Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Die inneren Werte“ im Deutschen Architektenblatt 10.2024 erschienen.
Umbau-Beispiel 1: Kirche wird zum Open Space
Das Schicksal der Martinskirche in Stuttgart gleicht dem vieler Gotteshäuser: Bis zur Jahrtausendwende war die Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher auf 20 bis 30 meist ältere Gläubige geschrumpft. Ein ergänzendes oder alternatives Nutzungskonzept hatte die evangelische Gesamtkirchengemeinde für das imposante Haus in dem stark von Migranten geprägten Nordbahnhofsviertel nicht. Also beauftragte sie Gerald Klahr und Aaron Werbick mit ihrem Büro prinzmetal mit der temporären Umnutzung des Bauwerks als Jugendkirche.
Die Stuttgarter Martinskirche vereint seit 2023 eine Mischung von kirchlichen und weltlichen Nutzungen.
Brigida González
Kirchenraum selbst gestalten
„In einem partizipativen Prozess von 2006 bis 2014 haben wir den Raum mit minimalem Budget bespielt. Jugendliche und Schulklassen sowie Interessierte aus der Gemeinde und der Nachbarschaft wurden eingeladen, die Kirche mit niederschwelligen Mitteln wie Europaletten, Gerüstbohlen oder Lkw-Planen zu gestalten, sich anzueignen und zu nutzen“, erzählt Architekt Aaron Werbick. Auf den gemeinsam entwickelten Ideen basierten wesentliche Bestandteile des Beitrags von prinzmetal zum anschließenden geladenen Realisierungswettbewerb für einen dauerhaften Umbau.
Mobile Holzpodeste für flexible Raumnutzung
Mittlerweile ist dieser umgesetzt. Für Baukosten von rund sieben Millionen Euro inklusive Ausstattung (Bruttogrundfläche: circa 2.400 Quadratmeter) flexibilisierten prinzmetal den Bau aus den 1930ern (Wiederaufbau 1950). Der Innenraum blieb in seiner Grundstruktur erhalten. Der erhöhte Altarbereich an der Südseite des Hauptschiffs wurde erweitert.
Unter dem neuen Boden verstecken sich nun drei herausziehbare Podeste aus Holz, die die Fläche bei Bedarf zusätzlich vergrößern oder auch frei im Raum positionierbar sind. An der gegenüberliegenden Nordseite sind zwei neue, kleinere, sakral nutzbare Räume entstanden: die Martinskapelle unter der Empore und die darüber angeordnete Jugendkapelle.
Raum kann größer oder kleiner werden
Beide Räume sind durch Schottenwände schalltechnisch vom Hauptraum getrennt, lassen sich aber über große Tore mit ihm verbinden, etwa für gut besuchte Gottesdienste an Feiertagen. Im Seitenflügel haben die Architekten einen multifunktionalen Spiel- und Gruppenraum gestaltet. Schrankmöbel mit Sitzkissen reihen sich in Parkposition an der Wand auf, können jedoch auch als Raumteiler fungieren. „Ein wesentliches Merkmal aller Nutzungseinheiten ist ihre sehr schnelle Wandelbarkeit“, betont Architekt Aaron Werbick. „Der Ort eröffnet Handlungsspielräume, die gemeinsam gestaltet werden können.“
Kirche als milieuübergreifender Treffpunkt
Das Untergeschoss, das einst als Luftschutzbunker und zwischenzeitlich als Metallbauwerkstatt diente, beherbergt heute neben einem Gemeindebüro ein Bistro. Das öffnet sich durch eine neu angelegte Außenterrasse zur Stadt. Die Westseite des Bauwerks hat so ein völlig neues Gesicht bekommen, die Ostseite hingegen mit dem angestammten Haupteingang am Fuße des Turms ist unverändert.
„Wenn alte Gemeindemitglieder zurückmelden: ,Sie hat sich verändert, aber wir erkennen unsere Kirche wieder‘, und gleichzeitig Kreative aus der benachbarten Künstlersiedlung sie als inspirierenden Ort entdecken, ,an dem man mal was machen müsste‘, dann ist für uns das Ziel erreicht, einen milieuübergreifenden Treffpunkt zu schaffen“, so das Fazit der Architekten.
Umbau-Beispiel 2: Kornspeicher wird zum vertikalen Urnenfriedhof
Während genau wie in Stuttgart in manch anderer Kirche religiöse Nutzungsflächen verkleinert werden, erhalten andernorts säkulare Gebäude seelsorgerische Funktionen. So wurde beispielsweise im Mai im ehemaligen Kornspeicher „Die Eiche“ in Lübeck eines der größten Kolumbarien Deutschlands eröffnet.
Die Eigentümer, Peggy Morenz und Michael Angern, hatten sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beruflich mit dem Thema Trauer und Tod beschäftigt und das denkmalgeschützte Gebäude gezielt für den Zweck erworben, dort einen überkonfessionellen Urnenfriedhof zu errichten. Konzipiert wurde er vom Büro Atelier 522 Markdorf. „Vor der Aufgabe, etwas zu schaffen, was bleibt, hatten wir einen Heidenrespekt“, sagt Architekt Philipp Beck. „Unser Anspruch war, dass man im Gebäude nicht spürt, in welcher Zeit man ist.“
Eine Lichtinstallation der Künstlerin Madlaina Lys aus Tausenden Porzellanplättchen prägt den hohen Raum des Kolumbariums.
Jörg Schwarze
Kolumbarium mit mehreren Etagen
Der siebengeschossige Speicher mit der neugotischen Backsteinfassade wurde 1873 von Senator Thomas Johann Heinrich Mann erbaut. Nach einer umfangreichen Sanierung 1995 beherbergte er ein Möbelauktionshaus. Wer heute durch den Haupteingang an der Trave tritt, findet sich schon im Foyer in einer ganz anderen Welt wieder.
Der weiche Bodenbelag nimmt nicht nur Schmutz, sondern auch Lärm auf; der Raum bildet einen Puffer zwischen dem hektischen Treiben der Straße und der im Innern des Gebäudes liegenden Trauerhalle. Dort unterstreicht ein als Terrazzo geschliffener Asphaltboden den würdevollen Charakter. Parallel zu den Seitenwänden sind aufgearbeitete Sitzbänke aus einer alten Kirche angeordnet.
Lichtkunstwerk im Mittelschiff
Über ihnen wölben sich die wuchtigen Balken der Holzdecke. Eine nahezu sechs Meter hohe filigrane Lichtinstallation im Mittelschiff streut mit mehr als 12.000 Porzellanplättchen an 600 Fäden warmes Licht in die Halle, aber auch auf die Galerien der ersten und zweiten Etage. Das Kunstwerk von Madlaina Lys verbindet die Geschosse.
„Im Gebäude gab es an unterschiedlichen Stellen Deckendurchbrüche über drei Ebenen – vom Erdgeschoss bis zur zweiten Etage –, sodass diese bereits eine Einheit und einen Brandabschnitt gebildet haben“, beschreibt Philipp Beck. „Wir haben die ursprüngliche Struktur wieder freigelegt und ein Mittelschiff geschaffen, das über alle drei Ebenen reicht.“
Mehr oder weniger individuelle Formen der Trauer
Auf den beiden oberen Ebenen sind die Urnenfächer in unterschiedlich gestalteten Zonen platziert. Anders als in anderen Kolumbarien war hier das Ziel der Initiatoren, Möglichkeiten für unterschiedliche Formen von Trauer und Abschied zu schaffen. Erinnerungsstücke können in geschlossenen Fächern vor den Grabstätten deponiert oder auch in Vitrinen ausgestellt werden.
In einem abgegrenzten Raum, dem Kabinett, finden sich Urnenfächer mit einheitlich großen Fronten aus urwüchsiger französischer Eiche mit wurzelholzähnlicher Maserung. Im Spiegelsaal auf der anderen Seite des Gebäudes bestehen die Türen der Fächer aus versilbertem, mundgeblasenem Glas. „Ihre Fläche spiegelt die Trave direkt vor dem Fenster und holt das Licht ins Gebäude. Zwischen den Urnenwänden steht ein Schreibtisch, an dem Angehörige Abschiedsbriefe schreiben können“, erklärt Philipp Beck. „Besonders wichtig war uns, eine Ecke für Kinder zu schaffen, einen Bereich, in dem Eltern und Geschwister einen guten Umgang mit Sternenkindern finden können. Diese symbolisieren gefilzte Kokons an den Holzbalken.“
Durch das Zusammenspiel von Details wie diesen (sowie den zahlreichen liebevoll von der Eigentümerin kuratierten Kunstwerken) mit der robusten Holzstruktur und dem denkmalgeschützten Ambiente ist dieses Kolumbarium mit Nettobaukosten von 1,2 Millionen Euro (KG 300) zu einem besonderen Ort der Erinnerung mitten in der Stadt geworden.
Umbau-Beispiel 3: Ladenwohnung wird zum Kindergarten mit Mini-Pool
Die beiden Umbauten in Stuttgart und Lübeck waren von großem öffentlichem Interesse begleitet. Immerhin sind beide Bauten stadtprägend. Vergleichsweise unbemerkt vollziehen sich Neugestaltungen im Innern von Gebäuden dagegen, wenn es um kleinere Einheiten geht – wie den Umbau einer ehemaligen Gewerbeeinheit für die Nestgruppe eines benachbarten Kindergartens in Berlin.
Für die Architektinnen Katja Thorwarth und Jeanne-Françoise Fischer war bei diesem Projekt die flexible Nutzbarkeit die wichtigste Prämisse. In der Zweiraumwohnung mit Küche und Bad im Erdgeschoss eines Gebäudes Baujahr 1903 war ehemals ein Gemischtwarenladen untergebracht, später eine Taschenmanufaktur.
Wanddurchbruch und Rundlauf
Der größte Eingriff, den die Architektinnen in den Grundriss vornahmen, war ein Durchbruch vom Flur in einen der beiden ehemaligen Gewerberäume, der zuvor nur über den anderen Raum erreichbar war. „Kinder haben einen großen Bewegungsdrang. Sie rennen gerne im Kreis, spielen Fangen oder verstecken sich“, erklärt Jeanne-Françoise Fischer. „Bei der Neugestaltung des Grundrisses wollten wir eine große Variabilität erzeugen. Durch Öffnung der Garderobe entsteht ein Rundlauf, bei Schließung ein Rückzugsort oder Geheimversteck.“
Planschende Kinder in der Küche
Die zweite, mindestens genauso augenfällige Veränderung ist der Umbau der ehemaligen Küche zu einer Badelandschaft. „Die Kita wünschte sich anstelle eines konventionellen Bades einen ‚Wassererfahrungsraum‘. Sie arbeitet nach dem Montessori-Konzept und möchte den freien und lustvollen Umgang mit dem Element Wasser fördern“, berichtet Katja Thorwarth. Die Architektinnen konzipierten einen gefliesten Raum mit zwei Nutzungszonen.
Im hinteren Bereich, direkt vor dem bodentiefen Fenster, befindet sich eine beheizte Plattform mit einem Pool, einer Regenwasserdusche und einem Kaskadenbecken. Im grünen Innenhof schließt sich ein Spielbereich mit Schlauch, Sand und Beeten an. „Die Anordnung der Badelandschaft hat sich aus räumlichen und funktionalen Anforderungen ergeben“, erläutert Jeanne-Françoise Fischer. „Wir wollten die größtmögliche Fläche für die Badelandschaft nutzen, zugleich eine Aufenthaltsqualität und einen Bezug zum Außenraum schaffen. Andererseits sollte der Bereich rund um Wickeltisch, Kinder-WC und Waschbecken trocken bleiben.“
Umbau mit sehr niedrigem Budget
Eine zentrale Vorgabe des Bauherrn für den gesamten Umbau war das sehr niedrige Budget. Letztlich beliefen sich die Baukosten für die Kostengruppen 300 und 400 auf nur 43.000 Euro netto bei einer Baugrundfläche von 65 Quadratmetern. „Träger der Kita ist ein gemeinnütziger Verein, der über geringe Rücklagen verfügt. Also ging es darum, mit allen notwendigen baulichen Maßnahmen den größtmöglichen Mehrwert zu generieren“, sagt Jeanne-Françoise Fischer.
Katja Thorwarth ergänzt: „Durch die Variabilität des Grundrisses und die Verhältnismäßigkeit der Eingriffe konnten wir ein Projekt realisieren, das im Hinblick auf die Flächennutzung und den Materialaufwand sowohl ökologisch als auch ökonomisch nachhaltig ist.“ Diese Aussage würde Aaron Werbick bezüglich des Kirchenumbaus in Stuttgart wohl auch unterschreiben.
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