Text: Nils Hille
Zu funktional, zu wenig repräsentativ, zu sehr auf den Handel fixiert anstatt auf die Reisenden. Zu viel Planung in eigener Hand statt per Wettbewerben und Vergaben an externe Profis: Die Liste an Vorwürfen über die Bauten und Baumaßnahmen der Deutschen Bahn ist lang. Vieles scheint in den letzten Jahrzehnten bei dem Unternehmen schiefgelaufen zu sein. Gerade die Intransparenz bei der Auftragsvergabe und der niedrige gestalterische Anspruch wurden vielerorts kritisiert und häufig zum Streitfall zwischen Kommunen und Konzern, zwischen Planern und Bahnern.
Heute lässt sich frei nach Asterix formulieren: „Wir befinden uns im Jahr 2013 nach Christus. Sämtliche Baumaßnahmen der Deutschen Bahn leiden unter diesen Problemen. Sämtliche? Nein! Ein von hochmotivierten Planern bevölkertes Büro hört nicht auf, diesen Vorwürfen entgegenzuarbeiten.“
Zunächst mit guten Arbeitsbedingungen für die dort beschäftigten Architekten: Sie arbeiten bis maximal acht Uhr abends, und das nur montags bis freitags. Jede Überstunde bezahlt der Arbeitgeber ohne Diskussion. Am Wochenende ist grundsätzlich frei. Und trotzdem bekommen sie für neun von zehn Projekten, um die sich die Teams bemühen, auch den Zuschlag, diese zu planen und zu bauen – und das mit einem hohen architektonischen Anspruch anstatt funktionalem Einheitsbrei. ISBP heißt das außergewöhnliche Büro.
Im Umbau: Der Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen bekommt gerade eine zeitgemäße Struktur und Gestaltung.
Hinter den Buchstaben stehen nicht etwa, wie sonst üblich, die Namen der Gründer oder Partner, sondern die Deutsche Bahn selbst. Deren großes Konzern-Bereichs-Abteilungs-System spiegelt sich in der Abkürzung wider: ISBP steht für Infrastruktur, Station und Service, Bau- und Anlagenmanagement, Planung.
Marc Ulrich ist der Leiter dieser Unternehmenseinheit. Man könnte ihn, der vorher bei Henn Architekten unter anderem die Gläserne Manufaktur von VW in Dresden geplant hat, auch den „Chefarchitekten“ der Deutschen Bahn nennen. Und der 49-jährige Ulrich ist ziemlich stolz, dass der Name des Büros nur aus vier Buchstaben besteht. Denn das bedeutet, dass das hauseigene Planungsteam der Bahn schon in der vierten Organisations-Ebene unter dem Vorstand angesiedelt ist. Schon? Für einen Externen klingt das nach langen Entscheidungswegen. Wer aber erfährt, dass es auch Abteilungen mit zehn oder zwölf Buchstaben gibt, kann Ulrichs Zufriedenheit über die Relevanz in einem Konzern mit knapp 300.000 Mitarbeitern schon eher nachvollziehen.
Auch die Lage des Büros in Berlin spricht für den Stellenwert, den ISBP intern mittlerweile hat. Als es vor fünf Jahren gegründet wurde, saßen die acht Personen als eine von vielen Abteilungen im Bahn-Tower am Potsdamer Platz. Jetzt residieren Ulrich und seine 38 Kollegen, davon die meisten Architekten und Ingenieure, oben im Berliner Hauptbahnhof mit bestem Blick auf alle Ebenen des Baus von gmp. Jeder Bahnbegeisterte würde von hier aus stundenlang einfach nur das Treiben der vielen Tausend Reisenden von und zu den vielen Hundert Zügen beobachten. Die Architekten nutzen die Vogelperspektive dagegen für ihre Arbeit, wie Ulrich erklärt: „Das ist unser Bahnhofslabor. Gerade am Hauptreisetag Freitag zeigt sich, was hier im Gebäude funktioniert und was nicht.“ Die Planer achten auf den Zu- und Abstrom der Menschenmassen über die Rolltreppen und die Aufzüge, zu den Informationen und in die Geschäfte. Denn so ein Bahnhof muss für den Konzern in erster Linie eines: funktionieren – sprich, vor allem die Abfertigung der Züge muss sichergestellt sein. Erst dann geht es um die Gestaltung. „Im Mittelpunkt stehen immer die Züge, die mit ihren farbigen Lackierungen das Hauptaugenmerk auf sich ziehen sollen. Das Gebäude tritt durch seine Farbgebung in grauen, silbernen und weißen Tönen immer in den Hintergrund“, sagt Ulrich.
Vorfahrt durch Insiderwissen
Dieser Hintergrund steht in der Abteilung ISBP aber im Vordergrund und bietet mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als sich im ersten Moment vermuten lässt. Rund 40 Bahnhofsprojekte betreuen die internen Planer zurzeit. Das sind laut Ulrich gerade einmal drei Prozent der aktuellen Gebäudeumbauten und -sanierungen der Deutschen Bahn; komplette Neubauten gibt es nur selten. Zehn Prozent sollen es mal werden, der Rest werde weiterhin extern vergeben, versichert das Unternehmen. Denn die Aufträge kommen für freie Büros wie für das hauseigene von den sieben Regionalgesellschaften, in die die Bahn das Bundesgebiet aufgeteilt hat. Bei denen müssen sich die internen Planer genauso um Projekte bemühen. Sie haben aber den großen Vorteil, die Strukturen, Vorstellungen und Eigenarten ihrer „Pappenheimer“ zu kennen – mittlerweile: „Wir sind durch eine Art Deutsche-Bahn-Schulung gegangen und haben zwei Jahre gebraucht, um das Unternehmen in seiner Komplexität zu verstehen“, sagt Ulrich. Auch er selbst spricht heute mehr von möglichst hoher Kundenzufriedenheit als von gelungenen Entwürfen. Er redet gerne von den Leitzielen des Vorstands und wie seine Abteilung da erfolgreich mitspielt. Ulrich weiß, was die Spitze hören will und womit er bei ihr punkten kann – also bedient er das auch.
Das schafft seinem Team auch Freiheiten: „Jetzt, nach einem halben Jahrzehnt, verstehen die anderen Abteilungen auch uns“, sagt er. Denn völlig anpassen an alte Systeme will sich die junge Abteilung nicht. „An dem Tag, an dem wir in jedes Formular passen, brauchen die uns nicht mehr“, erklärt Ulrich selbstbewusst. Dafür sitzen hier viel zu viele kreative Köpfe, die gerne mal quer- und weiterdenken, wie man den zahlreichen bunt behangenen Pinnwänden entnehmen kann. Sie reihen sich gegenüber den großen Tischen der Arbeitsgruppen des Großraumbüros aneinander und zeigen farbenfrohe, teilweise schrille Ergebnisse von internen Workshops und Brain-Storming-Prozessen. Immer wieder steht eine Frage im Mittelpunkt: Wie sieht der Bahnhof von morgen aus? Die Planer sollen neue Ideen entwickeln – dafür sind sie ja schließlich eingestellt worden. Sie wollen das Gedankengut dann aber auch im Konzern an höchster Stelle platzieren und schließlich vor Ort realisieren dürfen. „Da kommen Sie auf dem Power-Point-Status nicht weit. Je anschaulicher sie für die Nichtarchitekten arbeiten, desto besser. Deswegen geht vieles über aufwendige Modelle“, erklärt Ulrich. Schräg gegenüber steht bei ISBP noch eine Art Modell: Eine hochwertige silberne Bank mit zwei schwarzen, bequemen Sitzen rechts und links und einer großzügigen Ablagefläche dazwischen. Darunter kommen noch Stromanschlüsse für Laptops. Was man in dieser Qualität nur von Wartebereichen in Flughäfen kennt, könnte bald an immer mehr Bahnhöfen stehen – da, wo jahrelang Sitzmöglichkeiten abmontiert und, wenn überhaupt, unbequeme Metall-Gitter-Bänke installiert wurden. Woher der Sinneswandel? Da ist zum einen die Kundenzufriedenheit, die der Konzern und somit auch Ulrich steigern möchte – und die laut Befragung für 82 Prozent der Fahrgäste auch am Bahnhof entschieden wird. Und da ist zum anderen ein in einem Wirtschaftskonzern unschlagbares Argument: „Diese neue, komfortablere Bank, die wir entwickelt haben, kostet 100 Euro weniger als die alten Varianten. Mit einem geringeren Preis kriegen Sie alle Entscheider überzeugt“, so der Architekt.
Nicht nur bei einzelnen Möbeln, sondern auch bei kompletten Bahnhofskonzepten schafft ISBP vor allem Referenzprojekte. Sie sollen, wenn sie erfolgreich erprobt sind und in Serie gehen können, von anderen Büros bei Aufträgen der Deutschen Bahn übernommen und in die individuelle Planung integriert werden. Eines dieser sogenannten Leuchtturmprojekte ist der „Grüne Bahnhof“. In Kerpen-Horrem, an der Regionalexpress-Strecke zwischen Köln und Aachen gelegen, entsteht laut Bahn „Deutschlands erstes klimaneutrales Bahnhofsgebäude“. Eine Photovoltaik- und eine Geothermie-Anlage, ein begrüntes Dach und eine intelligente, stromsparende Beleuchtung sollen laut ISBP-Architekt Philipp Luy, dafür sorgen, „dass beim Betrieb des Bahnhofs kein CO2 entsteht“.
Schon vor der Fertigstellung scheint das 3,4 Millionen Euro teure Pilotprojekt „Grüner Bahnhof“ aus Sicht der Deutschen Bahn ein Erfolgsmodell zu sein, sicher auch, weil hier EU-Förderungen fließen und sich zudem der Nahverkehr großzügig beteiligt, um sich mit dem grünen Label schmücken zu können. „In Wittenberg und Offenburg werden die nächsten zwei Grünen Bahnhöfe entstehen“, kann Luy jetzt schon verkünden, obwohl der erste Bau in Horrem noch nicht einmal fertig ist und es keine Erfahrungswerte zur Energieeffizienz gibt. Der Planer hat mit einer Reihe von Kollegen bei ISBP die Idee des Grünen Bahnhofs entwickelt. Die Idee wuchs schon länger. Als der Vorstand dann die Ökologie im Sinne des Umweltschutzes zu einem Leitziel des Konzerns erklärte, war die Zeit für den Grünen Bahnhof reif und die Zustimmung von ganz oben schnell gegeben – schließlich gibt es jetzt ja auch die Grüne Bahncard, da passt das ins Konzept. Luy hatte sich eigentlich nach dem Architekturstudium selbstständig gemacht – das war immer sein Wunsch gewesen. Zwei Jahre beteiligte er sich an Wettbewerben, gewann auch ein paar davon, doch kein Projekt wurde realisiert. Nebenher arbeitete er freiberuflich bei ISBP, immer häufiger und immer begeisterter. Irgendwann legte ihm Ulrich einfach einen Vertrag zur Festanstellung auf den Schreibtisch. Luy überlegte nicht lange und unterschrieb: „Hier arbeite ich in allen Planungsmaßstäben: Von der Sitzbank bis zum städtebaulichen Entwurf – es wird also nie langweilig.“ Auch die direkte Zusammenarbeit in Teams mit Ingenieuren und Fachplanern begeistere ihn. Bald kann er sich über noch mehr Kollegen freuen. Denn bei den heute 38 Mitarbeitern, davon fast die Hälfte Frauen, soll es nicht bleiben, so sein Chef Ulrich: „Wir sind weiterhin im Aufbau. In der nächsten Zeit wollen wir auf 50 Kollegen wachsen und langfristig auf das Doppelte der heutigen Mannschaftsgröße.“ Bisher kamen die Planer aus dem Netzwerk der Kollegen und somit von Büros wie eben Henn Architekten oder gmp. Jetzt sucht Ulrich verstärkt extern Einsteiger und Erfahrene, die sich für „Premium-Industriebau“, wie er die Bahnhofsbaumaßnahmen nennt, interessieren. Und die sich über die Arbeitsbedingungen freuen – in diesem Büro, das irgendwie auch von dieser Architekturwelt ist, wenn auch von einer ganz speziellen. Mit ISBP wächst bei der Deutschen Bahn offensichtlich das Augenmerk auf gute Gestaltung. Wie Asterix am Ende der meisten Comics könnten die internen Planer schon mal ein Festmahl zelebrieren. Ob aber auch die externen Planer an der gedeckten Tafel ihren Platz finden, steht noch nicht geschrieben.
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