Im Velodrom entstand eins von sechs Berliner Impfzentren, die ... (Klicken für mehr Bilder)
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Pandemische Pop-ups“ im Deutschen Architektenblatt 10.2021 erschienen. Er wird ergänzt von Episode 14 des BAK-Podcasts mit Architekt Edzard Schultz von Heinle Wischer und Partner.
Von Louis Back
Wir werden das meiste schneller vergessen, als wir glauben. Die Frage ist nicht ob, nur wann. Natürlich hat die Corona-Pandemie unsere Lebenswelt und unser Gefühl für Nähe gründlich umgekrempelt, doch was da so alles in mehreren Wellen aufpoppte, war zu flüchtig, um ein bleibendes bauliches Gedächtnis zu hinterlassen. Pop in and pop out – oder doch nicht?
Den Anfang machten Behelfskliniken. Der Reflex, Erkrankte in Lazaretten zu isolieren, hat bisher noch jeden Seuchenausbruch begleitet. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde er zum Haupttreiber für die Anfänge des modernen Krankenhauswesens. Diesmal ging China voran: 16 Notfallkliniken entstanden in so atemberaubender Geschwindigkeit, dass die „zwei Wochen von Wuhan“ zum geflügelten Wort und zur Messlatte des Bauens gegen die Pandemie wurden. Und die Welt folgte. In New York schlug das Central Park Field Hospital seine Zelte in der Stadt auf, São Paulo tat Gleiches im Fußballstadion, Madrid, Stockholm und andere Städte ließen Messehallen umbauen, London ein Ausstellungs- und Kongresszentrum und Teheran ein Shopping-Center. Einzig Moskau entschied sich für eine völlig neue Anlage 70 Kilometer vor der Stadt.
Messehallen ideal für Corona-Klinik
Große Hallen schienen für eine Umnutzung prädestiniert. Sie standen leer: Alle Events waren ja abgesagt. Sie waren massentauglich, logistisch gut angebunden, Anreise- und Evakuierungskonzepte lagen bereits in der Schublade und ihr offener Grundriss bot Dispositionsfreiheit für die Kliniklayouts. Im Luftraum der Hallen ließ sich zudem die technische Installation nachrüsten. Auch für Brandschutz und Entrauchung waren die hohen Decken ideal.
„Hotels, die anfangs ja ebenfalls als Ort für Behelfskliniken im Gespräch waren, fehlten durch ihre determinierten Einzelräume und begrenzten Geschosshöhen viele dieser Vorzüge“, sagt Edzard Schultz, Partner im Büro Heinle, Wischer und Partner, das auf dem Berliner Messegelände das „Corona Behandlungszentrum Jafféstraße“ realisiert hat. Halle 26 nahm als Patientenbereich 23 Cluster mit zusammen fast 500 Betten auf. Abgehängte Traversen führten Strom, Sauerstoff und Druckluft zu jedem Bett. Über Brücken und Schleusen war ein externer Dreigeschosser aus Containern mit der Halle verbunden. In ihm lagen alle dienenden Räume. Vier Wochen lang wurde gebaut, dann stand die Notklinik. Gebraucht wurde sie nie.
In Deutschland entstand nur eine weitere Notklinik in Hannover – ebenfalls in Messehallen, dort jedoch ohne Architekturbüro. Pläne für andere Standorte wurden mangels Bedarf nicht verwirklicht. Auch ein Initiativvorschlag des Münchner Büros Nickl & Partner für ein „Hospital Bavaria“ aus Containern auf der Theresienwiese verhallte. „Wir hatten damit auf einen Ideenaufruf der Politik reagiert, um zu zeigen, dass modulares Bauen durchaus ein Weg ist, rasch eine qualifizierte Klinik zu realisieren“, erinnert sich Christine Nickl-Weller.
Architektur mit Messebau
So wurde die erste Welle temporärer Coronabauten zu der, die am schnellsten verebbte. Und doch waren die Kliniken wegweisend. Zum einen etablierten sie die nach oben offene Kabine als typisches Raumerlebnis der Pandemie, und zum anderen markierten sie den Einfall des Messebaus in die Gesundheitsarchitektur. Von den Materialien, die für die Berliner Notklinik verbaut wurden, waren fast zwei Drittel gemietet. Damit zementierten die Kliniken den Ansatz, auf die Dynamik des Geschehens mit Pop-ups zu reagieren. In der Pandemie schlug die Stunde von Funktion und Logistik (und nicht unbedingt die des baulichen Entwurfs und der guten Form). Messebau- und Eventfirmen, THW und Bundeswehr waren gefragter als Gestaltende und Designs.
Fluide Corona-Architektur
Die Raumstrukturen, die entstanden, kann man in doppelter Hinsicht fluid nennen. Als temporäre und eilige Bauten machten sie den Fluss der Zeit in bisher nicht gekanntem Maß zur Kategorie des Bauens. Zugleich waren sie allesamt auf das stauungsfreie Durchschleusen möglichst großer Menschenmassen ausgelegt. Stellwand und Absperrband waren die Helden eines Baugeschehens, das mit unverkennbaren Anklängen an Gewässersysteme Parcours anlegte: mit Schleusen, Filtern und Kanälen, aber auch mit Abschnitten, an denen der Strom sich weiten und zur Ruhe kommen konnte. Die riesigen, seriell, doch auf Abstand bestuhlten Bereiche in Impfzentren, in denen frisch Geimpfte 15 Minuten absitzen, um ungewünschte Reaktionen abzuwarten, gehören zu den eindrücklichsten Raumbildern dieser Pandemie.
Über 400 Impfzentren
Mehr als 400 solcher Impfzentren entstanden in Deutschland. Das größte, in den Hamburger Messehallen, wurde für bis zu 7.000 Impfungen am Tag ausgelegt. Das hieß 7.000-mal anreisen, eingewiesen werden, den Aufklärungsfilm schauen, geimpft werden, dann 15 Minuten warten, den Nachweis abholen und den Heimweg antreten. Auch für diese fließenden Impfparcours waren die offenen Flächen gut angebundener Hallen die erste Wahl.
Wo – etwa auf dem Land – solche Hallen fehlten, fanden sich andere Wege: Das Kreisimpfzentrum Emmendingen zum Beispiel kam in einem ehemaligen Aldi-Markt unter, während das bayerische Planegg sich sein Impfzentrum aus Containern stapeln ließ. Und die großen Lagerhallen einer Firma für Gabelstapler und andere Schwerlastmaschinen bescherten dem beschaulichen Rot am See in der Region Hohenlohe eins der zentralen Impfzentren des Landes Baden-Württemberg: eine Anlaufstelle für Zigtausende in einem 5.500-Seelen-Ort.
Die Ära der Ausrufezeichen
Schon mit den ersten Testzentren, die meist als Drive-ins organisiert waren, erst recht jedoch mit den Impfzentren und den kleinen, omnipräsenten Teststellen der 3G-Phase rückten Orientierung und Anfahrtsbeschilderung in den Fokus. Überall im öffentlichen Raum setzten Wegweiser, Leitsysteme und Kanalufer (sprich: Absperrungen und Trennwände) Ausrufezeichen, die „Hier lang!“ oder „Hier nicht lang!“ brüllten – je lauter, desto besser. Der Folien- und Beschilderungsbranche dürfte die Pandemie ansehnliche Umsätze beschert haben.
Schließlich galt es, wo immer Menschen zusammenkamen, Wege und Regeln bekannt zu machen: an den Click-&-Collect-Fenstern des Einzelhandels, an den eingehausten Supermarktkassen, vor den improvisierten Testtischen für Besuchende in den Foyers der Altenheime oder an den neuen Separees der Gastronomie mit ihren Schankgärten hinter Europaletten. Vieles davon wird glücklicherweise wieder verschwinden oder ist es schon.
Krankenhausbau braucht Flexibilität
Folgenlos wird die Pandemie für die Architektur trotzdem nicht bleiben. Die Pop-ups der Pandemie haben eine Sicht aufs Bauen gestärkt, die wegführt von der tektonischen, steinernen, festgefügten Architektur und hin zu schlanken, ephemeren Strukturen, die mehr Dynamik zulassen.
Im Krankenhausbau dürfte das eine überfällige Erneuerung beschleunigen, deren Eckpunkte sich schon vorher abzeichneten. „Es geht darum, die Klinik als elastisches System zu verstehen, das auf unkomplizierten modularen Strukturen aufbaut, in denen sich schnell unterschiedliche Szenarien abbilden lassen“, sagt Edzard Schultz und nennt alte Industrielofts als Analogie im Gewerbebau. „Die funktionieren noch heute bestens, weil sie diese Elastizität mitbringen.“ Christine Nickl-Weller sieht das ähnlich: „Wir brauchen zukunftsoffene Raumprogramme. Die müssen wir in hoch-, mittel- oder niedriginstallierten Modulen denken – und nicht in Bruchteilen von Quadratmetern. Ich glaube, wir werden sehr schnell erleben, dass sich solche flexiblen Typologien etablieren.“
Krankenhausbau braucht Autarkie
Eine zweite Lehre aus der Pandemie sind separierbare Units, die innerhalb eines Klinikkomplexes autark arbeiten können. Deren Wert haben Krankenhäuser wie das Potsdamer Ernst-von-Bergmann-Klinikum, das früh in zwei Bestandsgebäuden auf seinem Campus ein solches isoliertes Krankenhaus verwirklichte, oder das Uniklinikum Düsseldorf, das sich eigens einen Modul-Neubau für Coronapatienten errichten ließ, schon in der Pandemie unterstrichen. „Dass ein Krankenhaus separate Zugänge und abtrennbare Einheiten braucht, ist eine Erkenntnis, die sich endgültig durchgesetzt hat“, bestätigt Nickl-Weller.
Konventionen sprengen
Vielleicht, so hofft Edzard Schultz, könnten die Coronaerfahrungen am Ende sogar eine Tendenz einfangen, die die Reaktionsgeschwindigkeit schlechthin hemmt: „Wenn das Unvorhergesehene eintritt, braucht es weniger Gremienentscheidungen und mehr Mut, zu sagen: So machen wir’s! Ich glaube, da gibt es heute im ganzen Wirtschaftsleben einen Hang zur übertriebenen Absicherung und Verantwortungssplittung. Das geht nicht, wenn wir schnell sein wollen. Wenn die Pandemie am Ende auch ihr Gutes haben soll, müssen wir uns schon die Mühe machen, in jeder Hinsicht darüber nachzudenken, welche Konventionen man sprengen könnte.“
Hören Sie außerdem Episode 14 des BAK-Podcasts mit Architekt Edzard Schultz von Heinle Wischer und Partner. Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Gesund.
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