Erst die Schönheit unterscheidet für mich Architektur von Gebäuden, die eben nur Gebäude sind, belang- und gestaltlos und in der Regel ungeliebt. Architektur beschwingt, erheitert, erfreut die Gemüter – und das nicht zufällig, sondern weil hier etwas gelungen ist: Architekt und Bauherr haben gemeinsam eine stimmige Form gefunden, in der Gestalt und Raum, Bauwerk und Stadt, Mensch und Haus glücklich zueinanderfinden. Man will nicht nur in solchen Bauten, man will mit ihnen leben. Und nennt das Schönheit.
Ich gebe zu, das hört sich sehr schwärmerisch und idealistisch an. Das liegt vor allem daran, dass es sich bei gebauter Schönheit um ein rares Gut handelt. So rar, dass die meisten Laien unter dem Begriff Architektur weniger eine Verheißung als vielmehr eine Drohung verstehen. Die moderne Architektur hat nicht nur keinen guten Ruf. Sie hat in weiten Teilen der Bevölkerung einen schlechten Ruf.
Und ich spreche nicht nur von Otto Normalverbraucher, sondern auch von der gebildeten Mittelschicht, die sich sehr wohl für ästhetische Gestaltung interessiert, oft ins Museum geht, selbst kreativ ist und sich in fremden Städten mit der gebauten Kultur befasst. Gerade sie schmerzt die Lieblosigkeit, die Unachtsamkeit, die Grobschlächtigkeit, die Banalität, mit anderen Worten: das Unschöne, das einem vielerorts ins Auge springt.
Was also tun? Immer noch gilt unter Architekten, dass Innovation besser sei als Tradition, Glas irgendwie zeitgemäßer als Stein, ein Flachdach progressiver als ein Satteldach, eine Panoramascheibe zukunftsweisender als ein Sprossenfenster. Und wenn das Laien anders sehen und empfinden, gelten sie als Spießer. Natürlich kann die Architektenschaft weitermachen wie bisher. Sie kann sich damit begnügen, als bauende Elite den eigenen Regeln treu zu bleiben und auf kunstsinnige Bauherren zu hoffen. Doch erst in der Auseinandersetzung mit den Erwartungen eines großen Publikums erweist sich, ob die eigenen Vorstellungen noch tauglich sind. Das aber bedeutet: Es braucht eine neue Bereitschaft zum ästhetischen Streit. Allerdings wird ein solcher Streit nur produktiv, wenn man ihn als offene Auseinandersetzung führt. Und an dieser Offenheit müssen viele Architekten noch arbeiten. Die meisten verbitten sich jede Art von Dreinrede oder gar Mitsprache. Sie hören lieber auf Experten. Doch hat Architektur immer zwei Körper: den rationalen, bautechnischen und den emotionalen, der viel schwerer zu bestimmen ist, weil sich Empfindungen nicht beziffern lassen. Doch ausgerechnet für diesen emotionalen Teil sind die verpönten Laien die eigentlichen Experten. Schließlich müssen sie in der Architektur leben.
Eigentlich müsste Architektur zumindest zum Teil eine Empfindungswissenschaft sein. Sie müsste erforschen, wie wir reagieren: auf Holz und Metall, auf niedrige und hohe Räume, auf Gerüche, auf Hall, auf alle Dinge, die ein schönes Gebäude ausmachen und die sich keineswegs alle planen lassen. Doch werden Architekten nicht dafür bezahlt, sich nach zehn Jahren ein Haus noch einmal vorzunehmen, um zu studieren, wie wohl sich die Menschen darin fühlen. Auch baupsychologische Erkenntnisse sind rar. Und so halten sich die meisten an den rationalen Aspekten des Bauens fest. Den irrationalen Rest – die Frage nach beglückender Schönheit – überlassen sie ihrem Architektengeschmack.
Zu einer gebauten Sehnsucht kann die Architektur nur werden, wenn sie für sich eine neue Freiheit gewinnt. Bislang beraubt sie sich dieser Freiheit, weil sie sich zu oft auf das Messbare, das Einplanbare beschränkt. Dafür gibt es Gründe, das ist mir bewusst. Das Bauen ist immer komplizierter geworden. Viele Häuser sind hochkomplexe Maschinen, ja eigentlich Computer mit angeschlossener Büro- oder Wohnfunktion. Und so sind zentrale Begriffe der Baukunst verloren gegangen, allen voran die Schönheit.
Gut ist Architektur aber nicht, weil sie die Vorschriften erfüllt. Gut ist sie erst, wenn sie sich einlässt auf die heikle Kunst der Balance aus Konvention und Eigensinn. Sie muss sich anlehnen: an das, was war, und an den Geschmack der Allgemeinheit. Und muss doch, um nicht epigonal und steril zu sein, einen eigenen Ausdruck finden, sich anpassen, ohne sich unterzuordnen. Hier ist Architektur kein Selbstzweck, kein selbstverliebtes Formengeplänkel. Sie dient, doch sie verrät nicht ihren Stolz.
Stattdessen verharren viele Architekten und Planer im angestammten Streit der Stile und versuchen, ihre erodierende Macht zu sichern. Fast so, als hielten sie die Architektur in einer immer digitaleren Welt für eine ohnehin vergebliche Anstrengung. Doch das ist falsch. Wenn wir in der Architektur mehr sehen als nur einen technisch-rationalen Vorgang, gibt es für sie einen Bedarf, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Gerade die Virtualisierung weckt das Bedürfnis nach realen Raum- und Materialerfahrungen, und die Architektur gewinnt an Bedeutung. Die Sehnsucht nach dem Schönen ist allgegenwärtig. Nur bauen muss man sie noch.
Hanno Rauterberg, Architekturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT, Hamburg
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