Text: Cornelia Dörries
Feueralarm im Museum. Schon dringt Rauch in die Ausstellungsräume; jetzt gilt es, so schnell wie möglich nach draußen zu kommen. Der vernünftige Mensch würde nun einfach den grünen Notausgangs-Schildern folgen und befände sich binnen kurzer Zeit in Sicherheit – zumindest in der Vorstellung von Planern und Brandschutzexperten. Doch auf die Vernunft des Menschen ist nicht immer Verlass, wenn es brennt. Und wäre ihm so ein Unglück noch vor einer Weile im Museum MARTa in Herford passiert, hätte er auch ziemliches Pech gehabt. Denn in dem für seine komplexe Architektur gerühmten Gebäude wäre er möglicherweise erst sehr spät zum Ausgang gelangt – vielleicht zu spät. Bei einem Testalarm irrte gut ein Drittel der Museumsbesucher mehr oder minder orientierungslos umher. Genau 34,6 Prozent nahmen die Fluchtwegbeschilderung gar nicht wahr und versuchten einfach, dahin zurückzufinden, wo sie vermeintlich hergekommen waren.
Das ist ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Der Gehry-Effekt“*, durchgeführt vom „PerceptionLab“ der Hochschule Ostwestfalen-Lippe Detmold. Das „Wahrnehmungs-Labor“ ist eine in Deutschland einmalige Forschungseinrichtung und widmet sich, einfach ausgedrückt, der Wirkung von Räumen auf Menschen. Es verfolgt mit seinem interdisziplinären Ansatz ein ehrgeiziges Konzept: Die subtilen, oft unbewussten Befindlichkeiten von Menschen in Gebäuden und Raumsituationen sollen ganzheitlich erfasst, messbar und damit einer Analyse zugänglich gemacht werden.
Von 2009 bis 2011 unterzog das Labor den Museumsbau des amerikanischen Architekten Frank O. Gehry in Herford einer umfassenden Architekturanalyse. Dazu gehörten individuelle Bewertungen des Gebäudes ebenso wie die Frage, wie Menschen sich in dem verschachtelten Gebäude mit seiner unsystematischen Wegeführung zurechtfinden und in Notfallsituationen reagieren. Im Laufe der Studie wurden mehr als 500 Probanden befragt; außerdem wurden in einem Experiment Bewegungsabläufe und Reaktionen beobachtet und mit technikgestützten Methoden der Wahrnehmungsforschung aufgezeichnet und analysiert.
Dabei stellte sich heraus, dass die interne Struktur des Hauses so kompliziert ist, dass den Besuchern nicht einmal das vorhandene Leitsystem weiterhilft. Gravierende Mängel deckte die praktische Überprüfung des Fluchtwegesystems auf. Wie desorientiert und hilflos sich die Testteilnehmer in der simulierten Notfallsituation nach einem Ausweg umsahen, ließ sich per „Eye-Tracking“-Methode belegen. Dafür trugen die Probanden eine Hightech-Brille, die mit einem Rechner verbunden war und jede Blickbewegung erfasste. Die so gewonnenen Daten wurden anschließend in den Beschreibungen der Teilnehmer bestätigt: Das vorhandene Leit- und Fluchtwegesystem im MARTa Herford war unzureichend und half selbst im Notfall nicht angemessen weiter – obwohl es alle gängigen Vorschriften erfüllte.
Das Museum nahm die gewonnenen Erkenntnisse ernst und installierte rasch ein neues, vom PerceptionLab entwickeltes Fluchtwegesystem: Im Notfall leuchten jetzt schmale, in den Fußboden integrierte Signalspuren gut sichtbar auf und weisen den rettenden Weg nach draußen. Dieses neue Konzept reduziert die Evakuierungszeit um bis zu 50 Prozent. Es funktioniert deshalb so gut, weil es nicht nur von Vorschriften ausgeht, sondern vom menschlichen Verhalten im Brandfall an einem speziellen Ort. Auch dieser Ansatz hat einen klangvollen neudeutschen Namen: „Human Centered Design“ – der Mensch als Dreh- und Angelpunkt von Gestaltung. Das trifft genau das Selbstverständnis der Detmolder Wissenschaftler.
Das 2008 gegründete PerceptionLab verbindet experimentelle Forschung und pragmatische Anwendungs-Orientierung. Anders als sein internationalisierter Name nahelegt, handelt es sich dabei nicht um ein abgeschottetes Hightech-Laboratorium mit Zugangskontrolle und Rastermikroskopen, sondern um einen Forschungsschwerpunkt, an dem derzeit zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen beteiligt sind, darunter Architektur, Design, Psychologie, Medien- und Ingenieurswissenschaften, Soziologie und Medizin. Gründungsmitglied und Sprecher des Labs ist Ulrich Nether, Professor für Produktdesign und Ergonomie an der Hochschule in Detmold. Er fasst die zentrale Fragestellung des Projekts in einer Frage zusammen: „Was macht der Raum mit den Menschen?“ Dass Farben, Geräusche, Gerüche und Licht ebenso wie Raumhöhe, Objektplatzierungen, Formen, Materialien und Oberflächen Einfluss auf das menschliche Befinden haben, ist bekannt. Doch wie gelangt man über subjektive, geschmacksspezifische Bewertungen von räumlichen Situationen oder Gebäuden hinaus zu objektivierbaren, analytisch ergiebigen Erkenntnissen über die Raumwirkung? Mit welchen wissenschaftlichen Methoden lassen sich Daten gewinnen, die auch Rückschlüsse auf die physiologischen und psychologischen Effekte von Gestaltung erlauben?
Versuchsanordnung in 3-D
Überraschend ist eines: Das PerceptionLab ist die erste und bislang einzige Einrichtung hierzulande, die sich mit dieser Problematik systematisch und disziplinübergreifend auseinandersetzt und aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Konzepte und Lösungen entwickelt. Dafür steht den Forschern in Detmold hoch entwickelte Technik zur Verfügung: Laboreinrichtungen zur Analyse, Entwicklung und Erprobung von Objekten und Räumen, also der dinglichen Seite des Verhältnisses von Mensch und Raum, sowie Technologien, mit denen sich affektive, physiologische und psychologische Reaktionen von Menschen auf den Raum erfassen lassen. Im hauseigenen Lichtlabor werden verschiedene Leuchtmittel und Lichttechnologien ebenso wie Belichtungsszenarien für Gebäude und einzelne Raumsituationen geprüft. Unter einem „künstlichen Himmel“ lassen sich Sonnenverlauf und die Veränderung des Tageslichts für jeden einzelnen Tag des Jahres simulieren, was wiederum Aufschluss über die optimale Ausrichtung von Gebäuden, die Platzierung der Fenster oder die Farbgebung gibt. Im Raumlabor werden Entwürfe im Maßstab 1 : 1 realisiert und getestet; zudem nutzen die Wissenschaftler für den Modellbau einen 3-D-Drucker und eine 3-D-Fräse. Das Prototypenlabor wiederum dient der Umsetzung und Überprüfung von neuen Objekten und Gestaltungskonzepten.
Zum Einsatz kommen auch moderne Visualisierungstechnologien. So kann mithilfe der „Powerwall“ ein innenarchitektonischer Entwurf dreidimensional und in Originalgröße animiert werden. Sobald der Betrachter eine 3-D-Brille aufsetzt, befindet er sich virtuell in dem geplanten Raum und gewinnt anhand dieses Eindrucks ein ungleich lebendigeres, „echteres“ Bild von dem zukünftigen Projekt als vor seinem Computerbildschirm oder einem herkömmlichen Rendering. „Diese ‚augmented reality‘ können wir hier schon als Planungsinstrument einsetzen“, so Ulrich Nether.
Doch an der Powerwall lässt sich auch untersuchen, wie noch nicht realisierte Räume auf den zukünftigen Nutzer wirken. Probanden werden in solchen Versuchsanordnungen mit einer virtuellen Raumsituation oder Objekten konfrontiert, während parallel dazu ihre Befindlichkeit und ihre körperlichen Reaktionen gemessen werden. So lassen sich mit dem Eye-Tracking-System Aussagen zur Orientierung treffen. Biofeedback-Messgeräte erfassen Veränderungen des Hautwiderstands und der Muskelspannung unter bestimmten Einflüssen – das können Farben, Geräusche oder Lichteinflüsse sein, aber auch Raumhöhen, Möblierung, Formen oder Oberflächen. Diese Daten sagen, für sich genommen, freilich nur etwas über Effekte aus – sie zeigen schließlich bloß vegetative Veränderungen an, aber nicht deren Ursache. Daher werden die Messungen von qualitativen Methoden der Psychologie und der empirischen Sozialforschung ergänzt, meist in Form von Fragebögen zur individuellen Bewertung der Situation, von Interviews oder Videoaufzeichnungen. Erst durch diesen multimodalen Ansatz lassen sich objektive Messdaten mit subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen in einen analytischen Zusammenhang bringen.
So wurde bei der „Impact2“-Studie der Zusammenhang zwischen akustischer und visueller Raumwahrnehmung untersucht. Dafür arbeitete das PerceptionLab mit der Musikhochschule Detmold zusammen, in deren Räumen die Versuche stattfanden. Die Fragestellung lautete: Welchen Einfluss hat gestalterisch-visuelle Qualität auf die akustische Wahrnehmung? Dafür wurden insgesamt 55 Testpersonen in zwei unterschiedlich gestalteten Räumen unter jeweils identischen akustischen Bedingungen Texte vorgelesen. Im Anschluss sollten sie über das Gehörte in Fragebögen Auskunft geben. Das Ergebnis: Die visuelle Wahrnehmung überlagert die Akustik. Oder anders gesagt: Wir hören auch mit den Augen. Denn obwohl die akustischen Bedingungen in beiden Raumsituationen gleich waren, fiel die Wahrnehmung und Bewertung der vorgelesenen Texte unterschiedlich aus. Durch solche Erkenntnisse eröffnen sich ganz neue Planungsansätze: Unangenehme akustische Einflüsse lassen sich vielleicht nicht allein mit Schallschutzmaßnahmen kontrollieren – auch über den bewussten Einsatz von Licht, Farbe und Oberflächen kann man einiges verbessern.
Zum Studium in den künstlichen Himmel
Welche Untersuchungsinstrumente bei den Experimenten zum Einsatz kommen, hängt jedoch immer von der Aufgabe ab. Viele Versuche finden, wie im Museum MARTa, direkt in der zu untersuchenden Umgebung statt. Das kann ein Stadtraum sein, aber auch ein Krankenhausflur, ein Aufzug oder ein Büroarbeitsplatz. Es geht immer um den Zusammenhang von Wahrnehmung und Wirkung, ästhetischer Akzeptanz und dem, was man heute Usability nennt, also die optimalen Nutzungseigenschaften im Sinne eines Universal Designs.
Neben ihrer Forschungsarbeit beraten die Wissenschaftler des PerceptionLab auch Unternehmen, Behörden und Institutionen in Planungs- und Gestaltungsfragen und bieten Forschungsdienstleistungen an – etwa Gebäude- und Produktanalysen, Untersuchungen des Nutzerverhaltens oder Anwendungsstudien. Außerdem ist die Einrichtung fester Bestandteil der planerischen Studiengänge an der Detmolder Hochschule. Die Studierenden werden hier schon frühzeitig mit Methoden und Erkenntnissen aus der anwendungsbezogenen Forschung vertraut gemacht; die experimentelle Arbeit im Raumlabor, an der Powerwall oder unter dem „künstlichen Himmel“ gehört zum Curriculum. „Wer bei uns seinen Abschluss macht, hat sich intensiv und sehr detailliert mit der Frage nach dem Wechselverhältnis von Mensch und Gestaltung beschäftigt“, so Professor Ulrich Nether. Eine bessere Empfehlung kann man Architekten kaum mit auf den Weg geben.
*Eine ausführliche Darstellung und Analyse der Untersuchungsergebnisse bietet der Band: „Der Gehry-Effekt. Eine architektursoziologische Studie über das MARTa Herford“, herausgegeben von Martin Ludwig Hoffmann und Katharina König. Das Buch ist im Wilhelm-Fink-Verlag erschienen und kostet 29.90 Euro.
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