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