Von Wojciech Czaja
Was ist ein Tageslichtquotient? Warum gibt es weltweit so viele verschiedene Treppenvorschriften? Und warum werden die Dachlandschaften in Wien, München und Berlin immer hässlicher und kleinteiliger? Diesen Fragen widmet sich noch bis zum 4. April eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW). „Form folgt Paragraf“, so ihr Titel, der den weltberühmten Funktionsaphorismus von Louis Sullivan auf die Schippe nimmt, ist aber keineswegs eine so knochentrockene Angelegenheit, wie man im ersten Moment vermuten könnte, sondern eine humoristische Zusammenstellung manifest gewordener Normen, Richtlinien und Bauvorschriften, die teils sinnvolle, teils haarsträubende bauliche Lösungen mit nach ziehen.
Die Ausstellung, die die Entstehung von Architektur aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet, richtet sich nicht nur an Fachleute, sondern explizit auch an Publikum von der Straße. „Die Gesellschaft hat ein gewisses Bild von Architektur als Ausdruck einer kreativen, künstlerischen Kraft“, sagt AzW-Direktorin Angelika Fitz. „Entsprechend arrogant und übermenschlich werden Architektinnen und Architekten in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Wir möchten zeigen, dass die gebaute Umwelt auch von ökonomischen und vor allem von juristischen Kräften geprägt und geformt ist. Vielleicht versteht der Laie nach dem Rundgang etwas besser, warum die Brandschutztür in seinem Wohnhaus so schwer zu öffnen ist – und dass nicht der Architekt an diesem Umstand allein schuld ist.“
Darüber hinaus lernt man beispielsweise, dass Wiener Erde, die beim Bau eines Kellers ausgehoben und abtransportiert wird, nach zwei Kilometern Lkw-Fahrt von Gesetzes wegen zu Abfall mutiert. Dass Kinderlärm in Österreich von den Lärmschutzbestimmungen ausgenommen ist, während in Deutschland – so geschehen in einer Wohnhausanlage in Berlin, die die Ausstellung zeigt – Kinderspielplätze mitunter mit Schallschutzmauern umbaut werden müssen. Und dass im Guide to Street Vending in New York City ganz genau geregelt ist, wie weit ein Flohmarkttisch vom Randstein und somit von der Fahrbahn entfernt zu stehen hat. Alles hat seine Ordnung. Und jede Ordnung hat ihre Hüter.
Besonders absurd sind die sich mitunter eklatant unterscheidenden Stufenvorschriften, die keineswegs mit kurzen oder langen Beinen unterschiedlicher Ethnien und Gesellschaften zu tun haben, sondern schlicht und einfach Produkt des Paragrafendschungels sind. Im AzW sind die weltweiten Unterschiede nicht nur erfass-, sondern auch auf 1 : 1-Modellen physisch erlebbar. Und zwar auf eigene Gefahr, wie am Eingang der Ausstellung zu lesen ist, weil, nun ja, die im Ausland legale Treppe im Inland illegal ist.
Während man in Neuseeland mit einer maximal erlaubten Treppensteigung von 32 Grad die Höhe erklimmen darf, gleicht die japanische Treppe mit bis zu 57 Grad Steigung fast einer halsbrecherischen Hühnerleiter, auf der man sich gut und gerne am Geländer festhält. Und dass die US-Amerikaner mit 115 Zentimetern die mit Abstand größte Mindestbreite für den Bereich Einfamilienhaus haben, ist in Anbetracht des dort grassierenden Hamburger-Hungers leider nicht nur ein Treppenwitz. Ergänzt wird die Ausstellung von allerlei exotischen Paragrafenkonsequenzen aus aller Welt – anhand konkreter Beispiele aus Almere (experimenteller Städtebau), Zürich (Baugespanne bei Bauvorhaben), Tirana (Umgang mit Denkmalschutz), Tokio (Belichtungsvorschriften), Zhengzhou (Modulbauweise), Paris (Lebensmittelschutz in Backstuben) und London (Brandschutzvorschriften nach dem Brand des Grenfell Towers). Die Dichte der oft sinnentleerten Akten zeigt sich in der Ausstellungsarchitektur des Wiener Büros Planet, das aus insgesamt 7.000 weißen, leeren Aktenordnen Trennwände aufstellte. Der Wahnsinn ist augenscheinlich.