Text: Christoph Gunßer
2003 war in Göttingen Schluss mit dem Durchwursteln: In der verkehrsberuhigten Innenstadt stand ein weiteres Stück des kleinteiligen Beton- und Klinkerpflasters aus den Siebzigern zur Sanierung an, und das Tiefbauamt wollte es wieder durch Asphalt ersetzen – „damit endlich das Geklapper aufhört“, wenn der Verkehr darüberrollte.
Da erhob der damalige Planungsamtsleiter und heutige Stadtbaurat Thomas Dienberg Einspruch: Weil ohnehin an vielen Stellen die Erneuerung von Versorgungsleitungen anstand, konnte er den OB überzeugen, beim Planungsbüro Pesch + Partner aus Dortmund ein Gestaltungskonzept für alle Straßen der Innenstadt zu bestellen.
Heraus kam eine klare Gliederung des Stadtraums nach sechs Ausbau-Kategorien: von der reinen Fußgängerzone bis zum befahrbaren Busring. Kreuzungen und Bushaltestellen sollten besonders hervorgehoben, die am aufgehellten Asphalt erkennbaren Fahrbahnen auf eine Spur reduziert und der übrige Straßenraum großzügig zu barrierefrei zugänglichen Flächen zusammengefasst werden – überwiegend aus grauem Naturstein.
Mithilfe von Fördermitteln des städtebaulichen Denkmalschutzes gelang der finanziell dauerklammen Universitätsstadt die sukzessive Umsetzung des Konzeptes. Nach anfänglichem Widerstand aus der Geschäftswelt, die sich wie alle Anwohner am Umbau finanziell zu beteiligen hatte und zudem Umsatzeinbußen durch die Baustellen befürchtete, fand das Vorhaben breiten Anklang. Inzwischen ist ein Großteil der Innenstadtstraßen umgebaut, die Ensemble-Wirkung erkennbar. Die Umsätze in der ohnehin sehr vitalen und kleinteiligen Ladenszene der Stadt sind nicht gesunken, sondern geklettert.
Dazu trug auch bei, dass die Stadtverwaltung sich nicht auf ein oberflächliches Re-Design beschränkte. Straßenzüge in B-Lagen wurden durch wohlüberlegtes Design einbezogen, universitäre Einrichtungen als wichtige Magnete in der Innenstadt gehalten. Jeder öffentliche Raum ist ja bekanntlich nur so gut wie die dort angesiedelten Nutzungen. In den Einkaufsstraßen ist der Anteil der inhabergeführten Läden noch sehr hoch, die Ladeneinheiten sind ungewöhnlich klein. Die Universität mit ihren gut 30.000 Studierenden sowie direkt und indirekt 19.000 Beschäftigten trägt ganz wesentlich zur Lebendigkeit des Göttinger Zentrums bei. Nachdem der Umbau zunächst in Nebenstraßen ausprobiert worden war, wagte man sich ab 2008 an das Herzstück der Göttinger Innenstadt, die Weender Straße mit dem Marktplatz vor dem Alten Rathaus. Für die Haupteinkaufsstraße lobte die Stadt aber – auf der Grundlage ihres Gestaltungskonzepts – einen offenen Wettbewerb aus, den WES LandschaftsArchitektur aus Hamburg gewann. Um dieses zunächst vielleicht fremd wirkende Konzept zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen.
Bunte Stadt ohne Brüche
Göttingen ist eine Stadt mit vielfältiger historischer Bausubstanz. Der Stadtgrundriss, aber auch die meisten Straßenzüge zeigen im Wesentlichen noch den Charakter einer ländlichen Ackerbürgerstadt aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg: Zu mehr oder weniger stattlichen Fachwerkhäusern gesellten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzelne stolze neoklassische Gebäude, wie die Aula der Universität am Wilhelmsplatz. Auch Gründerzeit und Jugendstil haben Spuren hinterlassen, ohne die kleinteilige Parzellenstruktur allzu sehr zu stören. Selbst im zwanzigsten Jahrhundert blieb das Altstadtrund zunächst von Verheerungen verschont. Erst Ende der 1960er-Jahre gab es in Teilen Flächenabrisse: So traf es 1968 trotz heftiger Proteste den denkmalgeschützten Reitstall der Universität, der, obwohl gut erhalten, der Planung eines neuen Rathauskomplexes weichen musste, der dann nie gebaut wurde. Der Betonkasten des später entstandenen Kaufhauses beherrscht heute noch das nördliche Entrée der Weender Straße.
Vor Schreck über solche unsensiblen Einbrüche ins heile Stadtgefüge schwenkten die Planer daraufhin zum anderen Extrem: Wie in vielen Städten, wurden in den 1970er-Jahren weitläufige Fußgängerbereiche geschaffen, die mit kleinteiliger Pflasterung, unter anderem im „regionalen“ Klinkerkleid, und „gemütlicher“ Möblierung die „kaputte Stadt retten“ wollten, wie es damals hieß. War das auch sicher Balsam auf die Seelen der von Monotonie und Massenmotorisierung verunsicherten Bürger, so wirkte die spät- und postmoderne Mimikry schon wenige Jahre später arg bemüht, stellenweise spießig und sogar kontraproduktiv. Denn gerade im direkten Vergleich zu den handwerklich meisterlichen historischen Fassaden fiel die vorgefertigte Pusseligkeit qualitativ stark ab. Die Materialien erwiesen sich zudem bald als unansehnlich. Schon in den 1990er-Jahren häuften sich die Straßenschäden.
Teppich aus Stein
„Manchmal muss man nur aufräumen, den Boden frei machen, dann kommen die Wände zur Geltung“, meint Henrike Wehberg-Krafft, für die Neugestaltung der Weender Straße verantwortliche Partnerin bei WES LandschaftsArchitektur. Auch wenn das rein verbal wieder ein wenig nach Flächenabriss klingt, tut es dem Straßenraum tatsächlich gut, dass die Planer ein durchgängiges Thema für den rund fünfhundert Meter langen Straßenabschnitt fanden. An die Stelle des zuvor vielfach gegliederten und bepflanzten Straßenquerschnittes trat ein „von Hauskante zu Hauskante gespannter Teppich“ aus großformatigen Natursteinplatten. Ruhig, glatt und im zentralen Teil diagonal „gewebt“, weitet er den Straßenraum und gibt den Blick frei auf die lebendigen Fassaden, die ihn säumen. Auch Stadtbaurat Dienberg spricht vom „Erlebnis der Vertikalen“, das jetzt erst möglich werde.
Auf den Marktplatz legten die Planer einen Extra-Teppich, der den Umriss des am Rand stehenden Alten Rathauses spiegelt. So entsteht ein Raum im Raum, der als Forum für Versammlungen dienen könnte. Im Alltag ist er leider meist mit allerlei Buden belegt, auch ein Karussell machte sich dort während der Recherchen gerade über Gebühr breit.
Während sie die Neugestaltung konkretisierte, bezog die Verwaltung auf Geheiß der rot-grünen Ratsmehrheit die Bürgerschaft auf zwei „Innenstadtkonferenzen“ 2008 und 2010 in den Planungsprozess ein. Das führte zu einigen Zugeständnissen und Reminiszenzen an die Zeit vor der Umgestaltung. So blieb selbstredend der Göttinger „Nabel“ erhalten, eine an der zentralen Kreuzung von Weender, Theater- und Prinzenstraße gelegene Rundskulptur, um die das Stadtleben kreist. Am Alten Rathaus blieb neben dem historischen Gänseliesel-Brunnen auf Drängen der Bürgerschaft auch eine klobige Rundbank aus den Siebzigern erhalten. „Wer damit aufgewachsen ist, will das nicht missen“, meint dazu Stadtbaurat Dienberg, der als kommunikationsbegabter Westfale so manche Brücke zwischen Bürgern und Gestaltern zu schlagen hatte. WES hatte anfangs noch auf Ortsterminen Mobiliar vorgeschlagen, das um einiges „spaciger“ gewesen sei als die letztlich gewählten klassisch-kantigen Bänke, berichtet Dienberg. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man als Lampen statt der indirekten Strahler auch reduziertere lineare Stelen gewählt.
Nivellierung nach oben
Teppich, das assoziiert eigentlich Innenraum. Der öffentliche Raum als Innenraum der Stadt – diese Wahrnehmung kam hierzulande erst in den 1980er-Jahren wieder auf. Zuvor hatten die Fachplaner diese „Zonen“ untereinander aufgeteilt, allen voran die Verkehrsplaner. Aus Italien lernte man damals, den Raum wieder als Ganzes zu betrachten. Teppich-Muster aus Naturstein gibt es tatsächlich in vielen italienischen Städten und auch in Osteuropa, wie Wehberg-Krafft anmerkt.
Sie sieht seit einigen Jahren einen Wettstreit der Innenstädte im Gange: Wie im Hochbau werde auch im öffentlichen Raum mit immer hochwertigeren Materialien geklotzt, um die Kundschaft bei der Stange zu halten. Bleibt dabei manchmal das Eigene, die Identität der Stadt auf der Strecke? Muss ein baulich als niedersächsische Landstadt daherkommender Ort wie Göttingen mit seinen nicht mal 120.000 Einwohnern unbedingt Straßen haben wie Verona oder gar Mailand? Und das am Ende nur, weil das viermal größere Hannover es vorgemacht hat? Ist solch eine Nivellierung nach oben, zumal mithilfe öffentlicher Fördergelder, in diesen Zeiten sinnvoll und angemessen? Fragen wie diese ereilen den Betrachter beim sicher angenehmen Flanieren auf dem „eleganten Laufsteg“, von dem die Gestalter der Weender Straße sprechen.
Noch können Zweifler zum Vergleich nördlich des Göttinger „Nabels“ in den alten Modus wechseln, mit Betonpflaster und Klinkerkarrees. Vom WES-Entwurf ist gerade mal gut die Hälfte ausgeführt, erst 2019 soll es nach derzeitiger Planung mit dem Ausbau weitergehen. Die zwölf Zentimeter starken kugelgestrahlten Granitplatten in Grau, Beige und Rosa stammen aus Brüchen in Österreich und Portugal; sie sind teuer und aufwendig zu verlegen. Doch Wehberg-Krafft attestiert ihnen eine gut hundertjährige Lebensdauer – und dann könne man sie sicher nochmals neu verlegen. Ob allerdings der Kontrast von „armen“ bunten Fassaden und „reichem“ einheitlichem Teppich dann noch gefällt, bleibt abzuwarten. Derzeit ist Göttingen damit nach Aussage des grünen Bürgermeisters Ulrich Holefleisch jedenfalls „eine glückliche Stadt“.
Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg)
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