„Architektur ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat.“ Ernst Bloch
Von Amber Sayah
Diee Tür zur Wohnung der Familie Lukas im dritten Stock steht offen. Nicht nur für angekündigte Besucher wie uns, sondern aus Prinzip. Die Nachbarn im Haus schauen öfter mal vorbei, auf einen Schwatz oder weil sie Rat bei etwas Amtlichem brauchen. Schwellenangst müssen sie beim Standortleiter der sogenannten Hoffnungshäuser in Esslingen, der mit seiner Frau selbst in einem der Gebäude wohnt, nicht überwinden. Am Lukas’schen Esstisch versammeln sich die Bewohner gern auch in größerer Runde, jeder bringt etwas zu essen mit oder kocht für alle ein Gericht aus seiner Heimat. Die Bezeichnung Hoffnungshaus ist am Esslinger Rohrackerweg allem Anschein nach keine Leerformel, Gemeinschaft gelingt hier ganz offensichtlich.
Mit den Hoffnungshäusern setzt sich die 2013 gegründete Hoffnungsträger Stiftung von Tobias Merckle, einem Sohn des Unternehmers und Ratiopharm-Gründers Adolf Merckle, für die Integration von Flüchtlingen ein. Zusammen mit Einheimischen unter einem Dach zu wohnen, die beim Einstieg in die neue Kultur behilflich sein können, erleichtert es den Neubürgern, sich hierzulande einzuleben – diese Idee liegt dem Modell der Hoffnungshäuser zugrunde. Entwickelt wurde es im Direktauftrag der Stiftung vom Städtebau-Institut der Universität Stuttgart und von andOFFICE Architekten mit der Zielvorgabe, kostengünstigen Wohnraum durch ein standortunabhängiges, modulares Baukastensystem zu schaffen, das gleichwohl die üblichen Containerlösungen hinter sich lässt. Sechs Gebäude sind bisher realisiert – vier in Esslingen, zwei in Bad Liebenzell –, fünf sind im Bau, zehn weitere in Planung. Ihre Bewährungsprobe haben die Hoffnungshäuser also schon bestanden.
Umhüllt sind die Gebäude von einer weich gerundeten, vertikalen Holzleistenfassade, wobei größere Leistenabstände im Bereich der Geschossdecken die Baukörper wie Bänder strukturieren. Ein starkes Identifikationsmerkmal sind die geschwungenen Balkone, die über die gesamte Eingangsfront reichen und als Erweiterung der Wohnküchen in den privaten Außenraum und als kommunikative Gemeinschaftsflächen dienen. Zugleich verbinden sie die Häuser mit der Landschaft. Im Stadtteil Berkheim hoch über Esslingen mit seinen zwischen Wohnsiedlung und Gewerbegebiet blühenden Wiesenhängen und Bäumen passt das vorvergraute Holz sogar besser ins Bild als der dominierende Häuslebauer-Eigenheimstandard. Die Holzarchitektur wirkt hier wie die urbanere Variante eines ländlichen Baustils.
Städtebauliche Integration?
Die Häuser können durch ihre modulare Bauweise unterschiedlichen Grundstücksgrößen und Bewohnerzahlen flexibel angepasst werden und vermögen auch auf Hanglagen mit unterschiedlichen Gründungen und massiven Sockelgeschossen zu reagieren. Deutlich wird aber auch: Auf den örtlichen Kontext eingehen können die nur in den Abmessungen variierenden, kompakten Baukörper kaum. Mit ihren abgerundeten Ecken und den Holzoberflächen sehen sie ein bisschen aus wie im Stadtraum abgestellte Möbel, die sich jederzeit verpflanzen ließen. Baukastensysteme, so zeigt sich, geraten städtebaulich schnell an ihre Grenzen. Es stellt sich daher sogar die Frage, ob dieser mangelnde Ortsbezug nicht den mit den Hoffnungshäusern verbundenen Integrationsgedanken erschwert.
Auf der Hand liegen dagegen die planerischen und ökonomischen Vorteile der Modulbauweise. Für die Hoffnungshäuser entwickelten andOFFICE Architekten ein System aus Elementmodulen, das auf einem 3-Meter-Raster basiert. Zwischen den abgerundeten Elementen an den Enden und dem mittigen Treppenhaus-Modul mit einem dahinterliegenden Schlafzimmer, das als Schaltraum fungiert, können je nach Bedarf und Hauslänge unterschiedlich viele „Felder“ zu Zwei- oder Dreispännern addiert werden. Nur wenige tragende Innenwände ermöglichen multifunktionale Grundrisse, was eine an wechselnde Bewohner angepasste Nutzung erlaubt: Familien oder Wohngemeinschaften, auch Studenten-WGs oder betreute Wohngruppen. Selbst für eine spätere Vermietung auf dem freien Wohnungsmarkt lassen sich die Grundrisse durch Entfernung einzelner Trennwände leicht verändern.
Da die Häuser in Serie entstehen, reduziert sich durch den Einsatz von BIM-Verfahren der Zeitaufwand pro Gebäude nach Darstellung der Architekten „in der gesamten Prozesskette von Architekturplanung, Arbeitsvorbereitung, Fertigung und Montage“. Im Prinzip können die Elemente sogar auf Vorrat produziert werden. Der hohe Vorfertigungsgrad war denn auch der Grund, warum die Wahl auf den Baustoff Holz fiel. Weitere Vorzüge sieht Thorsten Blatter von andOFFICE in den „kurzen Montagezeiten, präzisen Detaillösungen, sehr guter Nachhaltigkeit, einem tollen Raumklima und optisch ansprechenden Oberflächen“. Rund 1.800 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche betragen die Baukosten und zwischen sechs und acht Monaten die Planungs- und Bauzeit pro Haus.
So mancher Bewohner wird sich an die unverkleideten Holzständerwände aus OSB-Platten gewöhnen müssen, aber „konstruktive Oberflächen“ sind hier Konzept. Zusammen mit den Sichtholzdecken und dem klar versiegelten Estrich schaffen sie eine rustikale Behaglichkeit, die in den großzügigen Wohnküchen ihr räumliches Zentrum hat. Gemeinschaftsleben findet hier statt, sowohl innerhalb der Wohnungen als auch – im Idealfall nach Art der Familie Lukas – hausübergreifend. Zugleich tragen die offenen Küchenzeilen dazu bei, dass die Verkehrsflächen zugunsten nutzbarer Wohnfläche verringert werden können. Und da das Ausbaugewerk eingespart wird, reicht das Geld trotz niedrigem Gesamtbudget für Holzfenster, Fußbodenheizung, Luftwärmepumpe und hochwertig geflieste Bäder. Ganz entscheidend schließlich für den Wohnkomfort und den sozialen Frieden im Haus ist die schallschutztechnische Optimierung der Holzelemente. Joachim Lukas muss es wissen: „Meine Frau ist Sängerin und übt viel daheim, aber von den Nachbarn hat sich noch keiner beschwert.“
Zusatzinfos:
BIM-basiert geplant
andOFFICE Architekten haben für die Planung der Hoffnungshäuser Building Information Modeling (BIM) eingesetzt. Zu Beginn des Planungsprozesses bedeute die Erzeugung der 3D-Darstellung für Architekten zwar einigen Mehraufwand, der bisher durch die HOAI nicht gedeckt ist. Bei einer seriellen Bauweise lohne sich der Aufwand jedoch, da „die BIM-basierte Planung und Ausführung bei geringem Planungsaufwand ermöglicht, mit Baukörpern von 12 bis 24 Meter Länge auf unterschiedliche städtebauliche Rahmenbedingungen zu reagieren“. Durch die Anwendung auf das Elementmodul-System finde zudem „eine Reduzierung des Zeitaufwands in der kompletten Prozesskette Architekturplanung, Arbeitsvorbereitung, Fertigung und Montage statt“, so die Architekten.
Die Koordinierung mit dem Holzbauer werde vereinfacht, da jede Änderung am 3D-Modell vorgenommen wird, auf das beide Seiten Zugriff haben. Als Vorteil bewerten die Architekten ferner die verbesserte Übersichtlichkeit gegenüber herkömmlichen CAD-Darstellungen: „Wir können jede einzelne Schraube sehen.“ Das erhöhe die Präzision und vereinfache die Schnittstellenabstimmung in der Werkplanung und handwerklichen Ausführung.
Vergütung für Modulbauten
Die HOAI sieht eine Vergütung der Architektenleistung für Modulbauten nicht vor. Eine Abrechnung mit Abschlägen gemäß § 11 HOAI „Auftrag für mehrere Objekte“ ist möglich, setzt jedoch voraus, dass der Mehraufwand für die Planung von Modulen separat abgegolten wird. Wenn Änderungen an der Planung vorgenommen werden müssen, etwa für eine unterschiedliche Gründung der Gebäude, gilt zumindest anteilig die Honorierung für Neubauten.
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