Cornelia Dörries
Es war an einem warmen Sommerabend Mitte der Siebzigerjahre, als Winfried Brenne die Aufgabe fürs Leben fand. Der junge Architekt saß in der von Bruno Taut entworfenen Onkel-Tom-Siedlung in Berlin-Zehlendorf bei seinem Kollegen Helge Pitz auf der Terrasse. Es roch nach sandigem Boden und Wald, die alten Kiefern warfen in der späten Sonne lange Schatten, und zwischen den Bäumen leuchteten diebunten Fassaden von schlichten, schönen Häusern. Das Idyll wurde allerdings von Renovierungsarbeiten gleich nebenan gestört, und es war nicht nur Lärm, der die beiden Architekten empfindlich ärgerte.
Was sie da mit ansehen mussten, war eine rücksichtslose Verschandelung: Die alten, geteilten Holzfenster wurden durch neue, sprossenlose Fenster aus Kunststoff ersetzt; dieeinstmals farbigen, glatten Fassaden erhielten handelsüblichen Rauputz oder einen leberwurstgrauen Dispersionsanstrich. Kurzum, der eigenwilligen, ausdrucksstarken Architektur der Siedlung drohte der Garaus mit den Mitteln des Heimwerker-Baumarkts.
Helge Pitz und Winfried Brenne beschlossen noch an diesem Abend eine umfassende Bestandsaufnahme mit dem Ziel, die Architektur und das gesamte Farb- und Materialspektrum der Taut’schen Bauten so gut und gründlich wie möglich zu dokumentieren. Zwei Jahre lang opferten die beiden ihre gesamte Freizeit, um mit Taschenmessern Farbproben von den Fassaden zu kratzen, Archive zu durchforsten und jedes noch so kleine Detail dieser Gebäude zu vermessen, zu zeichnen und zu fotografieren, bis schließlich die „Erarbeitung von Grundlagen zur Erhaltung der Onkel-Tom-Einfamilienreihenhaussiedlung von Bruno Taut aus dem Jahr 1929“ in Form eines Gutachtens vorlag. Die beiden Autoren forderten darin, das Ensemble als Baudenkmal eintragen zu lassen und in seinem ursprünglichen Zustand zu erhalten: ein Manifest.
Der Wert der Kleine-Leute-Siedlungen
Zwar hatte nach dem Kahlschlag der Wirtschaftswunderjahre auch in Berlin mittlerweileein Paradigmenwechsel stattgefunden, wurden Gründerzeitbauten nicht mehr abgerissen, sondern allmählich saniert und instand gesetzt, doch die Architektur der Zwischenkriegszeit galt, abgesehen von ein paar Solitären der Bauhausprominenz, nicht einmal den Experten sehr viel. Auch der berühmte Architekturhistoriker Julius Posener, den Brenne und Pitz zu einem Ortstermin eingeladen hatten, blieb skeptisch: Was soll denn an den Kleine-Leute-Wohnsiedlungen von Bruno Taut so besonders sein?
Nach einem Rundgang durch das Quartier saß er bei Familie Pitz im Wohnzimmer, klopfte sich auf die Knie und sagte mit einer Stimme, schwankend zwischen Entschuldigung und Begeisterung: „Ich hab ihn nicht erkannt.“ Er meinte Taut und lieferte ineiner späten Würdigung gleichzeitig das Vorwort zu jenem wegweisenden ersten Beiheft der Reihe „Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin“, mit dem die denkmalgerechte Erhaltung der Großsiedlungen aus den Zwanzigerjahren in Berlin auf den Weg gebracht wurde.
Winfried Brenne erzählt diese Geschichte ziemlich genau drei Jahrzehnte später. Vor ein paar Wochen erst, im Sommer 2008, hat die Unesco sechs Wohnquartiere der sogenannten Berliner Moderne in die Welterbeliste aufgenommen; eben jene Siedlungen, für deren Erhaltung er sich seingesamtes Berufsleben über eingesetzt hat.
Das beginnt Anfang der Siebzigerjahre an der Spree. Brenne, Jahrgang 1942, hat nach ein paar Semestern Architektur von Wuppertal an die TU Berlin gewechselt. Dort arbeitet die politisierte Studentenschaft gerade daran, solche Fächer wie darstellende Geometrie abzuschaffen und das obligatorische Zeichnen durch Ideologiekritik und allerhand revolutionäre Neuerungen zu ersetzen. Erlaubt sind nur Gruppendiplome, vorzugsweise theoretische. Für das architektonische Handwerk interessiert sich in diesen Jahren kaum jemand. Doch Winfried Brenne lässt sich nicht beirren und schließt sein Studium 1975 mit einem praktischen Diplomprojekt übereine Sanierung in Lüdenscheid ab. Er will sich auch zukünftig der Arbeit im Bestand widmen und beginnt im Epizentrum der innerstädtischen Erneuerungsbewegung eine Instandsetzung am Mariannenplatz in Kreuzberg. Wenig später lernt er Helge Pitz kennen und findet so zur Berliner Moderne: Bruno Taut, Hugo Häring, Otto Rudolf Salvisberg, Paul Mebes, Hans Scharoun.
Farbrekonstruktion als Pioniertat
Die Beschäftigung mit der Zehlendorfer Taut-Siedlung mündet für Brenne und Pitz in die Gründung einer gemeinsamen Architekturwerkstatt, die bis 1990 bestehen wird. Doch es ist für beide auch eine Art Zweitstudium in angewandter Baugeschichte. Brenne spürt mit detektivischem Ehrgeiz noch der letzten Kleinigkeit hinterher; er sammelt, archiviert und hortet alles, was er über Taut und seine Entwürfe finden kann. Vor allem die Farben interessieren ihn. Im Archiv des Zehlendorfer Bauamtes entdeckt Brenne irgendwann ein Schreiben von Taut, mit exakten Angaben über die farbliche Gestaltung der einzelnen Häuser anhand eines differenzierten Farbplans, sozusagen der Schlüssel zum Ganzen.
Dass es sogar die Firma „Keimfarben“ noch gibt, bei der schon Taut die mineralischen Anstriche für seine bunten Bauten bestellte, ist mehr als eine glückliche Fügung. Mithilfe des Unternehmens gelingt schließlich die originalgetreue Wiederherstellung der ursprünglichen Farbgebung der Onkel-Tom-Siedlung, eine Pioniertat, der in kurzem Abstand die denkmalgerechten Sanierungen der berühmten Hufeisensiedlung in Britz und später der Anlage Schillerpark in Wedding folgen sollen.
Zu den beklagenswert wenigen erhaltenen Villen des Meisters gehört auch das Haus Taut selbst. Als Winfried Brenne das in Dahlewitz gelegene Wohngebäude 1987 zum ersten Mal aufsucht, muss er noch Visaanträge ausfüllen und einen Zwangsumtausch entrichten: Dahlewitz liegt jenseits der Berliner Mauer in der DDR. Das 1927 fertiggestellte Haus Taut befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem erbärmlichen Zustand. Durch das löchrige Dach dringt Regenwasser. Die so expressive wie funktionale Farbgebung der Innen- und Außenwände ist nur mehr zu erahnen.
Obwohl die Bewohner um die Bedeutung ihres Hauses wissen, erlaubt ihnen der sozialistische Mangel keine Erhaltung, geschweige denneine Restaurierung. Winfried Brenne kommt auf eine verwegene Idee: Lkw-Fahrer, die regelmäßig Westberliner Müll zu einer Deponie bei Dahlewitz transportieren, machen gelegentlich einen kleinen Umweg zum Haus Taut und laden dort Baumaterialien, Dachrinnen und Zinkbleche ab. Es kann gerettet werden. Im Zuge dieser Aktion lernt Brenne auch den Sohn von Bruno Taut kennen.
Heinrich Taut, treuer DDR-Bürger und Professor für Marxismus an der Ostberliner Humboldt-Universität, wohnt selbst zwar nicht mehr im elterlichen Haus, ist aber vom Engagement des West-Architekten sehr angetan. Als an den Mauerfall noch nicht zu denken ist, setzt er sich bei den DDR-Oberen mit Erfolg für Brennes Ideeeiner gemeinsamen Ausstellung zur Architektur der Zwanzigerjahre ein, die schließlich in Ostberlin, Weimar und Dessau gezeigt wird.
Nicht nur Frühmoderne
Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1990 erweitert sich Brennes Betätigungsfeld beträchtlich. Dank seiner langjährigen wie fruchtbaren Mission in der westlichen Hälfte Berlins steht die Bedeutung der Modernesiedlungen im Osten außer Frage. Ob die Gartenstadt Falkenberg in Berlin-Grünau oder die „Wohnstadt Carl Legien“ im Bezirk Prenzlauer Berg – bei den rasch in Angriff genommenen Sanierungen dieser Taut-Ensembles ist Brennes Expertise und aktive Mitwirkung unverzichtbar.
Für sein Engagement, mit dem er sich später auch im Sanierungsbeirat der Bauhaus-Stiftung in Dessau einsetzt, wird er 2007 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; im Jahr darauf erhält er den Knoll Modernism Prize für die Wiederherstellung der ADGB-Schule in Bernau, einem Gebäude der Bauhausarchitekten Hannes Meyer und Hans Wittwer: Ehrungen für einen Überzeugungstäter.
Doch der Architekt mit seinen ausgewiesenen Erfahrungen bei der Instandsetzung und Wiederherstellung von wertvoller Bausubstanz ist mitnichten nur in Sachen Frühmoderne gefragt. Ihm wird Ende der Neunzigerjahre auch der Umbau des Berliner Zeughauses zum Deutschen Historischen Museum anvertraut. Eine denkmalpflegerische Herausforderung, nicht nur im praktisch-handwerklichen Sinn. Heute sagt Winfried Brenne, dass ihm dieses Projekt all das abverlangte, was er in seiner Laufbahn erworben hat: das analytische Gespür fürein Gebäude, Respekt für die baulichen Sedimente der unterschiedlichen Epochen und vor allem technischen Erfindergeist. Im Zeughaus war es die Frage der Klimatisierung, die ihn so lange umtrieb, bis er eine Lösung gefunden hatte, die man dem Gebäude nicht ansieht. Dieser unauffällige, schonende Ansatz ist nicht nur für ihn der beste Denkmalschutz.
Jetzt ist er mit dem Umbau des Reichstagspräsidentenpalais beschäftigt,einem der wenigen historischen Gebäude im Berliner Regierungsviertel, entworfen von Paul Wallot und heute Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft. In seinem Büro zeichnet Brenne mit knappen, kräftigen Strichen ein paar Details auf ein Stück Papier; er ist besonders stolz auf das leichte Glasdach für den Innenhof, das er zusammen mit Ingenieuren der TU Dresden entwickelt hat. Umso erstaunlicher, dass der leidenschaftliche Tüftler keinen Rechner auf seinem Arbeitstisch stehen hat. Dafür riecht es hier immer nach frisch gespitzten Bleistiften.
Cornelia Dörries ist Soziologin und freie Journalistin in Berlin.