Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Schmuggelware“ im Deutschen Architektenblatt 04.2024 erschienen.
Von Rosa Grewe
Industrie- und Logistikgebäude stehen oft auf riesigen, versiegelten und abgeschlossenen Grundstücken, geschützt von hohen Zäunen und jeder Menge Trapezblech. Entlang der Autobahnen sind fensterlose, in Metall gehüllte Kisten ein schnell vergessenes Hintergrundrauschen. Diese Nutzbauten sind ein großer Teil des Stadt- und Landschaftsbildes, dabei aber so profan, austauschbar, hässlich und häufig, dass sich selbst Architektinnen und Architekten an ihren Anblick gewöhnt haben.
Industriebau wird zu wenig beachtet
Das ärgert den Mainzer Architekten Achim Gehbauer. Seit über 35 Jahren baut er, zusammen mit seinen Büropartnern Gerhard Helten und Sven Bickel und einem auf Industriebau spezialisierten Team (GHB Architekten), Hallen und Betriebsgebäude für große Unternehmen wie Fraport, ThermoFisher oder Marabu.
Auf unsere Interviewanfrage reagiert Achim Gehbauer prompt, weil er findet, es werde viel zu wenig über den Industriebau geredet: „Es gibt kaum Literatur zum Thema, die Fachpresse vernachlässigt Industrieprojekte und auch in der Hochschule wird kaum Industriebau gelehrt.“
Prozesse verstehen und Bedarf ermitteln
Dabei hat die Bauaufgabe Zukunft und ist sehr anspruchsvoll, individuell und speziell, wie er erklärt: „Die Bedarfsabfrage spielt eine große Rolle, da kommen wir oft leider zu spät in den Planungsprozess hinein.“
Jede Firma, jedes Produkt habe eigene Prozesse, es sei jedes Mal wieder „eine unbekannte Welt“, in die sich das Team tief einarbeiten muss, um dann Flächen, Funktionen und Prozesse analytisch genau aufzugliedern. Das hilft bei der Einschätzung der vorhandenen und noch benötigten Volumen.
Verständnis für wirtschaftlichen Nutzen
Oft ist es für die Bauherren das erste Mal, dass jemand eine Bestandsaufnahme von den riesigen Bauvolumen und den über Jahre gebauten Erweiterungen macht. Die Bauten gleicht das Team mit den aktuellen Prozessen im Innern ab und hinterfragt: Inwiefern braucht der Bauherr überhaupt neue Gebäude und wie lassen sich Erweiterungen mit der ursprünglichen Baugenehmigung vereinbaren oder Prozesse auf kleiner Fläche organisieren? Wie sehen Bauabschnitte und Nachnutzungen aus, sodass Gebäude flexibel auf Wirtschaftskrisen reagieren können? Ohne ein besonderes Verständnis für den wirtschaftlichen Nutzen gehe es nicht, sagen die Architekten.
Büropartner Sven Bickel hat nicht nur Architektur studiert, sondern auch Immobilienmanagement mit Schwerpunkt Industriegebäude. Er sagt: „Die wirtschaftlichen Anforderungen stehen im Vordergrund. Ohne entsprechende Rendite gäbe es vermutlich gar keinen Industriebau.“
Lagerhallen und Logistikhallen sind gefragt
Was sich nicht lohnt, wird also erst gar nicht gebaut. Das klingt nachhaltig. Trotzdem wächst der Flächenbedarf für Industrie und Logistik. Schon jetzt nutzen wir in Deutschland rund 6.300 Quadratkilometer nur für Industrie- und Gewerbegebiete, das entspricht circa siebenmal der Fläche Berlins.
Manche Standorte, wie die über sieben Quadratkilometer große Fläche von BASF in Ludwigshafen, sind größer als die Zentren der benachbarten Großstädte. Täglich kommt deutschlandweit neue Fläche hinzu, vor allem durch eine steigende Nachfrage nach Lager- und Logistikhallen.
Auch Online-Handel braucht gute Architektur
Sven Bickel erklärt: „Der Industriebau ist Ausdruck unserer Gesellschaft: Wir bestellen immer mehr Waren, die müssen produziert, gelagert und geliefert werden.“ Zum Schutz von Stadt und Landschaft bedarf es daher nicht nur einer besseren Ästhetik der Gebäude, sondern auch eines kleineren Fußabdruckes. Dafür braucht es Architektinnen und Architekten, die Flächen sinnvoll und nachhaltig organisieren.
Funktionstrennung aufheben
Die nachhaltige Flächennutzung ist auch für Cem Arat der wunde Punkt. Er ist Architekt, lehrte Stadt- und Regionalplanung und ist heute einer von fünf Geschäftsführenden bei asp Architekten. Deren Betriebshof in der Stuttgarter Deckerstraße schaffte es auf die Nominierungsliste für den Preis des Deutschen Architekturmuseums 2024 und war bereits der zweite für seine Architektur prämierte Betriebshof, den das Team für eine Kommune plante.
Die effiziente Organisation der Flächen und deren städtebauliche Integration sowie der Umgang mit dem Baumaterial Holz zeichnen beide Projekte aus. Beim Industriebau plädiert Cem Arat mit Nachdruck für ein Umdenken: „Für kurze Wege und für mehr Nachhaltigkeit müssen wir die Produktion zurück in die Stadt holen und die klassische Funktionstrennung aufheben.“
Industriebau wird an die Peripherie verdrängt
Dass monofunktionale Quartiere und Gebäude weniger robust, flexibel und dadurch krisenanfälliger sind und wir eine Nutzungsmischung im Urbanen brauchen, ist seit über zwei Jahrzehnten Konsens bei Stadtplanenden. Dabei bleibt aber der Industriebau bis heute meist ausgeklammert.
Er rückt im Gegenteil sogar mit zunehmender Automatisierung und der damit einhergehenden Entmenschlichung in seinem Innern weiter in die Peripherie; großvolumige und oft fensterlose Industriekisten erscheinen wenig integrationsfähig. Dabei gehe es nicht um die einzelne Kiste mit ihrer belanglosen Architektur, ärgert sich Cem Arat: „Die Häufung ist doch das Problem.“
So reiht sich in Industriearealen ein fensterloses Volumen an das nächste als Resultat einer konservativen Flächennutzungsplanung der Kommunen. Cem Arat meint: „Die Weichen werden im Städtebau gestellt, und hier sind es die Kommunen, die mit den Rahmenplänen Vorgaben machen.“
Sind Industriegrundstücke zu günstig?
Doch Mischgebiete mit Industrie und anderen großvolumigen Nutzbauten sind schwierig. Dabei ergeben sich nicht nur Fragen der Maßstäblichkeit und der technischen Infrastruktur, sondern auch soziale und wirtschaftliche. So müssten Kommunen zum Beispiel ihre Bodenpreispolitik verändern, denn Industriegrundstücke sind deutlich günstiger als Flächen fürs Wohnen.
Darüber hinaus stoßen Einschränkungen der Industrie zugunsten einer verträglichen Nachbarschaft schnell auf Widerwillen der Unternehmen; jedes Zugeständnis an die Industrie ärgert dagegen die Nachbarschaft, die dort wohnt. Für die Kommunen geht es um die eigene Konkurrenzfähigkeit als Wohnort und als Industriestandort.
Industriebau versus Bebauungsplan
Achim Gehbauer weiß von seinen Kunden, dass kommunale Vorgaben, zum Beispiel bezüglich der Nachhaltigkeit oder der konkreten Baulinien, oft nicht zum Bedarf und zum Produktionsalltag seiner Bauherren passen. Sein Team sitzt dabei zwischen den Stühlen – der Nutzungsbedarf des Unternehmens hier, die kommunalen Ziele dort. Achim Gehbauer kritisiert: „Gerade in den mittelgroßen Städten fehlt in der Verwaltung oft die Fachkenntnis für den Industriebau. Wir brauchen mehr Qualität in den Bebauungsplänen.“
Kommunen haben hohe Ansprüche an sich selbst
Doch wenn eine Kommune selbst baut, sieht es oft anders aus, wie Cem Arat beobachtet: „Das Bewusstsein für nachhaltiges Bauen ist in den meisten Kommunen sehr hoch.“ Nachhaltige und soziale Aspekte sind bei kommunalen Bauten, auch bei Nutzbauten, eine festgeschriebene Anforderung.
Wettbewerbsverfahren machen zudem die architektonische Qualität zum Kriterium. Der ressourcenschonende Materialeinsatz, der ökologische Fußabdruck, aber auch die Qualität der Räume als Arbeitsorte sind heute Standard-Anforderungen für kommunale Nutzbauten.
Industriebau hatte einst soziale Ansprüche
Bei Bauherren aus der Industrie gestaltet sich das oft anders, wie Achim Gehbauer erklärt: „Architektur ist bei uns Schmuggelware.“ Er lacht, als er das sagt, kritisiert aber, dass die Qualität des Raumes als Arbeits- und Sozialraum für die Menschen, die dort arbeiten, für die Auftraggebenden oft keine Rolle spielt. „Alleine die Arbeitsstättenrichtlinien sind oft schwierig durchzusetzen“, bemängelt er.
Tageslicht, eine gute Aussicht oder eine ansprechende Gestaltung, darüber muss sein Team oft erst mit den Auftraggebenden verhandeln. Beide Büros verweisen auf die Zeit der Industrialisierung, als Fabriken und Werkswohnungen auf einer urbanen Fläche symbiotisch koexistierten und durchmischte, lebendige Nachbarschaften bildeten. Sie schwärmen von der beständigen Architekturqualität der Bauten und betonen den sozialen Anspruch, der heute zu oft fehle. Muss der Industriebau eine Rückwärtsrolle machen, um zukunftsfähig zu werden?
Die Zukunft der Produktion
Dazu wird es wohl eher nicht kommen, nach Einschätzung von Sven Bickel: „Die Automatisierung mit Robotern gleicht die Produktionsprozesse verschiedener Sparten aneinander an. Auch das Design nivelliert sich immer mehr.“ Weniger Menschen, mehr computergesteuerte Roboter, zunehmend gleiche Prozesse, für Bickel hat das Chancen: „Perspektivisch lassen sich Roboter auch auf kleinsten Volumen an einem beliebigen Ort aufstellen. Unsere Utopie ist eine weniger flächig, mehr vertikal organisierte und sehr platzsparende Fabrik“, sagt er.
Eine enge Fabrikstraße als tetrisförmiges Hochhaus oder eine ferngesteuerte, viel Solarstrom produzierende Fabrik in der Wüste, für Achim Gehbauer und Sven Bickel sind das durchaus Lösungen gegen den Flächenfraß. Die Wüste ist dagegen für Cem Arat keine Option, wegen der langen Transportwege.
Aber in neuen Produktionsprozessen sieht auch er Chancen: „In vielen zeitgemäßen Produktionen gibt es heute viel weniger Lärm oder Schadstoffemissionen, und ihre Ansiedlung auf innerstädtischen Brachen kann die Innenstädte neu beleben.“ Er setzt auf synergetische Nutzungsmischungen mit kleinen innerstädtischen Mobilitäts-, Produktions- oder Distributionszentralen und drängt auf die Öffnung abgeschlossener Firmenareale für die Öffentlichkeit.
Für Bauherren muss sich Industriebau lohnen
Dass sich der Nutzbau, vor allem die Industrie-, Lager- und Logistikgebäude, und die dazugehörigen Flächen verändern müssen, da sind sich beide Büros einig. Aber wie bringt man die Auftraggebenden dazu, mehr in Gestaltung, Nachhaltigkeit und soziale Belange zu investieren, wenn einzig die Rendite zählt?
Beide Büros verweisen auf den Fachkräftemangel. Cem Arat hofft: „Im Kampf um die besten Fachkräfte müssen die Unternehmen attraktiver werden und ihren Mitarbeitenden ein besseres Arbeitsumfeld bieten. Daher werden sie sich wandeln müssen.“
In Zukunft mehr Flexibilität und weniger Fläche
Außerdem könnten Bauherren von einer Veränderung beim Bauen durchaus mehrfach profitieren, ist Sven Bickel überzeugt: „Die zunehmende Gleichförmigkeit der Prozesse im Innern ermöglicht ein elementiertes Baukastensystem, das, einmal ausformuliert, eine höhere Baugeschwindigkeit, kleinere Flächenbedarfe, mehr Robustheit und Flexibilität bringt.
Es ermöglicht auch mehr Qualität bei Gestaltung und Material sowie eine nachhaltige Nachnutzung.“ Bis es aber so weit ist, müssen Architektinnen und Architekten die Qualität im Industriebau ganz besonders verteidigen. Damit der eben nicht mehr so aussieht, wie er viel zu oft aussieht.
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