Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Jeder Schritt zählt“ im Deutschen Architektenblatt 01-02.2024 erschienen.
Zirkuläres Planen und Bauen ist ein Thema der Stunde. Was vor ein paar Jahren noch Sache engagierter Idealisten war, kommt aufgrund steigender Materialkosten und stärkerem Umweltbewusstsein immer mehr in Gesellschaft und Politik an. Wer sich näher damit beschäftigt, stößt dabei früher oder später auf den Namen Ute Dechantsreiter. Die Bremer Architektin ist eine Vorreiterin des zirkulären Planens und Bauens in Deutschland. Ein Thema, das ihr quasi in die Wiege gelegt wurde: „In unserer Handwerkerfamilie wurde so gut wie kein Material weggeworfen, bevor es wirklich unbrauchbar war“, erzählt sie über ihre Prägung.
Vorreiterin beim nachhaltigen Bauen
Während ihres Architekturstudiums beschäftigte sie sich bereits mit ökologischen Baustoffen wie Lehm. Im Rahmen eines Forschungsauftrags des Bundesbauministeriums arbeitete sie dann Ende der Achtzigerjahre an der Sanierung von sechs Bremer Häusern. Neben der Verwendung natürlicher Baustoffe wurden möglichst viele gebrauchte Bauteile in die Gebäude integriert – der Startschuss für ihr heutiges Spezialgebiet.
Seit 1996 ist Ute Dechantsreiter als freischaffende Architektin tätig und engagiert sich zugleich mit Vorträgen, Workshops, Forschungsvorhaben und in der Lehre für die Abfallvermeidung und den Ressourcenschutz. Die umtriebige Netzwerkerin hat in Bremen eine Vielzahl an Initiativen und Vereinen mitgegründet, mit denen sie seit Jahrzehnten Pionierarbeit leistet. Wer sich so lange einem Thema widmet, das erst seit ein paar Jahren an Bedeutung im gesellschaftlichen Bewusstsein gewinnt, braucht Durchhaltevermögen und Überzeugungskraft.
Über ihre Motivation sagt sie: „Das Bauwesen verbraucht 50 Prozent aller gewonnenen Rohstoffe. Gleichzeitig hat deren Entnahme seit Ende der 1970er-Jahre das verträgliche Maß längst überschritten. Diese Tatsache treibt mich mehr denn je an.“
Gebrauchte Bauteile zuerst in der Bauteilbörse Bremen
Was das konkret heißt, kann man in einem direkt am Bremer Hafen gelegenen Lagerhaus besichtigen. Hier befindet sich die 2001 ins Leben gerufene Bauteilbörse Bremen – damals die erste ihrer Art in Deutschland. Die von Dechantsreiter mitinitiierte Plattform bietet unter anderem gebrauchte Sanitärmöbel, Türen, Fenster, Beschläge, Leuchten, Geländer, Markisen, Heizkörper und sogar ganze Treppen an. Im Eingangsbereich werden die Neuzugänge präsentiert, ansonsten ist alles nach Bauteilkategorie sortiert. Die Objekte stammen allesamt aus Abbruch oder Umbau. Auf der Baustelle legt das Team der Bauteilbörse bei Bedarf selbst Hand an und übernimmt den Transport ins Lager.
Interessierte können die in einer digitalen Materialdatenbank hinterlegten Objekte im Internet oder direkt vor Ort erwerben. Die Bauteilbörse dient dabei als Vermittler zwischen Abrissunternehmen, Baugesellschaften, Handwerksbetrieben, Planungsbüros, Behörden und Privatleuten. Das hat für alle Beteiligten Vorteile, denn Käufer erhalten hier günstige Bauteile. Gleichzeitig werden die beim Abbruch anfallenden Entsorgungskosten reduziert. Und am wichtigsten: Die Wiederverwendung der Bauteile spart Rohstoffe und Energie.
Bauteilnetz Deutschland
Mittlerweile gibt es Bauteilbörsen in ganz Deutschland. Um diese zu vernetzen, initiierte Dechantsreiter das bauteilnetz Deutschland, für das sie auch als Geschäftsführerin arbeitet. Der 2010 gegründete Verein definiert Qualitätsstandards, bietet Infoveranstaltungen, Schulungen und Workshops an, stellt Modellvorhaben vor oder berät neue Bauteilbörsen in ihrem Aufbau. Hinzu kommen eine digitale Informationsplattform, ein Bauteilkatalog mit wiederverwendbaren Bauteilen aus ganz Deutschland und Links zu Planern, Kommunen, Entsorgungsbetrieben, Handwerkern, Instituten, Verbänden oder Materialprüfungsanstalten. Auch Weiterbildungen für Planer, Architektinnen, Handwerker und Abbruchunternehmen hat das bauteilnetz Deutschland im Programm.
Gebrauchte Bauteile immer wichtiger
Dass das Thema immer wichtiger wird, merkt Dechantsreiter auch in ihrer täglichen Arbeit als Architektin. Sie berät zum Beispiel Architektenkollegen und Bauherren bei Fragen, die sich beim Rückbau eines Gebäudes stellen, oder prüft und organisiert den Wiedereinbau gebrauchter Bauteile. Dafür braucht es einerseits das Wissen, was machbar ist, anderseits aber auch den Willen, Dinge immer wieder neu auszuprobieren. Wie wichtig ihr das Ganze ist, merkt man im Gespräch, etwa wenn sie sagt: „So zu planen und zu bauen, dass am Ende kein Abfall entsteht, ist eine Herausforderung und eine besondere Aufgabe in der Architektur. Ich möchte einfach einen guten Job machen.“
Altes Parkett kann wiederverwendet werden
Zu Ute Dechantsreiters Projekten zählen vor allem Altbausanierungen, für die sie neben ökologischen Baustoffen auch wiederverwendbare Bauteile integriert. Ein Beispiel ist das alte Eichenparkett für das Mädchenkulturhaus am Rande der Bremer Altstadt, das ursprünglich aus einer Villa in Bremen-Barkhof stammt. Ihre langjährige Erfahrung fließt aber auch in Neubauten anderer ein, wie die 2018 fertiggestellte Zentrale der Stadtwerke im schleswig-holsteinischen Neustadt von IBUS Architekten. Dort wurden die Räume durch gläserne Trennwände aus einem Hamburger Bürogebäude unterteilt und die Fassade mit alten Eichenbrettern bestückt.
Teppichböden aus Fischernetzen
Hinzu kamen gebrauchte Materialien wie etwa Teppichböden aus alten Fischernetzen, Restbestände von Badfliesen und eine Bodendämmung aus recyceltem Glas. Ute Dechantsreiter erarbeitete unter anderem das Gebäudematerial-Konzept, organisierte die Beschaffung von Bauteilen, nahm deren Bilanzierung vor und kümmerte sich um den Förderantrag. „Alle am Bau Beteiligten müssen mitziehen und mitgenommen werden. Dann klappt auch die Umsetzung“, sagt sie über ihre Arbeit.
Bremen als Labor für zirkuläres Bauen
Mittlerweile ist Bremen eine Art Labor für zirkuläres Planen und Bauen. Neben der Bauteilbörse gibt es hier seit 2020 das Netzwerk ReUse + ReCycling im Bauwesen, eine weitere von Dechantsreiter mit in die Wege geleitete Initiative. Partner sind das bauteilnetz Deutschland, die Hochschule Bremen, die Amtliche Materialprüfungsanstalt der Freien Hansestadt Bremen und die Forschungsvereinigung Recycling und Wertstoffverwertung im Bauwesen e. V.
„In Bremen haben wir als Stadtstaat kurze Wege, das wirkt sich durchaus vorteilhaft aus. Viele Akteure, die schon vor 30 Jahren mit den Projekten sympathisiert haben, sind dabeigeblieben“, sagt sie über die besondere Situation in der Hansestadt und ergänzt: „Gemeinschaften schaffen und halten ist einer der Schlüssel, damit das Ganze funktioniert.“
So lädt das Netzwerk ReUse + ReCycling im Bauwesen unter anderem zum Bremer RessourcenEffizienz-Tisch ein. In Form von Fachdialogen werden hier etwa regionale Akteure vorgestellt, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Ressourceneffizienz beim Planen und Bauen aufgezeigt oder rechtliche Grundlagen besprochen. Die Ergebnisse aus den einzelnen Veranstaltungen finden sich zusammengefasst in einem Handlungsleitfaden. Er bildet die Grundlage für das frisch gegründete Bündnis Kreislaufwirtschaft im Bauwesen – Metropolregion Nordwest, das als Plattform in das Umland von Bremen hineinwirken soll.
Nicht nur Idealisten wollen heute gebrauchte Bauteile
40 Akteure aus unterschiedlichen Bereichen wie Architektenkammern, Hochschulen, Verbände, Planungsbüros, Baufirmen und Recyclingunternehmen kommen hier zusammen, um durch den gegenseitigen Austausch einen Beitrag zum zirkulären Planen und Bauen zu leisten. Das Bremer Netzwerk wächst so beständig und ist längst nicht mehr nur die Sache engagierter Idealisten, wie Ute Dechantsreiter erläutert: „Wer sich heute für nachhaltiges Bauen interessiert, kommt um das zirkuläre Bauen und den auf hochwertigem Wiedereinsatz basierenden Rückbau nicht mehr herum.“ Sie ist überzeugt: „Die jeweiligen Motivationen und Herangehensweisen mögen unterschiedlich sein – aber jeder Schritt zählt!“
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