Das Paar war sich einig. Etwas Eigenes sollte her. Aber die Frau wollte ein Haus mit Garten, der Mann bestand auf Innenstadtlage und schlug eine große Wohnung vor. Die Frau erinnerte mit Nachdruck an das Bedürfnis der Kinder, im Freien zu spielen, während der Mann die Nähe zu den Cafés, Kinos und Restaurants von Berlin-Mitte beschwor. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis einer von beiden nachgeben würde. Den bedrohten Familienfrieden rettete schließlich ein junges Berliner Architektentrio mit dem etwas schwergängigen Namen p4930, das dem ratlosen Paar kurzerhand die paradoxe Lösung vorschlug, ein Haus mit Garten in Berlin-Mitte zu bauen.
Dass sie sich mit diesem abenteuerlichen Plan über ein etabliertes städtebauliches Schisma hinwegsetzten, war den drei Architekten Johannes Sierig, Florian Geddert und René Krüger klar: Der Vorstadt-Topos Einfamilienhaus gilt gemeinhin als die Antithese zum Leben im verdichteten, kompakten Metropolenzentrum; und der Beweis, dass sich diese Gegensätzlichkeit in einem gelungenen Entwurf aufheben ließ, stand noch aus. Doch das unschlüssige, wiewohl mutige Ehepaar ließ sich von den Architekten überzeugen und das Abenteuer nahm seinen Lauf.
Es begann mit der Suche nach einem geeigneten Grundstück. Da die Bauherren nur ungern ihr angestammtes Quartier in Berlin-Mitte verlassen wollten, waren sie umso glücklicher, als sich eine Brache in der Mulackstraße in der Spandauer Vorstadt fand. Sie ist heute alles andere als vorstädtisch, sondern vermittelt mit ihren alten Mietshäusern und den schmalen Gehwegen durchaus auch heute noch einen Eindruck von der drangvollen Enge des einstigen Hausierer- und Proletenquartiers.
Dass die gerade mal sieben Meter breite und 21 Meter tiefe Parzelle mitten im Szene-Bezirk nahe dem Hackeschen Markt auch noch den gewünschten Anschluss zum lauschigen, von Vogelgezwitscher erfüllten Grün bereithielt, war ein schöner Zufall, grenzt sie doch direkt an den unter Denkmalschutz stehenden Alten Garnisonsfriedhof, der mit seinen hohen Bäumen und verwunschenen Wegen einer der wenigen ruhigen, besinnlichen Orte in der brausenden, lauten Mitte ist.
Individualist statt Gruppen-Townhouse
Ja, hier konnte ein Haus entstehen, das die Vorzüge suburbaner Zurückgezogenheit und Naturnähe mit den Qualitäten einer Stadtlage vereint. Der ungewöhnliche Neubau beherbergt neben 250 Quadratmetern Wohnfläche für die Familie ein separates 50-Quadratmeter- Apartment sowie eine Gewerbeeinheit im Erdgeschoss und verfügt darüber hinaus über einen pittoresken Garten sowie eine große Dachterrasse. Was das Gebäude von konventionellen Townhouses unterscheidet, ist sein Status als Einzelgänger.
Mit der von großen, versetzten Glasflächen dominierten und abgeschrägten Front hebt es sich deutlich von den Mietshäusern der Umgebung ab, gestattet allerdings auch keine Nuancen im Verhältnis von repräsentativer Offenheit und Privatem. Der Selbstbezug eines vorstädtischen, frei stehenden Hauses, dessen Panoramafenster mit Glück auf einen unbebauten Wald- oder Feldrand blicken, lässt sich nur als prekärer Kompromiss auf einen innerstädtischen Kontext übertragen. Denn in der gassenartig schmalen, immer belebten Straße gibt sich das Haus entweder als blickdicht verhangene Vitrine oder exhibitionistische Guckkastenbühne, auf der sich die Bewohner bei ihren häuslichen Verrichtungen zusehen lassen müssen.
Das funktionale Herzstück des Hauses bildet ein eigens konzipiertes Einbauelement, das sich wie ein durchgehendes, in weißem Glanzlack gehaltenes Möbelstück durch die Etagen zieht und je nachdem als Schrank, Stauraum oder Schubladen dient. Dass der private Zugang zum Garten unabhängig von der im Erdgeschoss liegenden Gewerbeeinheit erfolgen kann, verdankt sich einem Kunstgriff, mit dem die im rückwärtigen Teil liegenden Ladenräume kurzerhand unter die Erde verlegt wurden.
Deren schräg verlaufendes, mit runden Oberlichtern versehenes Dach bildet eine zum ersten Geschoss führende Rampe – die so genannte „grüne Welle“ – über die der von einer alten Backsteinmauer umschlossene Garten von der großen Küche aus zu erreichen ist. Das Wohnzimmer mit Heimkino und Kamin, nimmt den gesamten dritten Stock ein und erstreckt sich über zwei Ebenen, wobei das anschließende vierte Obergeschoss mit Elternschlafzimmer und Bad als Galerie ausgeführt ist.
Mit dem Entwurf zeigten die Architekten nicht nur, dass ein lichtes, luftiges Eigenheim auch in der Mitte einer Großstadt entstehen kann. Ihnen ist auch der Nachweis gelungen, dass die Energieversorgung über Erdwärme auch in einem hochverdichteten, eng bebauten Stadtquartier möglich ist. Die Klimatisierung des Hauses erfolgt vollständig über drei 99 Meter tiefe Bohrungen, über die im Winter den bodenintegrierten Kapillarrohrmatten Wärme zugeführt wird und die im Sommer für Kühlung sorgen.
Den drei Architekten von p4930, die sich von der TU Cottbus kennen und seit 2005 gemeinsame Sache machen, ist mit dem Haus in der Mulackstraße etwas gelungen, das in der Literatur als erstaunliches Debüt bezeichnet wird. Man wartet gespannt, was als nächstes kommt.
Cornelia Dörries ist Soziologin und freie Journalistin in Berlin.