Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Standard oder radikal?“ im Deutschen Architektenblatt 05.2022 erschienen.
Von Simone Hübener
Grüne Büschel, natürlich vergrautes Holz und raumhohe Verglasungen erblicken die Flanierenden, die durch den kleinen Park an der Theodor-Kober-Straße an diesem 95 Meter langen Gebäuderiegel vorbeischlendern. Der Hingucker in München-Riem enthält neben 35 Wohnungen verschiedene Gemeinschaftsräume und die Büroflächen der ArchitekturWerkstatt Vallentin, die das Haus für eine Baugemeinschaft konzeptionierte.
Beispiel 1: Baugemeinschaft StadtNatur in München
Ihr im umfassenden Sinn nachhaltiges Konzept überzeugte die Verantwortlichen der Stadt München im Vergabeverfahren zum Festpreis. Der Energieverbrauch und die ausgewählten Baustoffe spielten dabei ebenso eine Rolle wie Barrierefreiheit, die Grundstruktur der Hausgemeinschaft und die Wohnfläche, die pro Person zur Verfügung stehen würde.
Damit die auf geduldigem Papier niedergeschriebenen Worte später auch in die Tat umgesetzt werden, prüft die Stadt München bei solchen Verfahren die einzelnen Konzeptbausteine nach Fertigstellung und verhängt bei Nichterfüllen empfindliche Geldstrafen oder lässt auch umbauen. Das alles war bei der Baugemeinschaft StadtNatur schon deshalb nicht nötig, da dem Architektenteam selbst sehr viel an den Projektzielen gelegen ist.
Passivhaus Plus: Photovoltaik und Luft-Wasser-Wärmepumpe
Das Passivhaus Plus staffelt sich über drei Geschosse in die Höhe und bietet dadurch wie von selbst Platz für unterschiedliche Wohnungsgrößen: von etwas größeren Vier-Zimmer-Wohnungen im Erdgeschoss über kleinere im ersten Obergeschoss und solchen mit drei Zimmern in der obersten Etage. Nach rund zwei Jahren Planungszeit bezogen im Herbst 2020 die Ersten ihr neues, in Holzhybridbauweise erstelltes Zuhause.
Die 616 Quadratmeter große Photovoltaik-Anlage auf dem Dach mit kleiner Speichereinheit liefert seitdem mehr Energie, als die Bewohnerinnen und Bewohner – sowie die Luft-Wasser-Wärmepumpe, die für warmes Wasser und warme Wohnungen sorgt – benötigen. Eine Dämmung aus Zellulose, Dreischeibenverglasung, ein extensiv begrüntes Dach, eine kontrollierte Belüftung mit Wärmerückgewinnung sowie Sonnensegel und außen liegende Vorhänge sorgen sommers wie winters für angenehme Innenraumtemperaturen und einen Heizwärmebedarf von lediglich 14 kWh/(m²a).
Zu viele Parkplätze vorgeschrieben
Der als Trennung zwischen den Veranden gepflanzte Bambus leistet ein Übriges. Die geforderte, insbesondere in Städten viel zu hohe Anzahl an Stellplätzen durfte das Architektenteam immerhin von einem pro Wohnung um ein Viertel auf 0,75 reduzieren. Die am Ende trotzdem ungenutzten Pkw-Stellplätze werden durch die Montage von Fahrradständern nun einfach und schnell umfunktioniert. Umgesetzt hat die ArchitekturWerkstatt Vallentin Haus und Energiekonzept mit einfachen Standardkomponenten, die bewährt und, relativ gesehen, kostengünstig sind.
Beispiel 2: Genossenschaft K76 in Darmstadt
Radikal und in weiten Teilen neuartig ist dagegen das Konzept für die Wärme- und Stromversorgung der Wohnungen im Darmstädter Genossenschaftshaus K76. Das Team des ortsansässigen Architekturbüros werk.um entschied sich für ein Nur-Strom-Haus. Der Gedanke dahinter: Zentrale Lösungen für Heizung und Warmwasser verursachen unnötige Energieverluste, sorgen für einen Großteil des Gesamtenergieverbrauchs, wodurch auch der individuelle Einfluss deutlich sinkt, und in den verbauten Materialien steckt jede Menge graue Energie. In K76 ist deshalb jede der 14 Wohnungen lediglich mit einem Kaltwasser- und einem Stromanschluss ausgestattet.
Das Nur-Strom-Haus: keine zentrale Wärmeversorgung
Der Bau des Genossenschaftshauses nur fünf Gehminuten von der Innenstadt entfernt ist der Entscheidung einer Erbengemeinschaft zu verdanken. Sie wollten das Grundstück verkaufen und fanden Gefallen am Konzept der Baugenossenschaft. Zwei Mitinhaber von werk.um und heute mit ihren Familien auch Bewohner des Hauses sowie eine dritte Person gründeten 2015 eine Genossenschaft und legten bereits die grobe Struktur des Hauses mit Basis-Grundrisseinheiten von 60 Quadratmetern sowie das Technikkonzept fest. Damit waren wichtige Entscheidungen getroffen, der Gestaltungsspielraum für die weiteren Mitglieder ausreichend groß, und gleichzeitig brachte diese Vorgehensweise eine Zeitersparnis von mehreren Jahren mit sich.
Flexible Grundrisse und wenig Wohnfläche pro Kopf
Die Grundeinheit von 60 Quadratmetern lässt sich dank intelligenter Erschließung sogar noch einmal halbieren und als separate Wohnung ausbauen oder zu Teilen einer Nachbarwohnung zuschlagen. So konnten und können sich hier alle, ob Single, Wohngemeinschaft, Klein- oder Großfamilie, die passende Wohnungsgröße zusammenstellen. Positiver Nebeneffekt: Die Pro-Kopf-Wohnfläche reduziert sich im K76 auf 35 Quadratmeter pro Person und damit um 25 Prozent verglichen mit dem bundesweiten Durchschnitt. Auf der Südseite erweitern großzügige Balkone den Wohnraum. Der Laubengang zur Nordseite hin erschließt zum einen die Wohnungen und sorgt zum anderen für zusätzliche Gemeinschaftsflächen. Die Tragstruktur ist aus Ortbeton gefertigt, die Innenwände sind für einen einfachen Umbau in Trockenbau ausgeführt.
Wärme durch Infrarotheizflächen und Durchlauferhitzer
Für behagliche Wärme in den Wohnungen sorgen Infrarotheizflächen unterhalb der Decke, warmes Wasser erzeugen Durchlauferhitzer direkt am Ort des Verbrauchs. Dadurch werden unnötige Transportverluste vermieden. Dieses Nur-Strom-Konzept mag auf den ersten Blick unökologisch erscheinen. Doch zum einen deckt der von der eigenen PV-Anlage erzeugte Strom rein rechnerisch den kompletten Bedarf für die Heizung.
Zum anderen wird der für Hausgeräte und Beleuchtung benötigte Rest als Ökostrom von einer Energiegenossenschaft zugekauft. Hinzu kommen die eingesparten Ressourcen aufgrund der Haustechnik, auf die verzichtet wurde und damit auf eine große Menge graue Energie, sowie die reduzierte Pro-Kopf-Wohnfläche. So überzeugt das K76 auf seine spezielle Art als zukunftsweisendes Projekt.
Terra.Hub ist komplett autark, weshalb auf den Anschluss an die Gas- und Stromversorgung verzichtet wurde. (Klicken für mehr Bilder)
Beispiel 3: Gemeinschaftshaus Terra.Hub im Erzgebirge
Für eine weitere ambitionierte Möglichkeit, wie wir unsere Gebäude künftig mit Energie versorgen – und sie sogar autark machen – könnten, steht ein kleines Vorzeigeprojekt im 800 Einwohner zählenden Dorf Ursprung im Erzgebirge. Die Geschichte des komplett autarken Gemeinschaftshauses Terra.Hub beginnt bereits im Jahr 2011. Damals kaufte der Bauherr für sich und seine Familie das sechs Hektar große Grundstück eines ehemaligen Vierseithofs, um dort als Selbstversorger – und das auch auf die Energie bezogen – zu leben. Das erhaltene Wirtschaftsgebäude wurde restauriert, Wohnhaus und Torhaus wurden neu gebaut. Außerdem legte die Familie einen 4.000 Quadratmeter großen Natur-, Heil- und Therapiegarten an.
Vierseithof wird Dorf-Treffpunkt
Mit dem vierten Gebäude wollte der Bauherr zwei unterschiedliche Lücken auf einmal schließen: die bauliche und eine soziokulturelle. Seit der Wende fehlte im Dorf ein gemeinsamer Ort für Veranstaltungen und den Austausch untereinander. Deshalb beauftragte er das in Dresden ansässige Architekturbüro furoris X art mit dem Entwurf eines kleinen Gebäudes, das sich erst einmal flexibel für Veranstaltungen nutzen lassen und hohe Anforderungen an die Nachhaltigkeit erfüllen musste sowie später einfach in ein Wohnhaus umzubauen sein sollte.
Den Weg zur Umsetzung ebnete die erfolgreiche Teilnahme des Bauherrn am simul+-Ideenwettbewerb 2019, den der Freistaat Sachsen ausgelobt hatte. Das lateinische Wort „simul“ heißt ins Deutsche übersetzt „zusammen“ und soll, so die Auslober, „Menschen zusammenbringen, um gemeinsam einen Mehrwert – ein Plus – zu erreichen“.
Stahl, Holz und Polycarbonat
Der 15 x 8,5 Meter messende Neubau erinnert optisch an eine traditionelle Scheune und zeigt sich aufgrund des leicht aus dem rechten Winkel verdrehten Firsts und der damit einhergehenden unterschiedlich hohen Traufkanten gleichzeitig als ein zeitgenössisches Projekt. Das Tragwerk ist als Kombination aus einer schwarz lackierten Stahlskelettkonstruktion mit tragender Brettstapelverkleidung aus österreichischer Fichte konzipiert. Die Außenwände sind je nach Ausrichtung mehr oder weniger offen gestaltet und lassen dank der transluzenten Polycarbonat-Stegplatten viel Tageslicht ins Innere. Wenngleich Polycarbonat derzeit noch aus Erdöl hergestellt wird, kann es gerade bei Bauten wie dem Terra.Hub seine Vorteile ausspielen, wie eine im Vergleich zu Glas viel geringere Wärmeleitfähigkeit, sein geringes Gewicht und seinen günstigen Preis (Hier erfahren Sie mehr über Polycarbonat und beispielhafte Projekte).
Energieautark mit Wasserstoff-Elektrolyse und Biokraftwerk
Das Konzept für Heizung und Warmwasser besteht aus drei Komponenten: einer Wasserstoff-Elektrolyseanlage, einer Photovoltaikanlage auf der nach Süden ausgerichteten Dachfläche, deren Module in Chemnitz hergestellt wurden, und einem Biomeiler, der mit gehäckselten Ästen und Pferdemist gefüllt wird. Der Terra.Hub ist deshalb Sachsens erstes CO2-neutrales Gebäude, das – wie sich nach den ersten rund neun Monaten der Nutzung herausgestellt hat – sogar deutlich mehr Energie produziert, als es selbst verbraucht. Diesen Überschuss könnte es an Nachbargebäude abgeben, sodass ein zukunftsweisender lokaler Energieverbund entstünde.
So zeigt das Beispiel eindrücklich, wie auch die beiden Projekte in München und Darmstadt: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, die Planenden Überzeugungsarbeit leisten und auch die Bauherrschaft bereit ist, neue Wege zu gehen, dann ist schon heute viel möglich für eine lebenswerte Zukunft – und die gestalterische und konzeptionelle Vielfalt bleibt dabei nicht auf der Strecke.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Nachhaltig.
Schöne Beispiele, wie es gehen kann, bzw. könnte!
Leider spielt die Politik, die Steuergesetzgebung und sicherlich einige Lobbyisten, noch nicht so mit wie es notwendig wäre. Wenn man z.B. nur an die Anschaffung einer PV-Anlage auf dem eigenen Dach denkt (schlimmer wird es noch, wenn der Strom als Mieterstrom verwendet werden soll – unvorstellbar, wie dagegen „gemauert“ wird und wie viele Steine hier in den Weg gelegt werden).
Danke, interessante und vorbildliche Objekte.
Schön wären ein paar weitere Zahlen wie die berechneten und tatsächlichen Energieverbräuche im Betrieb.