Annette Ahme stellt immer wieder die Legitimation von Architekten in Frage. Sie ist Vorsitzende der Gesellschaft Historisches Berlin, einem Verein mit rund 1.000 Mitgliedern, der sich für ein historisches und kleinteiliges Stadtbild und für Rekonstruktionen einsetzt. In jüngster Zeit kämpfte sie vor allem gegen zwei Projekte von David Chipperfield auf der Berliner Museumsinsel: das vorgesehene Eingangsgebäude und den für sie zu wenig originalgetreuen Wiederaufbau des Neuen Museums. Ahme ist studierte Historikerin und war für die Grünen Mitglied des Berliner Landes- und des Kreuzberger Bezirksparlaments.
An dieser Stelle sollte eigentlich der Abdruck eines Streitgesprächs zwischen Annette Ahme und der führenden Berliner Vertreterin eines Architektenverbands erscheinen. Wenige Stunden vor dem vereinbarten Termin sagte die Verbandsvertreterin mit dem Worten ab: „Es hat keinen Sinn, sich mit solchen Leuten an einen Tisch zu setzen.“ Gern hätten wir an dieser Stelle Ahmes Ansichten von der Repräsentantin des Berufsverbands kommentieren lassen. Wir bedauern, dass es nicht dazu gekommen ist.
Wir überlassen gemeinhin das Operieren den Chirurgen und die Rechtsprechung den Juristen. Warum überlassen Sie nicht die Architektur den Architekten?
Weil von der gebauten Umwelt alle und jeden Tag betroffen sind. Wir haben ein Recht auf eine harmonische, individuell strukturierte, ansprechend gebaute Umwelt.
Also genau das, was Architekten lernen und anstreben.
Was sie aber oft nicht praktizieren und was nach der bei derzeit herrschenden Architekturlehre geradezu verboten ist. Es herrscht eine Geschmacksdiktatur, die langweilige Glätte, Monotonie und Schmucklosigkeit vorschreibt. Ornament in einem Atemzug mit Verbrechen zu nennen – so ein Blödsinn! Sehen Sie sich historische Berliner Mietshäuser mit und ohne Stuck an. Die kahlen Fassaden sind doch trostlos.
Am trostlosesten war aber doch das Leben der Armen vor 100 Jahren in diesen Häusern – auch hinter Stuck. Und die von Ihnen bekämpfte Moderne hat sie dort herausgeholt.
Die Moderne hat die Stadt aufgelöst. Ob es den Menschen in langweiligen Neubauvierteln oder den französischen Banlieus besser geht, wage ich zu bezweifeln. Architektur, also gebaute Umwelt, sollte dem Menschen, auch dem heranwachsenden Menschen, Geborgenheit und Heimat bieten.
Ist Architektur für Sie vor allem eine Geschmacksfrage?
Es geht natürlich auch um Geschmack und um Schönheit. Aber das ist nichts rein subjektives, sondern das kann man definieren. Eine 200 Meter lange monotone, kein bisschen aufgelockerte Fassade findet doch fast niemand schön außer den dominierenden Architekten. Ich habe manchmal den Eindruck, diesem Stand wird der Schönheitssinn im Studium geradezu abtrainiert.
Es gibt auch andere Werte. Ist nicht gerade für Sie als Historikerin die Idee des zeitgenössischen Bauens einleuchtend? Da schafft jede Epoche ihre eigenen Geschichtszeugnisse.
Gerade als Historikerin will ich dem Stadtbild ansehen, wo wir herkommen. In weiten Teilen von Köln, Hannover oder Berlin kann ich das nicht. Da gibt die Dominanz des Zeitgenössischen ein völlig falsches Geschichtsbild. Das Stadtbild täuscht vor, dass die Stadtgeschichte mit Ausnahme einzelner Kirchen erst 1950 eingesetzt habe.
Nehmen Sie die Täuschung in Kauf, dass es scheinbar keinen Bombenkrieg gab?
Kennen Sie jemanden, der das behauptet? Ich nicht. Für mich ist aber auch die Rekonstruktion eines bedeutenden Geschichtszeugnisses manchmal viel ehrlicher als sein Fehlen.
Soll nicht Architektur das Leben widerspiegeln, wie es jeweils zur Bauzeit gerade ist?
Die Haltung finde ich viel zu wenig selbstbewusst. Sie muss doch nicht der Globalisierung, dem Internet oder irgendwelchen Zeittrends hinterher jagen. Sondern sie sollte zu dieser Unrast, zur Ortlosigkeit und Anonymität einen Gegenpol bilden. Die Menschen wollen doch gerade in dieser Welt das Statische, Wiedererkennbare, über Jahrzehnte Gleiche und natürlich dauerhaft Schöne.
Architektur früherer Zeiten war aber durchaus zeitgenössisch, also eng verknüpft mit früheren Lebensweisen und Herrschaftsverhältnissen. Kann man das eine wollen und das andere nicht?
Natürlich kann man das. Wer ein historisches Stadtbild liebt, ist doch nicht deshalb politisch reaktionär. Ich zum Beispiel bin im Herzen Grüne, demokratisch, ökologisch, republikanisch. Es spricht ja auch nicht gegen moderne Architektur, dass Hitler sehr moderne Industrie- und Verkehrsbauten errichten ließ. Diese Verbindung zwischen Baustil und politischer Gesinnung existiert für mich nicht.
Auf welcher Grundlage sollen nach Ihrer Ansicht Architekten von heute entwerfen?
Sie sollen sich mehr nach dem Geschmack der Bürger richten und diesen nicht von vornherein für unfein erklären.
Gibt es nicht auch grauenvollen Massengeschmack?
Wenn er verdorben ist, dann dadurch, dass die selbsternannte Elite ihm nichts Ansprechendes und zugleich Hochwertiges liefert. Die Leute suchen doch aus Verzweiflung nach den Idyllen, die sie in ihrem Wohnbereich vermissen, und nehmen dann, was sie kriegen können.
Würden Sie selbst sich als architektonisch gebildet bezeichnen?
Ich habe mich seit Jahrzehnten mit der gebauten Umwelt beschäftigt und bin mit einem Architekten verheiratet. Aber es steht mir nicht zu, über meinen eigenen Bildungsgrad zu urteilen.
Gibt es aktuelle Architektur, die Sie mögen?
Ja, zum Beispiel die Stadthäuser auf dem Friedrichswerder in Berlin. Sie sind kleinteilig, abwechslungsreich und teils sehr schön gestaltet. Der eine oder andere Glaskasten dazwischen fällt gar nicht so auf. Ich schätze auch expressive Bauten der Moderne wie zum Beispiel das Tempodrom. Unser Verein hat sich auch stark für den vielleicht elegantesten Betonbau aus DDR-Zeiten eingesetzt, das leider dann doch abgerissene so genannte Ahornblatt von Ulrich Müther. Ich fand das ausdrucksstark und sprechend für eine bestimmte Zeit und Haltung.
Ihr Hauptgegner in jüngster Zeit war und ist David Chipperfield. Warum stellen Sie ihn in Frage?
Er negiert das Werk von Friedrich August Stüler, stellt es auf den Kopf und erschlägt es mit viel Beton. Unesco-Weltkulturerbe bedeutet aber, dass etwas ganz Spezielles, weltweit Einzigartiges geschützt und für die Welt erhalten wird, in diesem Fall die spezifische Leistung der preußischen Baumeister und Künstler. Internationale Architektur kann überall sein, aber gerade hier ist sie fehl am Platz. Im Übrigen ist Chipperfield nicht frei von Ressentiments gegenüber der deutschen Geschichte – zu Recht, na gut. Nur: Mahnmale, die an den Krieg erinnern, haben überall in Berlin eine Berechtigung, nicht aber auf der Museumsinsel, nicht als Hauptaussage. Einschusslöcher als Kriegsspuren sollen bleiben, aber dennoch heißt die Hauptaufgabe doch Heilung, Instandsetzung, Wiederherstellung.
Sie zweifeln die Legitimation vieler Architekten an. Wie begründen Sie eigentlich Ihre eigene – nur mit Ihrem persönlichen Geschmack?
Ich zweifle nicht die Legitimation von Architekten an. Ich bin nur so frei, ihre Arbeit kritisch zu kommentieren, davon lebt unsere Gesellschaft. Und was den Geschmack betrifft: Es ist ja nicht nur meiner. Zur Museumsinsel haben wir 21.000 Unterschriften gesammelt. Ich erhalte immer wieder Briefe und andere Formen der Zustimmung; oft heißt es sinngemäß: Endlich sagt es mal jemand. Oder nehmen Sie die Umfrage, die wir vor einigen Jahren gemacht haben. Da konnte jeder, der es wollte, in unserem Laden Unter den Linden Berliner Neubauten beurteilen. Die historisch orientierten, liebevoll verzierten und gegliederten Bauten haben mit Abstand am besten abgeschnitten, glatte moderne Kisten landeten ganz unten.
War das eine methodisch abgesicherte Umfrage?
Das sollte es nicht sein. Aber wir haben nichts manipuliert und ein klares Stimmungsbild bekommen.
Über wichtige Projekte entscheiden letztlich nicht Architekten, sondern demokratisch gewählte Gremien. Gerade Sie als frühere Abgeordnete müssten solche Entscheidungen doch anerkennen.
Gerade ich habe immer wieder erlebt, wie wenig Selbstbewusstsein die Politik hier hat. Ständig hieß es: Aus Gestaltungsfragen halten wir uns heraus, das überlassen wir den Fachleuten. Architektur ist viel zu selten Thema in unseren Volksvertretungen. In Fragen der Stadtgestaltung haben wir keine funktionierenden demokratischen Strukturen, sondern selbst ernannte elitäre Zirkel, die entscheiden.
Welche Strukturen favorisieren Sie?
Für mich ist die Schweiz ein Vorbild. Da können die Bürger abstimmen – und es gibt dort keine schlechtere Architektur, sondern auch durchaus interessante moderne Bauten. Architekten müssen sich dort aber stärker dem Urteil der Bevölkerung stellen. Planungen müssen in Gerüststangen vor Ort simuliert werden, damit die Bürger sie sich vorstellen können. Das ist doch wegweisend, das könnte man übernehmen.
Sie sollten hier eigentlich mit einer Architektin am Tisch sitzen, die ganz anders über diese Fragen denkt als Sie.
Schade, dass es nicht dazu gekommen ist. Ich habe öfter den Eindruck, manche Architekten wollen nur mit ihresgleichen reden. Diese Funkstille, diese Dialoglosigkeit bedauere ich sehr.