Text: Roland Stimpel
Schwarz die Gebäude, weiß alles andere – das Prinzip des Schwarzplans ist so simpel wie genial. Keine andere Darstellungsform reduziert Städte so prägnant auf ihre beiden strukturellen Kernelemente: die Häuser und die von ihnen gebildeten oder frei gelassenen offenen Räume. Eine grandiose Sammlung von hundert solchen Plänen ist das Buch „Die DNA der Stadt“, in dem die Lübecker Architekten Inga Mueller-Haagen, Jörn Simonsen und Lothar Többen deutsche Städte jeder Größe und Art auf ihre schwarz-weiße Grundform bringen – mit mittelalterlichen Rundkernen und rechteckiger Gründerzeit, mit zeilenweiser Nachkriegs-Organik, fettschwarzer Großindustrie und hingetupften Eigenheim-Fleckchen (Angaben zum Buch unten).
In den meisten Plänen verdichtet sich das Schwarze im Inneren. Aber es gibt einige Ausnahmen, in denen sich in den Zentren von Städten weiße Flecken und Flächen dehnen. Das widerspricht jeder herkömmlichen urbanen Logik: Gerade wo sich die meisten Wege kreuzen, fehlen an ihrem Schnittpunkt die gebauten Ziele. Wo man am bequemsten hinkäme, ist nichts, um zu bleiben.
In jedem unserer vier Beispiele ist die weiße Leere eine Folge rabiater planerischer Leidenschaften. Mal war es die Leidenschaft fürs Repräsentieren, mal die fürs Wegräumen der alten Stadt. Mal ging es ums Verschieben und Neuschaffen eines Kerns, mal darum, aus Stadtpaaren mit zentraler Wiese ein kommunales Kunstgebilde zu schaffen. Die Schwarzpläne erzählen Geschichten – auch da, wo sie das Papier weiß lassen.
Berlin: 100.000 Quadratmeter Stadtpause
Ausgerechnet Berlin! Die Stadt, die sich als Deutschlands urbanste anpreist und versteht, gönnte sich im historischen Kern eine zeitweise 100.000 Quadratmeter große urbane Pause. Da wurde schon vor dem Krieg Altstadt entsorgt – und den Rest, der nach Bomben- und Bodenkämpfen noch stand, planierte die DDR. Sie wollte Raum für ihre Haupt- und Staatsachse vom Marx-Engels-Platz mit dem Palast der Republik am einen und dem Fernsehturm am anderen Ende. Zwecks Berliner Leere-Analyse entstand für diesen Raum nach dem Mauerfall die Mutter aller heutigen Schwarzpläne – im Rahmen von Hans Stimmanns „Planwerk Innenstadt“, dessen Erarbeitung der damalige Senatsbaudirektor vor genau 20 Jahren begann.
Auf dem damaligen Schwarzplan prangte im Weißraum unten links noch ein dickes schwarzes Rechteck – der später abgerissene Palast der Republik. Auf dem Schwarzplan von morgen liegt dort das Humboldt-Schloss. Der größere rechte Weißteil aber ist und bleibt bis auf Weiteres so, wie er ist. Vielen in der Stadt ist ihre derzeitige Dynamik zu stark. Symbolisch verteidigen sie dagegen unbebaute Großflächen, sei es das Tempelhofer Feld im Westen oder der historische Kern der Stadt.
Villingen-Schwenningen: Äcker im Zentralbereich
Villingen-Schwenningen zwischen Schwarzwald und Bodensee hat sich kürzlich einen „Rahmenplan Mittlerer Zentralbereich“ erarbeiten lassen. Mittleres Zentrum – mehr Kern geht scheinbar nicht. Aber mit der doppelt gemoppelten Bezeichnung kann die Stadt vielleicht ein bisschen tarnen, dass im Kern ihrer Mitte auf Äcker und Wiesen nicht mehr als ein paar Einzelbauten gestreut sind. „Der Mittlere Zentralbereich ist umgeben von landwirtschaftlich genutzten Flächen“, heißt es im Rahmenplan. Das Werk des Stuttgarter Büros Wick + Partner beschreibt das Kern-Problem in einem kurzen Satz: „Der Mittlere Zentralbereich liegt zwischen Villingen und Schwenningen.“
Der Plan zeigt zwei Städte, die von ehrgeizigen Bürgermeistern vor 44 Jahren rechtlich zusammengefügt wurden, aber seitdem nie zusammengewachsen sind. Jede hat ihren eigenen Kern, und damit ist Villingen-Schwenningen typisch für viele Kunstgebilde jener Zeit. Das Zentral-Vakuum füllen bisher nur ein nach 40 Planungsjahren endlich gebautes Kreiskrankenhaus, ein Einkaufszentrum, erschlossen durch eine fast anbaufreie Straße namens „Neuer Markt“, sowie das Eigenheimgebiet „Schilterhäusle“. 2012 wollte der Stadtrat hier ein neues Rathaus platzieren. Vier Fünftel der abstimmenden Bürger sagten Nein: Sie hatten Angst um ihre alten Rathäuser in den Kernen der Halbstädte.
Jena: Parkplatz statt Altstadt
Im fortschrittsfreudigen Jahr 1968 schaffte sich Jena ein lästiges Stück Altstadt vom Hals, wie es damals viele Städte in West und Ost taten. Auf ein Drittel der Fläche kam dann ein 144-Meter-Turm nach Plänen von Hermann Henselmann; das Übrige blieb frei, denn die Schaffung zentraler Aufmarschplätze war in der DDR Gesetzespflicht. Der Leerraum hieß erst Zentraler Platz, dann Platz der Kosmonauten. 1989 war er für kurze Zeit wichtig als Ort der Volksdemonstrationen mit bis zu 40.000 Teilnehmern. Seitdem heißt er wie ein kleiner historischer Stadtraum an dieser Stelle Eichplatz.
Dort beschränkt sich das städtische Leben auf gelegentliche Märkte; meist parken hier aber nur Autos. Fast wäre der Platz vor ein paar Jahren wieder bebaut worden, was die Mehrheit befragter Jenaer grundsätzlich wünschen. Aber ein vom Stadtrat schon verabschiedeter Plan war vielen Bürgern zu kommerziell und zu großformatig. Jetzt gibt es neue Planungsgrundsätze: mehr Mischung, mehr Kleinteiligkeit, mehr Freiflächen und über die Entwicklung mehr öffentliche Kontrolle. Ein Konsens, der politisch tragen könnte und viele Entwicklungs-Varianten erlaubt. Geht es Jena auch weiter wirtschaftlich gut, dürfte der Weißraum von heute bald einer grafisch feineren Schwarz-Struktur weichen.
Oberhausen: Neue Mitte, entdichteter Kern
Oberhausen ist ein Spezialfall der Kern-Verödung. Bis vor zwanzig Jahren lag sein Zentrum am unteren Rand des Schwarzplans: in der Marktstraße im gründerzeitlichen Alt-Oberhausen. Weiter oben rechts war eine Eisenhütte, dann erst mal nichts und dann das 120.000 Quadratmeter umfassende „Centro“, das sich als Oberhausens neue Mitte sowie Deutschlands größtes Einkaufszentrum bezeichnet. Zwei Mitten im Drei-Kilometer-Abstand waren der Stadt zu viel, und so dünnte die alte aus.
Diese Verdünnung sieht man auf dem Plan bisher kaum, aber sie ist auf dem Weg: Oberhausen dürfte Deutschlands einzige Großstadt sein, die für ihr langjähriges Zentrum eine auch offiziell „Entdichtung“ genannte Strategie verfolgt – die „Vision eines Umbaus der traditionellen Einkaufsstraße hin zu einer durchgrünten und belebten innerstädtischen Wohnlage“. Der erstrebte Leerraum ist schon mal zum „Freiraum“ und „Denkraum“ geadelt. Und während anderswo die Stadtplaner über kommerziellen Entwicklungsdruck klagen, ging die De-Kommerzialisierung in der Marktstraße Oberhausens einem Entdichter-Gutachten nicht rasch genug: Es klagte über widerspenstige Hauseigentümer mit dem „Anspruch, gewisse Einzelhandels- und Dienstleistungsflächen nicht aufgeben zu wollen“. Warten wir auf den nächsten Schwarzplan: Unten links dürfte das Schwarz noch deutlich schütterer sein, oben rechts um das Centro womöglich noch massiver.
Inga Mueller-Haagen, Jörn Simonsen, Lothar Többen
DIE DNA DER STADT. EIN ATLAS URBANER STRUKTUREN IN DEUTSCHLAND
Verlag Hermann Schmidt, Mainz, 2014, 264 Seiten, 100 Schwarzpläne deutscher Städte, Lesezeichen im Maßstab 1 : 20.000, ISBN 978-3-87439-852-7, 68,00 Euro
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu:
Gerade die „leeren“ Flecken/Plätze entscheiden doch erst über die Qualität von städtebaulichen Strukturen. Eine zu homogene, zugebaute Stadt ist langweilig und engt ein. Zu viele oder zu große Lücken sorgen für Unbehagen und sind nur schwer mit Sinn & Leben zu füllen.
Der schmale Grat dazwischen, macht eine für den Menschen angenehme Stadt aus. Dahingehend stellen die Schwarzpläne ein gutes Instrument dar, um Stärken und Schwachpunkte urbaner Fußabdrücke zu erkennen.