Infraleichtbeton und Stampfbeton: Jugendclub und Sternwarte
Egal aus welchem Material: Einschichtige Außenwände sind selten geworden. Zwei ungewöhnliche Betonbauten in Berlin und Bern zeigen, was bei Hightech wie Lowtech derzeit technisch und ästhetisch möglich ist
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Monolithisch“ im Deutschen Architektenblatt 09.2020 erschienen.
Von Gregor Harbusch
Monolithische Sichtbetonwände sind ein klassischer Architektentraum. Kein komplizierter Wandaufbau, keine vorgehängten Fassaden, keine aufgebrachte Dämmung – einfach nur pure, materialsichtige Wand. Realisierbar sind solche Konstruktionen im heutigen Baugeschehen nur selten, gerade vor dem Hintergrund der strengen deutschen Dämmverordnungen. Doch wenn Beton nicht nur trägt, sondern auch dämmt, oder wenn er – genau im Gegenteil – ganz bewusst nicht dämmen soll, werden Sichtbetonbauten möglich, in denen Optik, Haptik und bauphysikalische Eigenschaften des Materials ein großes Ganzes bilden.
Zwei aktuelle Beispiele aus Berlin und Bern zeigen, was an den Grenzen des Bauens mit Beton technisch und ästhetisch möglich ist – wobei die beiden Projekte nicht unterschiedlicher sein könnten. Der Jugendklub mit Familienzentrum von Gruber + Popp Architekten in Berlin ist ein echter Meilenstein technischer Innovation, denn er ist das erste öffentliche Gebäude Deutschlands aus Infraleichtbeton. Demgegenüber setzten wbarchitekten bei ihrem Entwurf für die Sternwarte der Uni Bern im Dorf Zimmerwald auf handwerklich verarbeiteten und geradezu archaisch wirkenden Stampfbeton. In beiden Fällen führte die intensive Auseinandersetzung mit der Bauaufgabe zur Wahl einer speziellen Betonsorte, die den Eindruck der Gebäude maßgeblich prägt.
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Trutzige Oase aus Infraleichtbeton
Grau und abweisend liegt der Jugendklub mit Familienzentrum im Lichtenberger Ortsteil Friedrichsfelde zwischen typischen DDR-Plattenbauten. „Betonoase“ wird das 2018 bezogene Haus von seinen Nutzern genannt, was für fremde Ohren, die die lokalen Zusammenhänge nicht kennen, fast schon zynisch klingt. Doch weit gefehlt! Den ruppig-liebevollen Spitznamen „Betonoase“ trug bereits der Vorgängerbau. Davon habe man sich in doppelter Hinsicht inspirieren lassen, erklärt Bernhard Popp. Erstens fiel die Wahl auf Sichtbeton, zweitens konzipierten die Architekten das Haus ganz bewusst als eine Art „Trutzburg“, die den Jugendlichen Schutz vor den neugierigen Blicken der Nachbarn auf den umliegenden Balkonen gewährt.
Der Neubau geht auf ein Gutachterverfahren zurück, zu dem der Bezirk Lichtenberg Anfang 2016 sechs Büros einlud. Gesucht wurde ein Haus, in dem sowohl ein Jugendzentrum für Acht- bis Achtzehnjährige als auch ein Familienzentrum für junge Familien mit kleinen Kindern untergebracht werden sollte. Gruber + Popp schlugen nicht nur einen Grundriss vor, der die potenziellen Nutzungskonflikte gut löste, sondern trafen im bezirklichen Planungsamt auf einen Entscheidungsträger, der als ausgebildeter Ingenieur das Wagnis unterstützte, hier ein repräsentatives Pionierprojekt in Infraleichtbeton zu realisieren.
Leichbetone mit einer Rohdichte von 800 bis 2.000 kg/m3 kennt man bereits seit Jahren. Bereits seit 1979 sind gefügedichte Leichbetone als Baustoffe genormt, weiß Christian Thienel von der Universität der Bundeswehr in München. Circa fünf Prozent des aktuell in Deutschland verbauten Betons sind Leichtbetone, schätzt Albrecht Richter vom InformationsZentrum Beton. Langsam, aber stetig werde mehr und mehr Leichtbeton verarbeitet, denn das geringe Gewicht und die Dämmeigenschaften sprechen für das Material, auch wenn es zwei- bis dreimal teurer als Normalbeton und oft schwer verfügbar ist. Doch die seit 2016 geltende Energieeinsparverordnung habe dem Bauen mit Leichbeton einen empfindlichen Dämpfer versetzt, ergänzt Richter. Denn aufgrund der neuen, strengen Vorgaben kann Leichtbeton nun nicht mehr monolithisch als tragendes und zugleich dämmendes Material im Wohnungsbau eingesetzt werden, da die Wände zu dick werden würden.
Einschalig bauen mit Infraleichtbeton
Genau hier kann Infraleichtbeton punkten. Da dieser nochmals bessere Dämmwerte als Leichtbeton hat, konnten die Architekten bei der „Betonoase“ mit einer einschaligen Sichtbetonwand von 50 Zentimetern Stärke arbeiten. Auch die Vordächer bestehen aus Infraleichtbeton, die eigentliche Dachfläche jedoch aus konventionellem Beton. 700 kg/m3 Trockenrohdichte weist der Infraleichtbeton auf, der in Lichtenberg zum Einsatz kam. Ein solcher Beton ist nicht nur vergleichsweise porös, sondern er schwimmt sogar! Als samtig weich und warm beschreibt Projektleiter Achim Schock das Gefühl, wenn man einen solchen Beton berührt. „Da Infraleichtbeton ein dämmendes Material ist, nimmt es beim Berühren, Anlehnen und Sitzen schnell die Körperwärme auf und unterscheidet sich in seiner haptischen Eigenheit deutlich von konventionellem Beton“, ergänzt Popp.
Auch die Verarbeitung ist anders. Infraleichtbeton kann nicht gepumpt werden, sondern wird geschüttet. Er ist vergleichsweise flüssig und verdichtet sich selbst. Das Ergebnis sind deutlich ablesbare Schüttlagen an der Oberfläche. Da es für Infraleichtbeton noch keine Normen gibt, bedarf es einer Zulassung im Einzelfall. Die entsprechenden Belastungsversuche wurden an der TU Berlin am Lehrstuhl von Mike Schlaich ausgeführt, der auch die Tragwerksplanung verantwortete. Mit Schlaich hatten Gruber + Popp bereits bei ihrer 2015 eingeweihten Tramhaltestelle aus Leichtbeton am Berliner Hauptbahnhof zusammengearbeitet. Sein Lehrstuhl begleitete das wegweisende Projekt in Lichtenberg auch forschend.
Archaische Schutzhülle aus Stampfbeton
So viel Aufwand wie in Berlin bedurfte es bei den beiden kleinen Kuppelbauten für das Astronomische Institut der Universität Bern in der Gemeinde Zimmerwald nicht. Seit 1956 betreibt das Institut im 840 Meter hoch gelegenen Dorf ein Observatorium. Die Sternwarte arbeitet mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA zusammen und führt hier im Rahmen des International Scientific Optical Network die Beobachtung und Dokumentation von Weltraumschrott durch, der für die Raumfahrt zu einer ernsthaften Gefahr geworden ist. 2005 gewann das Berner Büro wbarchitekten den ersten Preis im Wettbewerb für die Erweiterung der Sternwarte und realisierte anschließend einen sachlichen Bau aus Glas und weißen Aluminiumschindeln, der in seiner präzisen Setzung den technischen Duktus einer Sternwarte widerspiegelt.
Bei den beiden Kuppelbauten, die 2015–17 projektiert und ausgeführt wurden, beschritten die Berner einen völlig anderen Weg: Sie setzten die beiden Kuppeln aus strahlend weißem Kunststoff auf Wände aus braunem Stampfbeton. Auf den ersten Blick irritiert der Kontrast von hochgradig präziser Teleskoptechnik und archaischer Wand. Doch den Architekten ging es hier nicht um ein ästhetisches Spiel, sondern um handfeste bauphysikalische Aspekte, wie Kamenko Bucher erläutert, der das Büro wbarchitekten zusammen mit Gian Weiss 2003 gründete. Denn gesucht war ein atmendes und nicht dämmendes Material, das Feuchtigkeit aufnehmen kann und dafür sorgt, dass im Inneren des Hauses möglichst die gleiche Temperatur herrscht wie außen. Dadurch soll verhindert werden, dass sich an den weißen Kunststoffkuppeln Kondenswasser bildet.
Anfänglich hatten die Architekten auch über einen mit Schindeln verkleideten Holzbau oder die Verwendung von Stampflehm nachgedacht. Doch da die beiden Kuppelbauten wetterexponiert stehen, fiel die Wahl schließlich auf Stampfbeton, der robuster ist und besser altert. Seit Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel (2005–07) hat das Material eine gewisse Bekanntheit erlangt, ist aber letztlich ein reines Nischenprodukt für spezielle Bauaufgaben. Einen örtlichen Bezug gebe es jedoch durchaus, erklärt Bucher. An den Scheunen der Umgebung finde man immer wieder Fundamente aus Stampfbeton, jedoch nicht in der von den Architekten gewählten Farbigkeit, die wiederum auf die Verwendung von braunem Jurakies zurückgeht, der im Kanton Bern abgebaut wird.
Die Außenmauern sind 40 Zentimeter stark und stehen auf einem Fundament aus Stahlbeton, auf dem auch die eigentlichen Messinstrumente montiert sind. Stampfbeton ist unbewehrt und kann nur auf Vertikaldruck beansprucht werden. Er ist weitaus trockener als normaler Beton, wird schichtweise in eine Gleitschalung eingefüllt und anschließend mit der Hand gestampft. Jede Schicht darf maximal 25 Zentimeter hoch sein und soll einen Tag trocknen, bevor die nächste darübergesetzt wird. Dass dabei ein ausgeprägtes Lagenbild entsteht, ist offensichtlich. Das Ergebnis soll auch an die gepressten Heuballen erinnern, die man in der Gegend allenthalben sieht.
Neue Impulse mit Carbonbeton
Den geradezu konträren Weg zu dem Berliner und Berner Projekt gehen momentan HENN zusammen mit dem Büro AIB und Manfred Curbach von der TU Dresden. Nach langen Jahren der Forschung bauen sie seit Anfang des Jahres an ihrem Pionierprojekt in Carbonbeton. Das Haus für die TU Dresden mit dem Namen „Cube“ soll beweisen, dass man Stahlbewehrung durch Kohlefasermatten ersetzen kann. Diese sind nicht nur frei formbar, sondern auch äußerst tragfähig und korrosionsfrei, was sehr schlanke und leichte Konstruktionen ermöglicht. Damit verbindet sich nicht zuletzt die Hoffnung, endlich die Ökobilanz von Beton nachhaltig zu verbessern. Denn noch immer ist die Zementproduktion weltweit einer der größten Verursacher von CO2. Bereits in wenigen Monaten soll der „Cube“ fertig sein und wird dem innovativen Bauen mit neuen Betonsorten sicherlich entscheidende Impulse geben.
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