Interview: Roland Stimpel
Ihr Haus R128, der von Ihnen bewohnte Glaswürfel, ist jetzt bald zehn Jahre alt …
Ja, es wird schon langsam langweilig …
… aber es ist Zeit für ein Resümee. War es ein Unikat ohne Folgen oder hat es die Welt vorangebracht?
Ich denke, es war extrem einflussreich. Das liegt einmal an der ästhetischen Innovation: Zum ersten Mal gelang Wohnen in der dreidimensionalen Transparenz, der diametrale Blick durch ein ganzes Wohnhaus wurde möglich. Darüber hinaus entstand erstmals ein Gebäude nach dem Triple-Zero-Prinzip: null Energieverbrauch, null Emissionen, null Rückstände beim Umbau, Abbau und Recycling.
Hängen die ästhetiscchen und die technische Seite untrennbar zusammen oder geht das eine ohne das andere?
Für mich persönlich sind sie untrennbar verbunden. Für Menschen, die einen größeren Anteil an massiven Wänden und uneinsehbaren Bereiche wollen, baue ich auch weniger radikal. Das finde ich völlig in Ordnung. Ich selbst bin ein Nestbewohner, der den weiten Blick benötigt. Nestbewohner und Höhlenbewohner sind beide gleichwertig wichtig. Meine Erfahrung ist, dass auch diejenigen Bauherrn den weiten Blick und das tiefe Atmen, auch der Seele, extrem schätzen lernen, die von tradierten Wohnformen herkommen und zuerst eher „viele schützende Wände“ haben möchten. Ein Ordinarius für Psychotherapie hat einmal gesagt, meine Häuser seien Antidepressiva.
Hat sich die Technik seit dem Bau weiterentwickelt?
Lediglich in der Energieversorgung und der Gebäudeelektronik. Bei R128 heizen wir einen großen Wassertank solar auf, in dem wir die Wärme speichern. Als ich R128 geplant habe, war Geothermie noch etwas häufig Suspektes, etwas schwarze Magie, die Technik wurde noch nicht von allen beherrscht. Heute bauen wir alle unsere Häuser damit. Ich plane jedes Jahr ein Einfamilienhaus. Die neueren sind nicht nur Nullenergie-, sondern sogar Energieplushäuser.
Was sagen Prototypen wie das R128 den Chinesen, die nicht Einfamilienhäuser, sondern Städte für Millionen bauen müssen?
Es ist ein großer Beispielgeber. Nehmen Sie nur den Aspekt des Recyclings und der Materialminimalität. Das R128 wiegt nur 15 Prozent eines konventionellen, gleich großen Hauses. Das ist ein immer wichtigerer Aspekt im Zeitalter der Rohstoffknappheiten, die sogar schon den Kies für den Beton betreffen. Und nehmen Sie den Zement – der weltweite CO2-Ausstoß bei seiner Produktion ist in etwa so groß wie der des gesamten Luftverkehrs. Aus China kommen Studenten und Gastwissenschaftler zu uns, die unter anderem auch die Erkenntnis mit nach Hause nehmen, dass ein 200 Meter hohes Haus in etwa 150 000 Tonnen wiegt, wenn man es konventionell gestaltet, aber nur 90 000 Tonnen wiegen kann, wenn man es mit unseren Technologien baut.
Es gibt auch eine Schule des nachhaltigen Bauens, die einen ganz anderen Ansatz verfolgt: Wir sollten nicht nach vorn blicken, sondern uns an den Häusern unserer Altvorderen mit ihren energetisch und wohnklimatisch günstigen Steinwänden und relativ kleinen Fenstern orientieren.
Auch ich blicke häufig zurück, das kennzeichnet mein tägliches Arbeiten als Wissenschaftler wie als Architekt. Wenn eine Gestaltung der gebauten Umwelt auf tradierte Gestaltungsformen und Materialien zurückgreift, bin ich sofort dabei, wenn sie meine vier Prämissen berücksichtigt: Behutsamkeit, Sorgfalt, Nachhaltigkeit und ästhetische Qualität. Wir müssen aber überlegen, ob wir etwa für eine Steinfassade Tausende von Tonnen Material aus brasilianischen oder chinesischen Steinbrüchen um die halbe Welt fahren sollten und wie wir so etwas energetisch bewerten.
Ansonsten bewerten Sie beide Ansätze gleich?
Die Probleme mit dem Rohstoffverbrauch und mit dem Schutt bei Umbaut en und Abrissen werden wir mit den tradierten Bauweisen nicht in den Griff bekommen. Ein herkömmliches deutsches Einfamilienhaus neuerer Bauart hat in seiner Außenwand etwa 15 bis 25 verschiedene Baustoffe, die alle untrennbar miteinander verbunden sind. Das ist ein ernsthaftes Recyclingproblem. Ansonsten bin ich völlig offen bei der Frage der Gestaltung, solange die genannten vier Prämissen erfüllt sind. Generell sehe ich bei den erwähnten Bauweisen eher die Passivhaustechnik. Der Aktivhaustechnik aber wird die Zukunft gehören.
Wie lange sollen Häuser halten?
Da wir die Zukunft nicht kennen: Lasst uns so bauen, dass unsere Häuser jederzeit schadlos und mit Anstand von der Erde verschwinden oder aber auch 1000 Jahre bestehen können. Das Stichwort heißt ephemeres, also nicht für die Ewigkeit gedachtes Bauen. Es geht mir nicht darum, dass die Häuser morgen unbedingt verschwinden müssen. Sie sollen nur problemlos wieder von der Erde verschwinden können. Wir können doch heute nicht so tun, als wüssten wir ganz genau, was morgen benötigt wird.
Wir reden die ganze Zeit von Neubau, aber der ist in Mitteleuropa marginal. Inwieweit lassen sich Ihre Bauprinzipien auf den riesigen Bestand übertragen?
Das ist sehr schwierig. Vor allem bei denkmalgeschützten Häusern haben wir ein ernsthaftes Problem. Wir können sie ja nicht mit einer dicken Wärmedämmung einpacken, sondern müssen sie als massive Energieverbraucher akzeptieren und zum Beispiel an Partnerschaftsmodelle denken. Mein Hochschulinstitut ist in dem berühmten Zelt von Frei Otto angesiedelt. Dies verbraucht exorbitant viel Energie. Nun planen wir gerade ein zweites Institutsgebäude als Plusenergiehaus. Es soll das Zelt gleich mitversorgen, sodass wir in der Summe eine Null haben. Es geht um Partnerschaftsmodelle – das Junge versorgt das Alte.
Und die vielen Denkmale und Nichtdenkmale ohne Plusenergienachbarn?
Für sie müssen wir Technologien entwickeln, um die notwendige Wärmedämmung ohne 25 Zentimeter dicke zusätzliche Aufträge an der Außenfassade zu erzielen, welche das Erscheinungsbild häufig zerstören. Am einfachsten beginnt man bei den Fenstern. Aber auch in der Wandaußendämmung gibt es große Chancen durch Vakuum-Isolationspaneele, mit denen wir hohe Dämmqualitäten bei geringem Außenwandauftrag bekommen. Eine der größten Chancen überhaupt ist die Elektronisierung des Hausbetriebs. Heizung, Kühlung, Lüftung, Licht und anderes werden in ihrer Funktionsweise optimiert, können sich selbst abschalten und werden zum Beispiel via Handheld wieder hochgefahren, wenn man von der Arbeit kommt.
Sie sind auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, der DGNB. Gegen sie werden Vorwürfe laut – Stichwort Zertifizierungsmonopol.
Das Gerede vom Monopol ist blanker Unfug. Die deutschen Bauschaffenden, einschließlich meiner Person, haben über Jahrzehnte verschlafen, über sich verschärfende Rohstoff-, Abfall-, Energie- und Klimafragen wirklich kritisch nachzudenken und durchgreifende Antworten hierfür zu entwickeln. Vor etwa drei Jahren sagten mir mehrere meiner Bauherren, sie wollten die Gebäude, die wir in Deutschland für sie planten, gern nach dem amerikanischen LEED-System zertifizieren.
Wir haben uns mit LEED und anderen Zertifizierungssystemen auseinandergesetzt und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie löblich sind, aber wissenschaftlich nicht gut. Also haben wir beschlossen, etwas Gutes zu machen und es mit Fachleuten aus der Praxis zu entwickeln. Daraus ist dann das deutsche System, das Gütesiegel für Nachhaltiges Bauen, geworden. Alle wissenschaftlich seriösen Bewertungen verschiedener Zertifizierungssysteme sagen, unser System sei das beste auf dem Globus. Natürlich haben diejenigen, die sich engagieren, und zwar ehrenamtlich und in Tausenden von Stunden, natürlich haben diejenigen, die anfangen zu arbeiten und etwas schaffen, es dann eben auch gemacht! Die schon immer am Spielfeldrand stehenden Untätigen aus unserer Branche klagen jetzt, es sei ein Monopol entstanden. Was soll ich dazu sagen?
Haben Sie nicht eins?
Nein. Erstens ist die Anwendung unseres Systems freiwillig. Zweitens können Sie zwischen Systemen mehrerer Länder wählen. Drittens ist die DGNB ein eingetragener Verein, eine Non-Profit-Organisation mit völlig transparenter Struktur und Buchführung. Also keine Firma, kein gewinnorientiertes Etwas. Jeder, der will, kann bei uns mitwirken, auch ohne Mitgliedschaft. Der Monopolvorwurf kommt vor allem von denjenigen, die ein Problem damit haben, dass die DGNB etwas ehrenamtlich und als Non-Profit-Organisation geschaffen hat, was sie jetzt, nachdem das System nun vorliegt, gerne kostenlos für sich abgreifen und anschließend selbst bewirtschaften wollen.
Aber entsteht nicht eine enorme Abhängigkeit bei denen, die sich zertifizieren lassen, und bei denen, auf deren Zertifizierungsarbeit Sie die Hand haben?
Niemand muss sich nach unserem System zertifizieren lassen. Aber wenn alle nach unserem Gütesiegel drängen, wenn neuerdings in Österreich, Bulgarien und China erste Häuser von dortigen Gesellschaften nach unserem System zertifiziert werden, dann geschieht es dort wegen der Qualität unseres Systems.
Und die eigentliche Zertifizierungsarbeit machen nicht wir, sondern die sogenannten Auditoren. Das sind Architekten und Ingenieure vor Ort. Die DGNB entwickelt in Abstimmung mit den wesentlichen, am Bauschaffen beteiligten Kreisen lediglich die Bewertungsgrundlagen, die Kriteriensteckbriefe und die Inhalte der Auditorenausbildung und sichert die Qualität. Das ist der kleinste Part am gesamten Prozess.
Aber haben Sie nicht ein Monopol in der Ausbildung und Prüfung der Auditoren?
Es gibt kein Ausbildungsmonopol. Das Gegenteil ist der Fall: Wir machen zurzeit lediglich die ersten Kurse. Die Ausbildung machen zukünftig gar nicht wir als DGNB, sondern das sollten die Kammern, Hochschulinstitute und andere Institutionen vor Ort tun. Wir definieren den inhaltlichen Rahmen der Ausbildung, um sicherzustellen, dass jeder Auditor in Deutschland ein vergleichbares Basiswissen und die gleiche Kompetenz besitzt. Mehr nicht.
Es gibt Klagen, dass Sie von denen, die ausbilden dürfen, zunächst viel Geld verlangen.
Das ist nicht richtig. Die DGNB macht die gesamte Hintergrundorganisation, von den Anmeldeformalitäten über
die Überprüfung der Erfüllung der Teilnahmevoraussetzungen bis hin zur Koordination der Prüfung. Sie entwickelt die Handbücher, die der Ausbildung zugrunde liegen, und schreibt sie fort. Dafür bezahlen die ausbildenden Institutionen einen Deckungsbeitrag an die DGNB. Deren Angemessenheit ist transparent einsichtig und nachvollziehbar.
Architekten haben die Sorge, es werde ihnen zusätzliche, unangemessen honorierte Arbeit aufgedrückt.
Unsere bisherige Erfahrung ist, dass die Bauherren gern für diese Mehrleistung bezahlen, zumal sie ein planungsbegleitendes Instrument ist und die Bauherren damit schon ab dem Beginn der Planung sehen können, wie man beispielsweise im Betrieb auf lange Sicht Kosten einsparen kann, ohne hierdurch die architektonische Qualität zu vermasseln. Für Architekten ergeben sich neue Verdienstchancen. Nach amerikanischen Erfahrungen mit dem LEED geht es um ein Mehr an Planungskosten – nicht Baukosten – von durchschnittlich fünf bis sieben Prozent. Davon profitieren Architekten und Ingenieure, das sind zusätzliche Honorare, das ist zusätzliche Beschäftigung.
Wachsen die Haftungsrisiken?
Der Planer bekommt Geld für diese Leistung, also muss er auch eine Haftung für sein Tun übernehmen. Vom Prinzip her sehe ich hier ethisch kein Problem. Klar ist: Wir müssen, am besten zusammen mit Kammern und vielleicht dem Gesetzgeber, Hinweise erarbeiten, wo und in welcher Höhe man diese Haftung übernehmen sollte und wo man sie ausschließen muss. Ich sehe aber generell nicht so hohe Risiken wie manche anderen. Es gibt doch jeweils einen Vertrag zwischen Planer und Bauherrschaft und darin eine Beschreibung des Leistungsumfangs und der Haftung.
Ärger hatten Sie im Sommer auch mit der Wohnungswirtschaft, die Ihnen Imperialismus vorhielt.
Schade, denn inhaltlich waren diese Befürchtungen Unfug. Nunmehr gibt es eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit der Bundesregierung und der Wohnungswirtschaft. Ich hoffe, dass der Common Sense hier alsbald erreicht wird. Es ist nie Ziel der DGNB gewesen, etwas zu fordern, was anderen unlösbare Probleme bereitet. Es geht immer um einen gesellschaftlichen Konsens. Wir wollen auf seiner Basis etwas bewirken, das wir vor nachfolgenden Generationen verantworten können.