Interview: Nils Hille
Wer ist schuld daran, dass Kirchenumnutzung überhaupt zum Thema werden musste?
Die Frage, wer „schuld“ ist, ist die falsche Kategorie, aber sie entsteht, wenn Journalisten lieber über angebliche katastrophale Lagen schreiben als über das regelmäßige, ordentliche Tun. Zu den Fakten: Unsere 17 000 Kirchengemeinden haben 21 000 evangelische Kirchen in 36 000 Kommunen mit heute rund 25,5 Millionen Gemeindemitgliedern. Diese Zahl ist erheblich zurückgegangen, vor allem in den östlichen Bundesländern.
Wenn Sie die Zahlen einmal ins Verhältnis setzen, kommen auf ein Kirchengebäude rund 1000 Gemeindemitglieder – im Durchschnitt. In Niedersachsen oder Schleswig-Holstein sind es 2 000 bis 4 000 Gemeindemitglieder, in den östlichen Bundesländern nur zwischen 200 und 500. Dort stehen 40 Prozent der Kirchen. So gibt es ein Ungleichgewicht zwischen der Nutzung und der Möglichkeit, die Kirchengebäude zu erhalten.
Was machen Sie in den Orten, aus denen die Menschen mehr und mehr wegwandern?
Wir geben zwei Antworten. Die erste und wichtigste: Die Kirche soll im Dorf bleiben. Solange es in einem Ort Menschen gibt, werden die Kirchen auch gebraucht. Die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher ist nicht das Maß für die Notwendigkeit einer Kirche. Das Verhältnis der Menschen zu ihr bestimmt, ob das Gebäude eine Zukunft hat oder nicht. 99 Prozent der Menschen wollen ihre Kirche.
Wenn die Bereitschaft zur Unterstützung so groß ist, wieso müssen dann Kirchen geschlossen oder umgebaut werden?
Die Gemeinden müssen ihre Probleme früher in der Öffentlichkeit kommunizieren, um Unterstützung von außen zu bekommen. Zuerst versuchen sie natürlich, die Situation selbst zu entschärfen. Der zweite Schritt muss aber sein, sich klarzumachen, dass ihr Gebäude juristisch zwar der Kirchengemeinde gehört, diese aber bis vor 150 Jahren fast identisch mit der Kommunalgemeinde war. Die Gebäude sind selten von einer kleinen Gruppe, sondern meistens von der Bürgergemeinde errichtet worden. Somit sollten sich auch alle Bürger die Frage stellen, was aus der Kirche in ihrem Ort werden soll. Das Engagement auch der Kirchenfremden in den betroffenen Gemeinden ist sehr hoch.
Inwieweit gehört das Thema Kirchenumnutzung mittlerweile zur täglichen Arbeit der EKD?
Von Umnutzung rede ich gar nicht gerne, denn das heißt, die Kirche letztlich aufzugeben. Das spielt, gemessen an der Zahl der Kirchen, die es gibt, in der evangelischen Kirche praktisch keine Rolle. Wir haben seit 1990 in ganz Deutschland rund 30 Kirchen umgewandelt, ohne steigende Tendenz, und eines ist dabei wichtig: Das gab es in dieser geringen Zahl schon immer. Unser Thema heißt Mehrfachnutzung. Sie wird eine immer größere Rolle spielen, da die Gemeinden keine Kirche einfach weggeben wollen und viele, vor allem die Dorfkirchen, ohnehin nur sehr schwer umzunutzen sind.
Was verstehen Sie unter Mehrfachnutzung?
Ein Beispiel: Wenn die Gemeinden früher Geld hatten, dann haben sie neben die Kirche ein großes Gemeindehaus gestellt. Ein Gebäude, das viele Funktionen von der Jugendarbeit bis zur Tanzveranstaltung vereint. Doch die vielen Gebäude sind schwer instand zu halten. Jetzt gehen die ersten Gemeinden hin und sagen: Wir trennen uns von diesem zusätzlichen, funktionstüchtigen Baukörper und konzentrieren uns auf die Kirche. Das eröffnet dann auch die Möglichkeit für vielfältige Veranstaltungen.
Die größte Herausforderung für einen Architekten besteht also darin, die vielfältigen Funktionen, die eine Gemeinde hat, in eine Kirche zu integrieren. Das ist die größte Chance, sie auch in Zukunft erhalten zu können. Man wird aber nicht allen Kirchen solche Nutzungsmöglichkeiten schaffen können, sodass für einige das Problem einer Umnutzung kommen kann. Auch hier sind Gemeinden und Architekten gefragt.
Welche Nutzungsformen schließen Sie aus?
Grenzen sehe ich bei einer Nutzung durch nichtchristliche Religionsgemeinschaften. Das würde sich mit einer Kirche nicht vertragen. Auch parteipolitische Veranstaltungen schließe ich aus. Immer wenn jemand eine Kirche für andere Veranstaltungen nutzen will, muss man sich fragen, ob der Interessent das wegen der Eignung des Orts macht oder ob es durch die Kirche nicht zu einer Überhöhung der Veranstaltung kommt. Allerdings haben viele Kirchenfremde oft eine „heilige Scheu“ vor dem Gebäude, sodass es gar nicht so oft zu solchen Anfragen kommt.
Könnten Sie nicht einen Teil der Kirchen einfach schließen und auf bessere Zeiten warten?
Ja, denn eine Regel gilt immer: im Zweifel für die Kirche. Bei rund 40 Kirchen ist das momentan der Fall. Bischof Huber hat auf dem Kirchenbautag 2005 gesagt, dass er dies für eine legitime Möglichkeit hält. Eine Kirche steht durchschnittlich 500 Jahre. Wir haben also Zeit. Doch ganz billig ist das natürlich auch nicht. Wir müssen uns ja trotzdem um das Gebäude kümmern.
Wie weit behandeln Sie denkmalgeschützte Kirchenbauten anders als andere?
Wir haben zur Gebäudeerhaltung vor zehn Jahren die Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler gegründet. Bei uns wird, anders als bei der Stiftung Denkmalschutz, das Kirchengebäude nach seiner Nutzung als Gottesdienstgebäude beurteilt, also fragen wir: Wird darin Gottesdienst gefeiert? Wir können für eine historische Kirche genauso viel Geld geben wie für eine sogenannte „Betonkirche“.
Welche Chancen ergeben sich durch die Diskussion um zukünftige Nutzungen?
Wir müssen noch lernen, dass das eine Chance ist. Für viele ist das Thema noch mit Angst besetzt, weil sie das als Verlust erleben. Aber es ist eine gute Möglichkeit, die Scheu vor dem heiligen Raum aufzugeben und die Betretbarkeit der Kirche und ihrer Veranstaltungen zu fördern. So kann sich kirchliches Leben wieder mehr öffnen.