Nils Hille
Kurz vor der Endstation sind nur noch Japaner im Zug. Die Strecke ist schon länger eingleisig. An manchen Stationen kann der Zug erst weiter, wenn eine Bahn aus der Gegenrichtung angekommen ist. Durch die Fenster sind rechts wie links meist nur Wiesen, Hügel und schmale Wege zu sehen. Weiter entfernt liegen kleine Orte mit roten Dächern und immer einer Kirche – in der untergehenden Sonne ein fast schon kitschiges Bild. Die Japaner öffnen die Fenster und machen ein Foto nach dem anderen. Dabei riecht es mal frisch und mal eher streng nach der guten Landluft.
Durch die kleinen Waldstücke, die der Zug passieren muss, ist gerade eine Schneise geschlagen worden, damit er durchpasst. Von Seeg über Hopferau kurvt die Bahn am Hopfensee vorbei und erreicht endlich die per Lautsprecher angekündigte „Endstation Füssen“. Und der Bahnhof sieht genauso aus.
Das kann ja heiter werden. Aber irgendwas muss die Stadt doch haben, die jedes Jahr eine Million Touristen besucht, obwohl nur rund 14 000 Menschen dort leben? Irgendwas, außer dem Schloss Neuschwanstein.
Italienische Momente
Am nächsten Morgen sieht Füssen schon ganz anders aus. Ein klarer blauer Himmel und strahlender Sonnenschein lassen den Stadtkern noch schöner erscheinen, obwohl er eh ausschaut wie aus dem Bilderbuch. Mittendrin liegt natürlich, wie es sich gehört, das Rathaus. Der Architekt und Stadtbaumeister Theo Fröchtenicht hat hier sein Büro. Er wird heute durch Füssen führen und hat sofort eine einleitende Geschichte zum Ort auf den Lippen: Die Architektur des Schlosses Hohenschwangau, des zweiten bekannten Königsschlosses der Region, wurde von einem Theatermaler entwickelt.
Dieser stammte aus einer italienischen Familie. Und auch sonst sei das Füssener Stadtbild „stark von Italien beeinflusst“, so Fröchtenicht. Er spielt damit auf das Rathaus in Barockarchitektur von Johann Jakob Herkom an. Der Baumeister hatte in Venedig studiert, und nachdem eine Kapelle von ihm in Füssen auf Zufriedenheit stieß, durfte er 1680 auch die Bürgermeisterei bauen. Direkt gegenüber liegt heute passenderweise „Giovannis Weinladen“, den Fröchtenicht nicht nur zum Kauf der guten Tropfen, sondern auch zu deren direkter Verkostung vor dem Laden an Tischen aus alten Weinfässern empfehlen kann. Dafür ist es aber noch zu früh.
Der Weg führt uns raus aus der historischen Kulisse. Ende des 19. Jahrhunderts war hier das Ende der Stadt. Füssen bestand nur aus dem kreisförmigen Altstadtkern am Lech. „Da gingen die Menschen kurz um die Ecke und brachten die Gülle auf die Gemüseäcker, die direkt dahinter lagen“, sagt Fröchtenicht. Heute leben dort „draußen“ die meisten Füssener. Das neuste Wohngebiet wollen wir uns anschauen.
Im sogenannten Venetianerwinkel haben rund 800 Menschen ihr Zuhause gefunden. Für die Konversationsfläche fand 1996 ein Architektenwettbewerb statt und das Ergebnis war gleichzeitig Theo Fröchtenichts erste Aufgabe in der Stadt: „Als ich kam, sagte man mir: ‚Bitte umsetzen‘.“ Keine leichte Aufgabe, denn die Vorstellungen der späteren Hausbesitzer waren alles andere als einheitlich. Nun ist ein Stadtteil der Kontraste entstanden, der trotzdem etwas Harmonisches wie Lebhaftes vermittelt.
Mehrparteienhäuser sind mit Reiheneigenheimen gemischt. Die Mieter parken ihr Auto unsichtbar in unterirdischen Tiefgaragen, die Hausbesitzer direkt vor der Tür. Doch ihre Wohngrundflächen sind nicht sehr groß – flächensparendes Bauen am Rande einer weiten Wiesen- und Wälderlandschaft.
Träume von Groß und Klein
Direkt zwischen den Wohnhäusern, aber frei stehend mit genügend Außenraum zum Spielen, liegt der Dreiviertelrundbau des Kindergartens Sternschnuppe, der seit September letzten Jahres auch eine Kinderkrippe in der ersten Etage beherbergt. In Zusammenarbeit von Fröchtenicht mit den Architekten Stein und Buchholz (früher Stein und Winkelmann) ist das Gebäude in den letzten Jahren entstanden und erweitert worden. Der Kindergarten ist evangelisch, doch die Architektur wirkt antroposophisch: An den wenigsten Stellen kann der Besucher einen rechten Winkel ausmachen. Die Materialien sind natürlich ökologisch, die Farben so bunt, wie Erwachsene es ihren Kindern nur wünschen können. Die Kinder turnen begeistert durch die Bildungseinrichtung.
Kontrastreich geht es weiter in den Norden der Stadt. Hier liegt das Füssener Festspielhaus, auf einem extra aufgeschütteten Grundstück direkt am Forggensee. „Es ist zu bestimmten Zeiten ein magischer Ort. Vor allem morgens früh, wenn der See ruhig daliegt, spiegeln sich die Alpen und das Schloss Neuschwanstein darin“, so Fröchtenichts Geheimtipp.
Wer diesen Moment erleben will, muss dem Festspielhaus den Rücken zukehren. Eine treffende Ironie: Das haben auch im übertragenen Sinne bei dessen kulturellen Angeboten zu viele gemacht. Ursprünglich für eine Musicaldauerproduktion über Ludwig II. gedacht, wurde das Gebäude von Josephine Barbarino zwischen 1998 und 2000 errichtet. Viele Hoffnungen steckten in dem Projekt – nicht nur von den Bauherren und den Betreibern, auch von Stadt und Bürgern – und rund 34 Millionen Euro, die der Bau gekostet hat.
Doch die Spielstätte mit den 1 380 Sitzplätzen erreichte nie die nötige Auslastung. Auch ein zweiter Versuch, mit einem neuen Stück und einem anderen Investor, scheiterte. Seitdem finden nur hin und wieder Gastspiele von Künstlern statt. Doch die neu geschaffene Infrastruktur wird für andere Zwecke genutzt. „Die Bademöglichkeit im Sommer wird begeistert angenommen. Dann liegen hier die Menschen auf den Wiesen oder gehen schwimmen“, so Fröchtenicht. Auch das Ausflugsschiff auf dem See, jedes Jahr von Anfang Juni bis Mitte Oktober in Betrieb, kann er empfehlen.
Andere Wohnform
Auf dem Rückweg in die Stadtmitte machen wir in der Kernstadt Nord halt. Das über 100 Jahre alte Quartier wird gerade saniert. Wo das schon geschehen ist, sitzen Menschen auf ihren vorgestellten kleinen Balkonen, aber nicht unbedingt in der Sonne. Die alten Häuser sind nicht nach Himmelsrichtungen gebaut, da die Erschließung damals vom gemeinsamen Innenhof aus erfolgen sollte. „Der Abriss des einen oder anderen Hauses hätte eine offenere Gestaltung zugelassen, doch hier spielte der Denkmalschutz nicht mit“, erklärt Fröchtenicht.
Zurück in die Altstadt. Ein kurviger, enger Weg, der gerade so mit einem Auto befahren werden kann, führt zum spätgotischen Hohen Schloss, das das Stadtbild prägt – zuerst Ende des 13. Jahrhunderts als Burg errichtet, um 1500 zu einem Burgschloss ausgebaut. „Zwei gute Argumente für den Aufstieg gibt es. Erstens sind hier die Staatsgalerie und die städtische Gemäldegalerie (siehe „Kulturell“) beheimatet – und deren Bilder stellen die damalige Zeit ganz gut dar. Und zweitens ist der Blick über die Stadt einmalig“, so Fröchtenicht.
Die beste Aussicht haben Besucher vom Uhrenturm. Über alte Holztreppen führt der Weg nach oben. Auf den Etagen sind kleine Verschläge, in die früher die „bösen Buben“, wie Fröchtenicht sie nennt, gesperrt wurden. Einzelne Ketten sind noch vorhanden.
In der Turmspitze angekommen, öffnet der Stadtbaumeister ein kleines Fenster. Er hat nicht zu viel versprochen, die Aussicht lohnt den Aufstieg. „Wenn ich hier herunterschaue, denke ich als Erstes an die Leute, die früher in der Stadt gelebt haben. Da sah Füssen nicht so schön aus wie heute“, sagt Fröchtenicht.
Auf dem Weg nach unten erzählt er von einem Gebäude, das nicht so schön ist: „Füssen muss endlich einen neuen Bahnhof bekommen.“ Bei einem Wettbewerb 2006 konnte sich das Büro Kauffmann Theilig und Partner aus Ostfildern mit seinem Tor in die Stadt durchsetzen – einem winkeligen gelben Bau mit leicht angeschrägtem Dach. Eine Bürgerinitiative wollte allerdings den Vorgängerbau von 1889 erhalten, doch die Mehrheit der Füssener entschied in einem Bürgerbegehren dagegen. Nun ist der Neubau in der Detailplanung und soll 2009 gebaut werden.
Marktzeit
Zurück im Hier und Jetzt führt Fröchtenicht zum kulinarischen Abschluss unserer Tour in die Markthalle. Das ehemalige Feuerwehrhaus sollte eigentlich ein Haus des Kunsthandwerks werden. Doch es fand sich nur ein Geigenbauer, der hier einziehen mochte. Das tat er auch und hat seine Werkstatt nun unterm Dach. Darunter sitzt der Trachtenverein und im Erdgeschoss floriert eine kleine, aber feine Markt-halle. „Die Stadt fasziniert mich immer wieder, da hier Gegensätze aufeinandertreffen“, sagt Fröchtenicht. Sorgfältig dekorierte Stände und eine erstaunlich große Auswahl laden zum Einkaufen ein – oder gleich zum Verspeisen (siehe „Kulinarisch“). Fröchtenicht bestellt bei dem Vietnamesen, der vorne am Stand Obst und Gemüse verkauft und hinter den Kulissen frische Salate unter anderem mit hausgemachten Frühlingsrollen kombiniert.
Doch hier sitzen nur Deutsche – die Japaner trinken draußen vor dem bayerischen Lokal ein Weißbier.
Entspannend
Treff Hotel Luitpoldpark Viersterne-hotel direkt am Stadtpark, Café, zwei Restaurants und Pianobar.
Hotel zum Hechten Kleiner Gasthof mit familiärem Charme mitten in der Füssener Altstadt.
Vital Hotel Sommer Ferienhotel direkt am Forggensee. Mit Spa und Wellness-Bereich.
Kulinarisch
Markthalle An den Marktständen gibt es verschiedene leckere Gerichte zu günstigen Preisen. Ideal für eine entspannte Mittagspause mitten in der Füssener Altstadt.
Restaurant Schwan In der historischen Altstadt gelegen. Der Chef kocht selbst die bayerisch-schwäbischen Spezialitäten. Mit Hotelbetrieb.
Schlossanger Alp Geleitet von Barbara Schlachter-Ebert, der Spitzenköchin des Allgäus. Im acht Kilometer entfernten Pfronten-Obermeilingen gelegen.
Kulturell
Staatsgalerie Im Hohen Schloss, Kunst zur Zeitwende des 15. und 16. Jahrhunderts, kombiniert mit der städtischen Gemäldegalerie mit Werken des 19. Jahrhunderts.
Kloster St. MangBarocke Repräsentationsräume des ehemaligen Benediktinerklosters, angrenzend an das Füssener Rathaus. Venezianischer Stil des Baumeisters Johann Jakob Herkomer
Schloss Neuschwanstein Errichtet vom bayerischen „Märchenkönig“ Ludwig II. und nie vollendet. Weltbekannt und täglich von Massen besucht.
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: