Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Angst essen Stadt auf?“ im Deutschen Architektenblatt 01.2021 erschienen.
Von Doris Kleilein
Mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 verließen die, die es sich leisten konnten, die Stadt Paris und zogen in Ferienhäuser oder zurück zu den Eltern in die Provinz. Inmitten des Aufbruchs machten erste Immobilienagenturen wie „Paris, je te quitte“ („Paris, ich verlasse dich“) aus der Angst ein Geschäftsmodell und priesen die Vorzüge von Aix-en-Provence oder Calais, wo ganze Häuser zum Preis einer Pariser Zweizimmerwohnung zu haben sind. Ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen Großstädten. In New York sollen bis zu 400.000 Einwohner der Stadt den Rücken gekehrt haben. Und auch wenn es nicht überall so dramatisch war wie in den großen Metropolen: Die Nachfrage nach Immobilien in Dörfern und Kleinstädten steigt, das Landleben wird für eine wachsende Gruppe von Städtern attraktiv.
Kurzes Phanömen oder dauerhafter Wandel?
Ein vorübergehendes Krisenphänomen oder Vorbote eines grundlegenden Wandels? Ist die Provinz – wie der ländliche Raum noch vor einigen Jahren hieß – vielleicht gar nicht so schlecht wie ihr Ruf? Noch liegen keine Zahlen vor, die belegen können, ob die Stadtflucht anhält, noch ist weltweit und auch in Deutschland der Zuzug in die Schwarmstädte die vorherrschende Bewegungsrichtung. Doch erste Studien weisen darauf hin, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Ereignisse des zurückliegenden Jahres angestoßen wurden, die Stadtflucht verstetigen könnten – allen voran die digitale Transformation der Arbeitswelt, die ein Landleben ohne Pendeln in die Ballungsräume schlagartig für viele möglich macht.
Im brandenburgischen Letschin sitzt die dortige Wirtschaftsfördergesellschaft in einer ehemaligen Schule. (Klicken für mehr Bilder)
Von der Workation zum Co-Working
Die Studie „Coworking im ländlichen Raum“, die die Bertelsmann Stiftung am 20. November 2020 vorgestellt hat, konstatiert, „dass es im Bereich der Gewerbeimmobilien zu einer massiven Verlagerung kommen könnte. Denn Betriebe werden einen geringeren Platzbedarf haben, wenn sich die Präsenzkultur ändert.“ Sie sagt weiter voraus, dass klassische Gewerbeimmobilien zwar nicht an Bedeutung verlieren würden, „sie werden aber in anderer Form und Größe benötigt werden. Kleinere Gewerbeeinheiten führen dann dazu, dass auch die Grundidee von Gewerbegebieten zu hinterfragen ist. Ebenso wie bei der gesamten Städtebaupolitik wird hier eine Anpassung an den Bedarf und damit den Markt stattfinden müssen.“
Angestellte arbeiten plötzlich wie Freiberufler
Die mobile Arbeit mit Laptop, Smartphone und Kaffeetasse, bislang ein Merkmal der Freischaffenden, wurde durch die Corona-Maßnahmen auch zum Alltag von Angestellten, die in ortlosen Teams arbeiten und das im Prinzip überall tun könnten. Neue Arbeitsorte auf dem Land profitieren von dieser Entwicklung: Die Zahl ländlicher Co-Working-Spaces in Deutschland wächst bereits seit einigen Jahren. Auf dem Land sind diese Angebote ein junges Phänomen, noch im Jahr 2017 gab es in Deutschland nur eine Handvoll. Konnte man sich bisher kaum vorstellen, dass Co-Working-Räume auf Dörfern ohne Strukturförderung und ohne Städter auf „Workation“ (Arbeitsferien) überleben, könnten kollektive, flexibel buchbare Arbeits- und Besprechungsräume bald zum Wirtschaftsfaktor und zum sozialen Treffpunkt kleiner Gemeinden werden. Die Bertelsmann-Studie sieht sie gar als „Brutkästen der Zukunft des ländlichen Raums“, wo Handwerker auf Hightech-Spezialisten und Verwaltungsmitarbeiter treffen.
Urbanes Leben und Arbeite zieht aufs Land
Entstanden aus Cafés in Innenstädten wie dem St. Oberholz in Berlin oder dem betahaus in Hamburg, entwickelte sich aus der Idee des Co-Workings ein globales Geschäftsmodell mit flexiblen Büroflächen in den Wirtschaftszentren der Welt. Die Bandbreite reicht von genossenschaftlichen Modellen wie dem Ammersee Denkerhaus über Unternehmensausgründungen bis hin zu kommunalen Einrichtungen wie dem Gettwork in der Nähe von Kiel. Viele Einrichtungen sind im Bestand untergebracht und könnten in Zukunft dazu beitragen, Leerstand zu beseitigen und Ortsmitten zu stärken, auch in Ergänzung klassischer Treffpunkte wie Bibliotheken, Sportvereinsheimen oder kirchlichen Gemeindehäusern.
Das Land war immer beliebt
Natürlich beschwören viele Zukunftsstudien Bilderbuchszenarien: Ländliche Gemeinden, die über Jahrzehnte geschrumpft sind, wachsen wieder, leer stehende Höfe und Häuser werden saniert, Infrastrukturen können erhalten oder neu geschaffen werden. Die Realität sieht oft anders aus: Die Immobilienpreise steigen und Gemeinden weisen neues Bauland für Einfamilienhäuser aus – eine Planungspolitik, von der man sich aus ökologischen Gründen längst verabschieden wollte. Doch nach wie vor schaffen 84 Prozent der deutschen Gemeinden neues Bauland, obwohl es in einem Drittel von ihnen Leerstand in der Ortsmitte gibt (Baukulturbericht 2016/17). Nach wie vor will ein Großteil derer, die in Dörfer und Kleinstädte ziehen (oder dort bleiben), im Einfamilienhaus mit Garten wohnen. Umso mehr lohnt sich der Blick auf eine gegenläufige Entwicklung, die durch die Corona-Krise Zulauf bekommt: das gemeinschaftliche Wohnen und Arbeiten auf dem Land.
Rund um ein ehemaliges Sägewerk entsteht in Wiesenburg/Mark direkt am Bahnhof auf circa 40.000 Quadratmetern ein „Ko-Dorf“ (Planung: agmm Architekten + Stadtplaner). (Klicken für mehr Bilder)
Neue Gemeinschaftsmodelle in Brandeburg
Waren Baugruppen und neue Genossenschaften bislang vor allem ein urbanes Phänomen, verzeichnen jetzt auch Projekte im ländlichen Raum, die zum Teil jahrelang um Mitglieder werben mussten, eine gestiegene Nachfrage: Besichtigungen sind gut besucht, Wartelisten für Wohnungen werden geschlossen. Die Studie „Urbane Dörfer. Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat im Jahr 2019, kurz vor Ausbruch der Krise, 18 gemeinschaftlich orientierte Wohnprojekte in Ostdeutschland untersucht, von genossenschaftlichen Projekten wie dem Uferwerk mit 160 Bewohnern sowie Car-Sharing, Reparaturwerkstatt und Lebensmittelkooperative in einem ehemaligen Schaltgerätewerk in Werder (Havel) über kleine Gemeinschaften mit fünf bis zehn Mitgliedern in sanierten Gutshöfen bis hin zu Kunstprojekten in instand gesetzten Plattenbauten wie das Projekt Libken in der Uckermark.
Projekte werden größer
Auch größere Neubauvorhaben sind dabei, wie das KoDorf in Wiesenburg/Mark, wo auf dem Gelände eines ehemaligen Sägewerks permanenter Wohnraum für 250 Menschen nach dem Vorbild von Feriendörfern neu entstehen soll, mit verschiedenen Haustypen, Gästezimmern, Co-Working-Räumen und Gemeinschaftsräumen. Die Autoren der Studie stellen fest, dass die Projekte vorwiegend in Brandenburg mit Anbindung an Berlin gegründet werden und dass es eine neue, meist akademisch gebildete Klientel ist, die naturnah und in Gemeinschaft leben will und bereit ist, das Umfeld mitzugestalten.
Keine Einsamkeit, sondern Gleichgesinnte werden gesucht
Wichtig ist nicht nur die digitale, sondern auch die soziale Anbindung. Aus Sicht der Städter stellt es sich so dar, dass man eben nicht allein in die Einsamkeit ziehen möchte, sondern Gleichgesinnte sucht. Und aus Sicht der Alteingesessenen? Von den urbanen Ideen, so die Studie, kann im Idealfall das ganze Dorf profitieren, wenn die Bürgermeister Leerstand anpreisen und alle an einen Tisch holen. Und nicht nur in Brandenburg wird mit neuen Gemeinschaftsmodellen auf dem Land experimentiert. Die IBA Thüringen etwa unterstützt Entwicklungen abseits von Ballungsräumen wie im Schwarzatal oder auf Schloss Bedheim und fördert übergreifende Initiativen zur Beseitigung von Leerstand und zum Selbstbau.
Ab ins Kloster
Auch städtische Wohnungsbaugenossenschaften in Westdeutschland beginnen mit Landprojekten, wie die Wogeno München, die ein ehemaliges Dominikanerinnenkloster am Kochelsee südlich von München zum Cohaus Schlehdorf umbaut. Die Ordensschwestern sind in einen Neubau gezogen, während 50 Zimmer zu kleinen Wohneinheiten mit Bad und Anbindung an Gemeinschaftseinrichtungen umgebaut werden, zum permanenten und temporären Wohnen. Noch sind es einzelne Projekte, doch allein in Deutschland gibt es etwa 2.000 Klöster, deren Ordensgemeinschaften drastisch schrumpfen und überaltern, sodass viele Liegenschaften zum Verkauf stehen.
Die Liste der Projekte ließe sich fortführen – die Transformation, die sie einläuten, liegt vor allem darin, dass sie Gegensätze zwischen Stadt und Land aufweichen und neue Lebensmodelle zulassen. Noch prophezeien alle Statistiken die Landflucht, doch mit jedem Projekt, das Alternativen zum Einfamilienhaus aufzeigt, wird „Die ländliche Verheißung“ größer – wie ein im Übrigen nicht nur während des Lockdowns lesenswertes Buch zur Dorfentwicklung heißt.
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Übersicht zu Co-Working auf dem Land
Die von der Bertelsmann Stiftung im November 2020 herausgegebene Studie „Coworking im ländlichen Raum. Menschen, Modelle, Trends“ gibt einen guten Überblick über bundesweit laufende Projekte und kategorisiert die verschiedenen Zielgruppen und Arbeitsorte. Auch wird über die Varianten der Gründung von Co-Working-Spaces informiert. Das 74-seitige PDF (inklusive mehr Informationen zur Karte) kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
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