Theresa Keilhacker
Ziele der Nachhaltigkeit werden hierzulande mit der klassischen deutschen Gründlichkeit verfolgt – schon seit vielen Jahren mit technischen Lösungen, zahlreichen DIN-Normen und anspruchsvollen Baugesetzen. Doch dafür gab es bis vor Kurzem kein Markenzeichen. Vor zwei Jahren hatten andere Länder bereits Zertifizierungssysteme, namentlich in den USA das LEED, in Frankreich HQE, in England BREEAM und in Japan CASBEE. Im Juni 2007 gründeten deshalb einige Architekten, Ingenieure und Wissenschaftler sowie Investoren- und Bauindustrievertreter die „Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen“ (DGNB), um Grundlagen für die Zertifizierung von nachhaltigen Gebäuden auf einer nationalen Plattform zu entwickeln.
Die Urheber kannten sich aus: Mitinitiator und Gründungspräsident der DGNB war Alexander Rudolphi, dessen Ingenieurbüro den Neubau des Umweltbundesamtes Dessau hinsichtlich ökologisch korrekter Materialien beraten hatte. Dessen Architekten Sauerbruch Hutton waren ebenfalls Gründungsmitglieder der DGNB. In Dessau hatte der Bauherr Bund Planung und Ausführung sehr aufmerksam begleiten lassen; es gab ein umfangreiches wissenschaftliches Monitoring durch das IEMB (Institut für Erhaltung und Modernisierung von Bauwerken e. V. an der TU Berlin). Das sollte nun Schule machen.
Rudolphis Büro für ökologische Bautechnik hatte 2005 das Zertifizierungssystem „Umweltpreis HafenCity Hamburg“ entwickelt. Es bildete nun, angereichert um die praktische Kompetenz aller Gründungsmitglieder, die konzeptionelle Grundlage für die herkulische Aufgabe. Das breite Spektrum der Nachhaltigkeit ist mit derzeit 49 Kriteriensteckbriefen umrissen, die kein denkbares Thema auslassen – von sehr konkreten, wie den Wetterschutzanforderungen von Fahrradständern an Bahnhöfen und Kindergärten, über sehr allgemeine, wie „das subjektive und gefühlsorientierte Gesamtbild der Mehrzahl der Bevölkerung“ von einem Standort, bis zu eher abseitigen, wie der „Eintrittswahrscheinlichkeit“ von Erdbeben und Lawinen.
Vorangetrieben, ergänzt und begleitet wurde diese Arbeit von zahlreichen Forschungsaufträgen, die das Bundesbauministerium vergab, sowie inhaltlichen Ergebnissen aus dem „Runden Tisch Nachhaltiges Bauen“ mit rund hundert Mitgliedern aus Kammern, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltungen. Die Zertifizierung kann freiwillig beauftragt werden und beschränkte sich zunächst auf den Neubau von Büro- und Verwaltungsgebäuden, von denen 16 aus der Probephase im Januar 2009 die ersten Vorzertifikate in Gold, Silber und Bronze erhielten.
Das Gütesiegel wird in der Immobilienbranche begehrter – aber zugleich wächst auch Kritik am Vorgehen der Bundesregierung und der DGNB. Die Bundesarchitektenkammer hatte bereits Mitte 2008 vorgeschlagen, nicht mit hohem bürokratischem Aufwand ein neues Werkzeug zur Nachhaltigkeitsbeurteilung zu schaffen, sondern die bereits vorhandenen Instrumente des Bau-, Planungs- und Prüfungsverfahrens auf intelligente Art zu verknüpfen und bei Bewertungslücken zu ergänzen. Vielen Mitgliedern des Runden Tisches gilt das deutsche Zertifizierungssystem als zu verwissenschaftlicht, zu komplex und nicht wirklich praxistauglich. Architekten und Fachingenieuren drohen neue, noch nicht absehbare Haftungsrisiken.
Zahlreiche Kriteriensteckbriefe sind nicht fundiert ausgearbeitet, die Pilotphase noch nicht wissenschaftlich ausgewertet oder veröffentlicht. Die Frage nach der Legitimation der DGNB, auch vergaberechtlich, ist bis heute ungeklärt. Zwar ist das Bauministerium „Halter“ des Gütesiegels und hat die „Systemhoheit“ inne. Doch in diesem Jahr gaben Ministerium und DGNB immer wieder wechselnde Auskünfte zur Organisationsstruktur. „Notfalls machen wir ohne den Bund weiter“, ließ DGNB-Präsident Werner Sobek Vertreter von Architektenkammern nach der Messe „Consense“ Mitte des Jahres in Stuttgart wissen.
Besonders umstritten ist die Ausbildung und Zulassung der Auditoren, die Immobilieneigentümer auf dem Weg zur Zertifizierung beraten. Bisher gibt es dafür kein Pflichtenheft seitens des Ministeriums und keine qualitätsgesicherte Struktur für die Zulassungs- und Zertifizierungsstellen. Für die DGNB-eigene Grundausbildung verlangt die Gesellschaft in der Systemvariante „Neubau Büro und Verwaltung“ 3 000 Euro von Mitgliedern und 6 000 Euro von Nichtmitgliedern.
In der Pilotphase zertifizierten sich DGNB-Auditoren teilweise selbst. Einige Architektenkammern äußerten Bedenken gegen diese Doppelrolle, da sie einen Interessenkonflikt darstelle. Und wie soll eine Qualitätskontrolle stattfinden, wenn die Zulassungs- und Zertifizierungsstelle weiterhin in einer Hand, nämlich bei der DGNB liegt? Auch Software und ein erstes Handbuch zum Thema vermarktet sie inzwischen und möchte den Inhalt der Ausbildung sowie der abschließenden Zulassungsprüfung allein bestimmen.
Der Ton wurde im Sommer schärfer: Der GdW, der führende Verband der Wohnungswirtschaft, warf dem gerade für weitere zwei Jahre wiedergewählten Präsidenten Sobek einen „imperialistischen“ Kurs vor, weil dieser ohne Absprache und Rücksichtnahme auf potenzielle Partner und die eigentlichen Akteure sein Zertifizierungssystem auf Wohnbauten und ganze Quartiere ausweiten wolle. Bau-Staatssekretär Engelbert Lütke Daldrup verkündete daraufhin bei einer eilig im August anberaumten Pressekonferenz: „Keine pauschalen Gütesiegel für Stadtquartiere.“ Zunächst weitet die DGNB ihr Tätigkeitsfeld auf Handels- und Industriebauten aus, ohne aber die Evaluation der Pilotphase für neue Büro- und Verwaltungsbauten abzuwarten. Das erhöht nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit des Gütesiegels. Auf der Expo Real sollen hier die ersten Eigentümer ihre Auszeichnungen entgegennehmen.
Kritiker stellen infrage, ob die Bundesregierung noch Herr über das deutsche Zertifizierungssystem ist. Es werde Zeit, dass sie es nach der Wahl wieder wird und die Kriterien beim geplanten Nachhaltigkeitssiegel anders gewichtet. Weitere Kritik richtet sich dagegen, dass beispielsweise technische Qualität deutlich höher bewertet werde als gute Architektur. Und es werde Zeit für ein Mindestmaß an Transparenz und Vergleichbarkeit, das Bundesminister Tiefensee bei der Vorstellung des Siegels im Juni 2008 ankündigte.
Sonst könne das Nachhaltigkeitssiegel leicht zu einer PR-Mogelpackung und zur bloßen Einnahmequelle eines Vereins und dessen kräftig zahlenden Lobbymitgliedern aus der Bauindustrie verkommen.Es gibt konstruktive Gegenvorschläge: Die tatsächliche Performance eines Gebäudes müsse wieder stärker in den Fokus rücken – wie beim TÜV, der alle zwei Jahre das Auto auf Herz und Nieren prüft und bei Sicherheitsmängeln zur Nachrüstung verpflichtet. Das Risiko dieser freiwilligen Zertifizierung trage allein der Bauherr, der damit in der Öffentlichkeit werben möchte, nicht die Ingenieure.
Schließlich sind diese auch von der Bereitschaft ihres Auftraggebers abhängig, für langfristige und damit nachhaltige Ziele Geld zu investieren. Ein „Green Building“ mit „Deutschem Gütesiegel Nachhaltiges Bauen“ verkauft sich zwar gut auf dem internationalen Immobilienmarkt. Doch Lebenszyklusbetrachtung muss auch den nachhaltigen Praxistest bestehen. Dafür brauchen wir Evaluation und Flexibilität für die Anpassung der Qualitätsstandards.
Theresa Keilhacker ist Vorsitzende des Fachausschusses „Nachhaltiges Planen und Bauen“ in der Architektenkammer Berlin.