Text: Nils Hille
Schön ist was anderes. Der Dom zum Beispiel, ja klar. Oder die kleinen Gassen der Altstadt. Ein Spaziergang am Rhein wäre auch nicht schlecht. Und dann vielleicht hin zum Rheinauhafen mit seinen Kranhäusern. Alles sehenswert. Aber nein, Boris Sieverts und ich treffen uns auf der anderen Flussseite in Köln-Kalk auf einem Platz, der noch nicht mal einen Namen hat (1). „Kalk Post“ heißt nur die U-Bahn-Haltestelle darunter, über der wir verabredet sind.
Profitieren will ich heute von Sieverts’ Kenntnissen über das Rechtsrheinische, die eher berüchtigte „Schäl Sick“. Um Schönheit geht es dem früheren Architekturstudenten Sieverts nicht bei seinen alternativen Führungen, die er in seiner Heimatstadt, aber auch in vielen weiteren „unerforschten inneren und äußeren Randgebieten unserer Metropolen und Ballungsräume“ anbietet, wie er es auf seiner Internetseite formuliert. Für ihn gelten andere Maßstäbe: „Ich unterteile nicht in schön oder hässlich, sondern in interessant oder langweilig.“
Langweilig wird es hier in Kalk nicht, wie ich später hautnah erfahren darf. Doch der Start der Tour ist noch entspannt. „Der schlechte Ruf und der Eisenbahngürtel, der um den Stadtteil führt, haben Kalk lange Zeit isoliert“, erzählt Sieverts bei den ersten Schritten. Früher begann gegenüber dem namenlosen Platz das riesige Areal der Chemischen Fabrik Kalk, kurz CFK. Mein Stadtführer erinnert sich, während wir eine Straße überqueren: „Sie verströmte häufig einen süßlichen Geruch und sorgte auch nachts für Geräusche, die ich mir nie richtig erklären konnte.“ Mitte der 1990er-Jahre verschwand beides. Die CFK wurde abgerissen; nur ihr Wasserturm ist stehen geblieben. Er thront auch heute noch über dem Einkaufscenter „Köln Arcaden“, das seit 2005 auf einem Teil des Geländes seinen Platz gefunden hat (2). Die Kalker nehmen dieses „kleine, vorher für sie unbekannte Stück Glamour“, wie Sieverts es nennt, an. Auch er akzeptiert die Arcaden als neueren Teil des Viertels, zeigt sich aber enttäuscht von ihrer Platzierung: „Der dahinterliegende Bürgerpark lässt sich vom Platz aus direkt nur durch das Center erreichen. Wenn es geschlossen hat, müssen die Kalker einen langen Umweg in Kauf nehmen.“
Wir sind mitten am Tag dort und wählen somit den direkten Weg durch das Gebäude: mit der Rolltreppe in die erste Etage und raus auf das Parkdeck (3). Hier wird deutlich, wie eingepfercht der Wasserturm zwischen dem mehrgeschossigen Parkhaus steht. Ein etwas skurriles Bild, wie ich finde. Sieverts sieht das zwar auch so, aber noch mehr: „Der Turm ist als Symbol und Landmarke schon gut. Ich hatte schon überlegt, mein Büro da reinzuverlegen. Es führt aber nur eine dürre Stahlgittertreppe hinauf und ich bin nicht schwindelfrei.“ Ein paar Stufen vom Parkdeck hinunter schafft er hingegen gut. Schon stehen wir im Bürgerpark hinter dem Center, der wie auf einem Reißbrett angelegt zu sein scheint (4). Er ist von jeder Stelle zu überblicken. Die wenigen Bäume dürfen nur in ihren Spitzen wachsen und nicht in die Breite; Büsche oder Hecken gibt es nicht. Dafür dominieren fest eingeteilte rechteckige Sportfelder und der Spielplatz das Bild. Auch wenn Sieverts sich ein „eher wüstenartiges, kreativ bespielbares Gelände“ gewünscht hätte, sieht er ebenso Positives: „Dieser einzige, dürftig angelegte Park im Stadtteil wird von den Kalkern sehr gut angenommen. Am Wochenende ist hier die Hölle los.“ Unter der Woche wirkt er eher wie ein Friedhof.
Wir ziehen weiter zum neuen Wohngebiet. Einige Mehrparteienhäuser sind schon fertig, andere entstehen gerade. „Hier versuchten Investoren zunächst, sehr hochwertige Wohngebäude zu schaffen. Dafür fanden sie aber keine Kunden“, erklärt Sieverts und zeigt auf die nun eher eng stehenden gewöhnlichen Neubauten. Auch sie werden angenommen – der Wohnraum in Köln ist knapp.
Jetzt kommt ein altes, von Backsteinen geprägtes Fabrikgelände (5). Was hier für mich wie ein typischer verwechselbarer Hinterhof eines kleinen Industriegeländes daherkommt, ist für Sieverts „ein weiteres fantastisches städtebauliches Angebot, auf dessen Qualität nicht eingegangen wurde“. Er sieht in vielen irgendwann einmal bebauten sowie in einfach brachliegenden Arealen Potenzial – oder hat einfach Freude daran.
Das Besondere erkennt Sieverts auch an dem eher funktionalen Bau eines Musikinstrumente-Fachhandels, über dessen Parkplatz wir nun gehen: „Es ist der einzige Bau in dem Gewerbegebiet, der, mit seinem Balkon in Richtung des Autobahnanschlusses, wenigstens an einer Stelle mit der Situation umgeht.“ Auf ihm können die Kunden einen Kaffee trinken. Ihr Blick fällt dabei auf die Auf- und Abfahrtsrampen der Westumgehung Kalk. Unter sie führt unser Weg, nachdem wir eine kleine Böschung bewältigt haben. Es ist schon eine besondere Perspektive, vor und über sich vier geschwungene Straßen und Brücken zu sehen (6). Sieverts nennt das „eine Qualität des rechtsrheinischen Köln“ und erfreut sich an den Spuren menschlicher Nutzung unter den Brücken. BMX-Fahrer haben diesen Bereich zum Start ihres Parcours gemacht. Steine, die fest auf einem schrägen Zugang unter der Brücke verlegt waren, wurden gelockert und dienen nun im unteren Teil als Rampe für die Freizeitsportler. Für mich sieht es auf den ersten Blick doch mehr nach Unordnung, gar Vandalismus aus. Andererseits muss dieser Anblick im Niemandsland auch niemanden stören, denke ich dann – und bin von mir selbst überrascht, wie schnell ich Sieverts’ Blickwinkel einnehme.
Ein paar Meter auf dem Parcours entlang und einen erneuten kurzen Aufstieg später stehen wir unter der Stadtautobahn (7). Ist hier die sogenannte Zwischenstadt – ein Begriff, den sein Vater, Architekt Thomas Sieverts, geprägt hat? „Nein, sie liegt fünf bis sechs Kilometer weiter außerhalb, an der Grenze zwischen Stadt und ländlichem Raum“, antwortet der Sohn. Die Bereiche, in denen er auf seinen Touren unterwegs ist, nennt er „Metrozone“: „Das sind einstige Randgebiete, in denen die Stadt all das untergebracht hat, was in ihr keinen Platz fand oder unerwünscht war. Doch durch das Wachstum der Stadt gehören diese Flächen mittlerweile fast zur Innenstadt.“
Ich versuche nun, auch das Areal unter der Stadtautobahn mit den Augen von Sieverts zu sehen. Und es gelingt mir erstaunlich schnell. Schon bevor er von den Möglichkeiten spricht, die hierin liegen, komme ich selbst auf Ideen. Wo findet man sonst schon so zentrumsnah eine große überdachte Freifläche, die auch bei schlechtem Wetter für Veranstaltungen geeignet scheint? Prompt erzählt Sieverts: „Das letzte Fest der Bürgerinitiative Kalkberg fand hier spontan seinen Platz, sonst hätte es wegen Dauerregens abgesagt werden müssen.“
Wäre es trocken geblieben, wären die feiernden Menschen auf den Kalkberg gezogen, eine direkt daneben liegende künstliche Erhebung, die sie auch „Monte Kalk“ nennen (8). Die rund 25 Meter Höhe sind durch aufgeschüttete Abfälle der CFK entstanden. Davon sehe ich aber nichts, sondern stattdessen einen herrlich wild bewachsenen Berg mit kleinen Wegen, der eine perfekte Sicht auf das rechtsrheinische Köln bietet. „Diese grüne Aussichtsplattform schafft einen gelungenen Kontrast zu den Verkehrsräumen und den dichten Wohn- und Gewerbegebieten drum herum“, sagt Sieverts, der neben mir zum Stehen kommt. Und das vorerst zum letzten Mal. Kurz nach unserem Besuch bekommt er ein Schreiben des Besitzers, der ihm den Zugang untersagt. Mit einigen Mitstreitern kämpft Sieverts für den freien Zugang zum Kalkberg. Der Rat der Stadt hat aber beschlossen, hier ein Luftrettungszentrum mit Hubschrauber-Landeplatz zu errichten.
Schnell und steil geht es für uns hinunter durch teils hohes Gebüsch. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich an Dornen festzuhalten. Nach wenigen Metern fühle ich mich wie in einem Dschungel. Um mich herum sind nur noch Büsche und Bäume in verschiedenen Grün- und Brauntönen. Ab und zu erkenne ich einen kleinen Weg oder bilde mir die Streifen aus Erde als solch einen ein. Dass ich mitten in der Stadt bin, vergesse ich völlig. Irgendwo vor mir kämpft sich Sieverts selbstbewusst mit schnellen Schritten durch das Gestrüpp. Ich konzentriere mich nur darauf, ihn nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Mit dem linken Fuß bleibe ich in einem Gewirr aus Ästen hängen, falle zweimal hin und reiße mir schließlich den Pullover an Dornen auf. Von meinem rechten Zeigefinger tropft Blut, den linken Arm und die Handflächen habe ich mir aufgekratzt. Wieso um alles in der Welt dieser Weg? Sieverts: „Es ist gerade dieser Kontrast zum sonstigen Stadtbild und das Abenteuer, das sich damit verbinden lässt.“
Am U-Bahnhof Deutz endet unsere Tour. Das Fazit: Was Sieverts „Metrozone“ nennt, verdient mehr Beachtung als bisher. Auch wenn es gerade nicht um gelungene Stadtplanung oder Architektur geht, lässt sich ihr auf den zweiten Blick ein ganz eigener Reiz abgewinnen.