Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Beziehungsarbeit“ im Deutschen Architektenblatt 03.2023 erschienen.
Von Lorenz Hahnheiser
Wenn der Fastnachtsverein den laufenden Beteiligungsprozess zur Zukunft seines Ortes in einer Büttenrede würdigt, ist in Sachen Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung schon einiges erreicht. Das Hannoveraner Büro Endboss hat es mit seinem ungewöhnlichen Konzept zur Entwicklung der Innenstadt von Adelsheim aber nicht nur bis in die Bütt geschafft, sondern kam den Einwohnerinnen und Einwohnern noch deutlich näher.
Bürgerbeteiligung als Aktivierung
Das Team nahm sich die nötige Zeit, um mit den Leuten wie dem Ort vertraut zu werden – und vor allem: Sie gaben umgekehrt auch den Menschen Zeit, die Planerinnen und Planer unbefangen kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. „Beteiligung verstehen wir nicht als aufsuchendes Befragen, sondern bestenfalls als Aktivierung“, sagt Ivana Rohr von Endboss. „Man darf nicht unterschätzen, wie schwierig es ist, Vertrauen zu bekommen – nachvollziehbarerweise. Gerade wenn man aus einer Großstadt in den ländlichen Raum kommt, um einen ‚Masterplan‘ zu erarbeiten.“
Um eben dieses Vertrauen zu gewinnen, reiste das junge Team aus Niedersachsen wiederholt für mehrere Tage in die baden-württembergische Kleinstadt, in der rund 5.300 Menschen leben. Aber die Planenden gingen noch weiter: Um ein Gefühl für den Ort zu bekommen, recherchierten sie eine ganze Woche verdeckt als Praktikantinnen und Praktikanten in lokalen Betrieben.
Nachdem ihre Identität gelüftet war, folgte die „Was-wäre-wenn-Woche“, in der das Studio mit dem teameigenen Doppeldeckerbus Aufsehen erregte. In dieser mobilen Werkstatt, auf offener Straße und in öffentlichen Räumen bezog Endboss die Anwohnerinnen und Anwohner aktivierend mit ein. Daraus ergaben sich Handlungsempfehlungen, die im eigens einberufenen „Bürger:innenforum“ auf die Probe gestellt wurden.
Falsche Vorstellungen von Stadtplanung
Die Rolle der Stadtplanung in Beteiligungsprozessen hat widersprüchliche Facetten: Es gilt zu moderieren und Bedürfnisse herauszufiltern, gleichzeitig sollen Expertise und Haltung eingebracht, die fachlichen Interessen wiederum zurückgestellt werden. Das Studio Endboss möchte deshalb weniger die Rolle der Moderation, sondern eher die der Komplizenschaft einnehmen. Um entsprechend wahrgenommen zu werden, übernimmt das Team gestalterische Verantwortung und ermöglicht zugleich Begegnungen auf Augenhöhe.
„Dafür muss man sich meiner Ansicht nach längere Zeit vor Ort aufhalten. Es hilft, das erst mal nicht in offizieller Mission zu tun, sondern im besten Fall im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung“, sagt Ivana Rohr. „Leute haben unfassbar und häufig falsche Vorstellungen davon, was Stadtplanende machen. Wenn sie wissen, dass du Stadtplanerin bist, kommen sie mit einer Mission zu dir – wenn sie überhaupt kommen –, und man hat keine Chance, Alltag zu sehen und Probleme unvoreingenommen und unbeeinflusst zu verstehen.“
Verdeckte Ermittlung als Praktikanten
Deshalb recherchierte das Team zunächst verdeckt – auch für Endboss eine Premiere. Die Mitglieder des Teams waren eine Woche lang zum Praktikum im Bauamt, im einzigen Café des Ortes, als Bademeisterin und beim Aufbau der jährlichen Aktion „Adelsheim leuchtet“. Arbeitgebende und Kundschaft wussten nur, dass die Praktikantinnen und Praktikanten im Auftrag des Bürgermeisters recherchierten. Sie wussten nicht, dass die Auswärtigen beauftragt waren, ein Konzept zur Innenstadtentwicklung zu erarbeiten.
Kein Außenraum für Jugendliche
In aller Öffentlichkeit, aber ohne die Hürden eines klassischen Verfahrens konnte so ein ehrlicher Diskurs stattfinden und ein unverzerrtes Bild vom Adelsheimer Alltag gemacht werden.
Besonders aufgefallen ist neben dem begrenzten gastronomischen Angebot und dem entwicklungswürdigen Verkehrskonzept beispielsweise, dass Jugendliche sich kaum im Stadtbild aufhalten. Es gibt keinen Außenraum, der das zulässt, und keine Strukturen, die Jugendliche politisch einbinden.
Bock aufs Mitgestalten
Damit die Beteiligung Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, Einfluss auf den Gestaltungsprozess zu nehmen und Verantwortung übernehmen zu können, hat das Team aus den Erkenntnissen der Recherche eine Aktionswoche zusammengestellt, die „Was-wäre-wenn-Woche“. Endboss will damit einen dialogischen, koproduktiven Prozess in Gang bringen: „Der Kern einer Beteiligung ist es unserer Meinung nach, die Leute für ihre eigene Umwelt zu begeistern, sodass sie Bock haben, eigenverantwortlich mitzugestalten“, so Ivana Rohr.
Bürgerbeteiligung mit Doppeldeckerbus
In der „Was-wäre-wenn-Woche“ wurde der Doppeldeckerbus zum Schulbus, ein Pop-up-Restaurant kochte lokale Trüffelpasta, ein Workshop feilte an kleineren Interventionen und viele weitere Programmpunkte wurden von Einzelpersonen, lokalen Vereinen sowie Gruppen unterstützt und von Endboss zusammengestellt. Einige der Gruppen gab es bereits vor dem Verfahren, andere kamen dadurch zusammen. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger fantasievoll in die Lage versetzt werden, den Status quo infrage zu stellen, können sie aktiv werden – so der Gedanke.
Eine Podiumsdiskussion mit eingeladenen Jugendlichen zeigte: Obwohl die Stadt die Jugendlichen kaum berücksichtigt, können sich viele vorstellen, in Adelsheim zu bleiben oder irgendwann zurückzukommen. Es gilt, neue Perspektiven zu schaffen, damit dieses Potenzial nicht verschwendet wird. Gemeinsam mit den Jugendlichen sollen darum Strategien entwickelt werden.
Einzelhandel und Handwerk stärken
Aus den Erkenntnissen der ersten Schritte formulierte Endboss Leitziele. Dazu schlug das Büro passende Pilotprojekte vor, die von den Vereinen und Gruppen getragen werden. Im „Bürger:innenforum“ wurden daraufhin Interessierte eingeladen, im Verlauf eines Workshop-Tages zum Zwischenstand ein Feedback zu geben.
Das Forum unterstützte und entwickelte die Vorschläge. So soll unter anderem die Kirche in einen offenen Ort umgestaltet, eine genossenschaftliche Bar betrieben und ein Residenz-Programm für Einzelhandel und Handwerk geschaffen werden. Mit Letzterem will man sich frühzeitig um Unternehmensnachfolge kümmern und Jugendlichen eine wirtschaftliche Perspektive schaffen. Nachwuchsunternehmerinnen und -unternehmer bekommen Platz in den Läden der Innenstadt, um mit geringem Risiko das eigene Geschäftsmodell auszuprobieren.
Ein Handbuch und ein guter Plan
Zusammengefasst in einem Handbuch, dienen die Ziele, Projektvorschläge und Handlungsempfehlungen den Menschen in Adelsheim als Werkzeug, um die Ortsentwicklung zu bestreiten. Das Endprodukt soll nicht Masterplan, sondern „Ein Guter Plan“ heißen. Statt eine großräumliche übergriffige Strategie zu entwickeln, gehe es vielmehr darum, ortsspezifische Taktiken vorzuschlagen, so die Planenden.
Doch lohnt sich ein so aufwendiges Vorgehen für ein Büro auch finanziell? Solche Verfahren werden üblicherweise als Dienstleistung angeboten, unterschiedliche Herangehensweisen in Bezug auf Preis und Effizienz stehen dabei in Konkurrenz. Unaufwendige Prozeduren sind wirtschaftlicher, verfehlen jedoch mitunter ihren Zweck. In Adelsheim war die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Bundesförderung „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ obligatorisch. Über das geforderte Minimum ging das Team von Endboss deutlich hinaus.
Lohnt sich diese Art der Bürgerbeteiligung?
Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten war das knapp kalkuliert, mit Blick auf den eigenen Erfahrungshorizont konnte das Team einen großen Gewinn verbuchen. Endboss würde es wieder so machen – an einem Nachmittag lasse sich die DNA eines Ortes einfach nicht erfassen, so Ivana Rohr. Probleme seien zwar vielerorts ähnlich gelagert, aber lokalspezifische Taktiken ließen sich nicht ohne ein ausgeprägtes Verhältnis zur Bevölkerung finden: „Es wäre nicht möglich gewesen, die Kontakte für die Aktionswoche zu knüpfen und die Leute dazu zu bewegen, mitzumachen, wenn wir nicht selbst vor Ort gewesen wären. Beteiligung ist zu 100 Prozent Beziehungsarbeit.“ Bürgermeister Wolfram Bernhardt ergänzt: „Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger von Adelsheim ermöglicht eine demokratische Stadtentwicklung.“ Er ist überzeugt: „Mit diesem Vorgehen lässt sich in der Stadt im Sinne aller etwas verändern.“
Weitere Beiträge finden Sie auch gesammelt in unserem Schwerpunkt Kommunikativ.
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Was für ein wundervoller Artikel zu einer ganz wundervollen und so gut durchdachten Strategie. Großes Lob an Endboss!
Warum viele Menschen nicht (mehr) an Bürgerbeteiligungen teilnehmen?
Weil die Ergebnisse von den Stadtplanern (auch in der Verwaltung) nicht angemessen berücksichtigt werden.
Krasses Beispiel: Eine Kommune beauftragt ein anerkanntes Meinungsforschungsinstitut damit, eine repräsentative Bürgerbefragung durchzuführen. Diese ist mit der extrem hohen Rücklaufquote von 36,13% sehr erfolgreich. Es sollte die (bislang strittige) Frage wissenschaftlich geklärt werden, wie die Bürgerinnen und Bürger zu der Grünanlage auf einem innerstädtischen Platz stehen. Und was macht die Bauverwaltung aus diesem repräsentativ gültigen Ergebnis, das auf „Erhalt der Anlage“ lautet? Sie macht genau das Gegenteil zum Bürgerwillen: Verwaltung und Oberbürgermeister verdrängen geschickt das Ergebnis aus der öffentlichen Wahrnehmung und setzen ihre Planungen für einen Abriss fort (übrigens für ein frühes Beispiel des Green Urbanism von 1982 !). Dies geschieht so in Braunschweig: Umfrage Hagenmarkt Oktober/ November 2021.