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Zurück Denkmale und Einwohnerverlust

Decken zu niedrig, Wände zu krumm

Wie Denkmale in einer schrumpfenden Region verfallen – und Idealisten gegenhalten

28.10.20108 Min. Kommentar schreiben

Von Roland Stimpel

Ausgerechnet aus dem liebevoll durchsanierten Weimar melden sich zwei Denkmal-Experten mit Schreckensvisionen. „Die absehbaren Schrumpfungsprozesse werden Siedlungsverluste und Parzellenverwüstungen hinterlassen, wie sie früheren Zeiten nicht fremd waren“, sagt Hermann Wirth voraus, pensionierter Denkmalpflege-Professor an der Bauhaus-Universität. „Ruinöse Stadtdenkmale lassen sich nur als archäologische Freilichtmuseen betreiben.“ Sein noch aktiver Kollege Hans-Rudolf Maier fürchtet: „Wir werden uns daran gewöhnen und der Öffentlichkeit vermitteln müssen, dass es manchenorts wohl nicht wenige Denkmale gibt, für die derzeit keine Nutzung in Sicht ist.“ Maier macht sich schon über „Erbe-Management als Rückbau-Management“ Gedanken.

Wirth und Maier denken nicht an das von Klassik und Tourismus gesättigte Weimar, sondern an Schrumpfungs- und Krisenregionen. So eine war kürzlich 100 Kilometer weiter nordwestlich von Weimar zu besichtigen: In Dörfern und Städten an der idyllischen Oberweser, unweit von Göttingen und Kassel, führte das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz verlassene, bedrohte Häuser vor – aber auch tapfere Idealisten, die gerade an so schwierigen Orten gebautes Kulturerbe pflegen.

Altes im neuen Glanz: Das Kaufmannshaus aus dem Jahr 1564 in der Altstadt von Hannoversch Münden

Niedergang und etwas Hoffnung gibt es zum Beispiel in Hannoversch Münden. Seine Altstadt zwischen den Flüssen Weser, Werra und Fulda mit 700 Fachwerkhäusern ist vielfach gerühmt und für seine Erhaltung prämiiert, doch von beschleunigtem Schwund betroffen. Schon in den vergangenen 20 Jahren verlor die Stadt fünf Prozent ihrer Einwohner, in den nächsten 15 Jahren soll sich der Verlust verdoppeln. Dabei setzt schon der heutige Rückgang der Altstadt schwer zu. Das zeigen auf den ersten Blick ganze Reihen leerer Schaufenster in Nebengassen, auf den zweiten zeigen es die vielen blinden, verschmutzten Fenster einstiger Wohnräume – oft hinter ansonsten noch properen Fassaden. Doch im Blockinneren erwecken verfallene Hinterhöfe den Eindruck, hier sei noch nie saniert worden. Dabei geschieht das in Hannoversch Münden seit 39 Jahren.

Seit ähnlich langer Zeit sind viele angestammte Altstädter in die weniger romantischen, doch praktischen Randgebiete der Stadt gezogen. Sogenannte Gastarbeiter folgten, aber auch sie suchen jetzt weiter draußen Nachkriegskomfort. Hannoversch Mündens engagierter Stadtdenkmalpfleger Burkhard Klapp kann weder Bewohner noch Investoren in die von ihm amtsseits allein betreuten „Riesenbaumassen“ zwingen. „Wer hier erst sanieren muss, bräuchte danach zehn Euro Miete pro Quadratmeter“, rechnet er vor. „Man bekommt aber höchstens 4,50 Euro. Da hilft dann auch keine Steuererleichterung.“ Wenn jemand trotzdem in der Altstadt investieren will, dann nicht immer hochsensibel. So propagierte kürzlich die Werbegemeinschaft der lokalen Kaufleute, die hier „Gilde“ heißt, durchgehende Glasdächer über einigen Gassen, damit die mit regenfesten Einkaufszentren wetteifern können.

Ausgeschlafen: Die gelungene Sanierung des Hauses, hier ein Blick in eines der Gästezimmer, lässt auf Nachahmer hoffen.

Aber einzelne Bürger bieten statt fragwürdigen Glases symbolische Lichtblicke. Hannoversch Mündens Musterbürger ist der gelernte Tischlermeister Bernd Demandt, der sich heute als hauptberuflicher „Denkmal-Aktivist“ bezeichnet. Zwei Häuser mit Baujahr 1534 sanierte er vor zehn Jahren und machte daraus das Fachwerk- und Fahrradhotel Aegidienhof mit 14 Zimmern. Als Nächstes machte er ein stattliches Kaufmannshaus von 1564 zum Gästehaus Tanzwerder mit fünf Wohnungen, möbliert in Biedermeier, Jugendstil oder Gründerzeit. Für Demandt ist die Fachwerkpflege Mission und Sport zugleich: „Ich will zeigen, welches Potenzial in historischen Fachwerkhäusern steckt und welche Wohnideen man hier umsetzen kann.“ Dafür balanciert er ständig am Rande der Illiquidität, macht seit vielen Jahren keinen Urlaub und fährt ein Auto, das mit seinen 25 Jahren auch schon fast Denkmalstatus hat.

Unfromme Altar-Bar

Demandts jüngstes Stück ist die einstige Aegidienkirche, aus der er in diesem Jahr ein Café machte, das seinem benachbarten Hotel auch als Frühstücksraum dient. Drinnen sitzt man auf rot gestrichenen Kirchenbänken an Esstischen oder auf gewagten roten Hockern an der Altar-Bar, was manche Besucher allzu unfromm finden.

Ein Segen für altes Gemäuer: Die ehemalige Aegidienkirche ist heute ein Café

Demandts nächstes Projekt ist eine Halbruine, aus der er ein Behindertenhotel machen will. 1,5 Millionen Euro würde das kosten. Natürlich hat er die nicht, „und die Banken fürchten mich eher“. Also ist das Haus erst mal provisorisch gesichert; Demandt hatte Zeit für die Organisation des „Denkmal! Kunst“-Festivals, währenddessen er auswärtige Künstler in leeren Häusern einquartierte. Ein Amerikaner blieb hängen und lässt gerade von Demandt ein weiteres Haus umbauen.

Alle paar Jahrzehnte brennt es in Hannoversch Mündens Altstadt. 2008 wurde ein Haus ganz, eines weitgehend ­zerstört. Der dort aufgewachsene Eigentümer, der längst bei Frankfurt am Taunus lebt, ließ beide rasch rekonstruieren. Zwei Ecken weiter klafft an der Stelle eines 1989 abgebrannten Renaissancebaus noch heute eine Lücke. ­Wenigstens ist das Nachbarhaus saniert und wird vom Brachgrundstück aus per Treppenturm aus Beton und Stahl erschlossen. Bei seinem Anblick müssen allerdings viele Altstadtbesucher schlucken. Und die Stadt hofft auf einen Neubau, zu dessen Erschließung der Treppenturm schon ausgelegt ist – und von dem er gnädig verdeckt würde.

Doch gerade etwas neuzeitliche Funktionalität braucht die Altstadt. Das erwarten vor allem die künftigen Scharen alter Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Vorbildlich gelöst wurde die Aufgabe von den Büros Thumm/Albrecht aus Hildesheim und großmannplanung aus Göttingen, die vor sechs Jahren am Renaissancebau des Herzogin-Elisabeth-Stifts ein Treppenhaus mit Fahrstuhl aus Stahl und Glas anbrachten. Ihre Konstruktion ist filigran und zudem von der Straße aus nicht zu sehen, da sie auf einem luftigen Hof steht. Dort verschwand zwar Altes, doch sensibles Entkernen und Modernisieren ist in der Summe der altstadtfreundlichste Weg. Vorderhäuser sind gerettet; mithilfe von Technik zieht neues Seniorenleben ins historische Quartier.

Zehn Kilometer nördlich von Hannoversch Münden liegt das Dorf Hemeln. Hier im verwunschenen Wesertal zwischen Bramwald und Reinhardswald ist Brüder-Grimm-Land; die nahe Sababurg wird heute an der Deutschen Märchenstraße als Dornröschenschloss vermarktet. Unten im Tal ist das Fachwerkdorf Hemeln sehr sauber, aber gar nicht steril. Das ist wesentlich dem örtlichen Altbau-Idealisten Walter Henckel zu verdanken – einem ganz anderen Typen als dem leicht bohemigen Bernd Demandt. Henckel, pensionierter Architekt und ehrenamtlicher Heimatpfleger, ist bald 30 Jahre älter, trägt Trachtenjacke statt Pulli und verkörpert dörflichen Gemeinschaftsgeist. Im 900-Einwohner-Ort kennt er von jedem Fachwerkhaus die Bau- und Sanierungsgeschichte und erklärt mit viel Feinsinn die Grenze zwischen niederdeutschem Hallenhaus und mitteldeutschem Querhaus, die exakt durch Hemeln verläuft.

Auch dieser Ort hat es wirtschaftlich nicht leicht. Das Forstamt ist nur noch Nebenstelle; im einstigen Waldarbeiterdorf leben nur noch zwei Holzfäller. Aber Leute wie Henckel halten den Stolz bei Bauern und ihren Erben wach und wecken ihn bei Zugezogenen neu. „Schöne Architektur vermittelt Heimatgefühl“, ist sein Credo. Nicht zuletzt dank des Ortsbilds hält Hemeln bisher seine Einwohnerzahl. Und wenn es eines Tages schrumpft, dürfte der gepflegte alte Kern weit bessere Chancen haben als die Allerwelts-Neubaugebiete drum herum.

Traditionsbrüche

Dem nächsten Weserstädtchen Bodenfelde sieht man überdeutlich an, dass ihm ein Demandt oder ein Henckel fehlt. Der kleine Industrieort brach schon vor der Schrumpfung mit seinen Traditionen – und bricht immer weiter. Der Ortskern ist vom Autoverkehr und brachialer Altbaumodernisierung verhunzt; Gewerbe und Dienstleister sind an den Rand gezogen. Selbst die Gemeindeverwaltung sitzt in einem Fertighaus auf der Wiese – einem Haus, das wohl selbst die deutsche Fertighausindustrie am liebsten verstecken würde. Den Fachwerk-Vorgängerbau im Ortskern wollte der Bürgermeister nach dem Auszug abreißen lassen, fürs Erste rettete ihn der Gemeinderat mit knapper Mehrheit. Die fast 200 Jahre alte Synagoge dagegen überlebte nur durch Exodus: Sie steht jetzt im 30 Kilometer entfernten Göttingen, nachdem auch ihr in Bodenfelde der Abriss gedroht hatte (2006, nicht 1938).

Mehr Idealismus als in Bodenfelde, doch nicht minder große Gefahren für die Denkmale gibt es im nahen Dörfchen Verliehausen. Hier sind von einst 17 Bauernhöfen noch zwei übrig. Es gibt 400 Einwohner, darunter sieben Kinder. Das Dorf liegt eigentlich idyllisch im Tal des Baches Schwülme, fern aller großen Verkehrswege. Aber schon die beiden Landesstraße bringen einen Lkw-Verkehr, der den engen Ort mit Lärm und Schrammfahrten an der Hauswand im 5-Minuten-Takt zu sprengen scheint. Nur wenige im Ort halten die Fahne der Zuversicht hoch – vor allem der pensionierte Bauingenieur Gerhard Sommer. Er kämpft im Ortsrat einen unermüdlichen Kampf gegen das ewige Lied der Denkmal-Verweigerer: „Da will ich nicht wohnen, da sind die Decken zu niedrig, die Wände zu krumm, dann sind da Sprossenfenster, da muss meine Frau so viel putzen.“

Sommer und seine Frau Rosemarie putzen so etwas gern. Die beiden haben im Nachbarort Wahmbeck an der Weser ein Bauernhaus von 1637 gekauft und renoviert. Heute ist es Radlercafé, Laden und historische Weberei – Rosemarie Webers Hobby. Sie verdienen daran nichts, eher im Gegenteil. Auch hier funktioniert der Denkmalschutz nur dank zweier Idealisten mit viel Altbau-Sinn, Zeit, einer gewissen Menge Geld und nicht zuletzt Sachverstand.

Die Radtouristen an der Weser werden zwar mehr, doch die Einwohner immer weniger. Um sich die Zukunft der Gegend auszumalen, greift der Archäologe Henning Haßmann vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege weit in die Historie zurück. Im Gebiet nordwestlich von Göttingen hat er 329 einstige Dörfer registriert, die durch Seuchen, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen und weiteres Ungemach verschwanden. Ganz so schlimm wird es nicht kommen, doch vielen Dörfern droht ein halber, einigen vielleicht auch ein ganzer Tod.

Und das nicht nur an der Weser, sondern in vielen Regionen Deutschlands. Der Weimarer Denkmalpfleger Wirth macht sich schon einmal Gedanken über Begleitaktionen in verödenden Orten: „Es sollten charakteristische Grundrisskonfigurationen, einstige Traufhöhen, die denkmalwerten Strukturelemente wie Bodenbeläge oder Pergolen durch landschaftsgestalterische Installationen jeder Art anschaulich bleiben; auf Informationstafeln des Inhalts ‚Hier befand sich …‘ sollte gegebenenfalls beischriftlich ergänzt werden: ‚Wiederaufbau vorgesehen‘.“

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