Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Lust auf Land“ im Deutschen Architektenblatt 03.2025 erschienen.
In den letzten Jahrzehnten prägte vor allem die Stadt den architektonischen Diskurs. Mittlerweile erschweren teure Grundstücke, rechtliche Vorgaben und ein hoher Konkurrenzdruck bauliche Experimente, weshalb Architektinnen und Architekten mehr und mehr den ländlichen Raum für sich entdecken.
Sie nutzen ihn als eine Art Forschungslabor und erproben verschiedene Ansätze, die von klimagerechtem Bauen über das Arbeiten mit lokalen Ressourcen bis hin zur Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Identität eines Ortes reichen. Dabei wird auch die Rolle des Architekten neu interpretiert, um so das Potenzial des ländlichen Raums zu erkunden.
Atelier Fanelsa: Die Entdeckung des ländlichen Raums
Gerade für junge Architekten ist das reizvoll. Sie gehen dabei oft mit einem heute fast üblichen internationalen Hintergrund an die Aufgabe heran. Das muss kein Gegensatz sein: Tatsächlich zeigen sich im ländlichen Raum ähnliche Herausforderungen, wie der Werdegang des Berliner Architekten Niklas Fanelsa zeigt.
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In Gerswalde in der Uckermark schuf sich Niklas Fanelsa in einem ehemaligen einsturzgefährdeten Hühner- und Schweinestall ein Satellitenbüro.
Zara Pfeifer
Über Tokio nach Gerswalde
Ihn führte der Weg in die „Provinz“ über die Weltstadt Tokio. In seinen Auslandssemestern verbrachte Niklas Fanelsa nicht nur Zeit in der japanischen Hauptstadt, sondern vor allem in der ländlich geprägten Präfektur Niigata an der Westküste von Japan. Zusammen mit seinen Kommilitonen und Professor Yoshiharu Tsukamoto von Atelier Bow-Wow tauchten sie in die lokale Kultur ein, die stark von den Jahreszeiten geprägt ist.
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Zum Einsatz kamen umweltfreundliche Baumaterialien wie Hanffasern und recycelte Holzplatten für das Treppenmöbel.
Zara Pfeifer
Von japanischer Architektur lernen
Sie lebten mit den Einheimischen zusammen, besuchten Dorffeste, studierten die regionale Architektur und bauten Design-Build-Projekte wie einen mobilen Pavillon aus dem wiederverwendeten Holz ehemaliger Bauernhäuser. „Für meine japanischen Kommilitonen aus Tokio war das Thema erst mal genauso fremd wie für mich. Der ländliche Raum war für sie ein ganz neuer Ort. Die gemeinsame Erfahrung fand ich sehr wertvoll und inspirierend“, erzählt Niklas Fanelsa.
Die kleinteilige Dorfstruktur interpretiert er seitdem als „Versuchsfeld für die Anwendung von gemeinschaftlichen Aktivitäten“, wie er in seinem Essay „Nicht nur Reisende“ erläutert. Darin schreibt er weiter: „In einer solchen persönlichen Umgebung sind die direkten Auswirkungen auf das tägliche Leben der gesamten Gemeinschaft spürbar und fördern unmittelbar die ortsbezogene Entwicklung.“
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Eine neue Stahlstruktur steift den baufälligen Hühnerstall mit dem Satellitenbüro von Atelier Fanelsa aus.
Atelier Fanelsa
Architektonisches Versuchslabor im Hühnerstall
In Deutschland fand er ein solches Versuchslabor in Gerswalde, einem Dorf in der Uckermark, etwa eine Autostunde von Berlin entfernt. Der Ort ist mittlerweile so etwas wie ein ländliches Refugium für experimentierfreudige Berlinerinnen und Berliner. Dort baute sich der junge Architekt zwischen 2019 und 2023 ein Satellitenbüro aus einem ehemaligen einsturzgefährdeten Hühner- und Schweinestall. Wie in Japan arbeitete er eng mit den örtlichen Handwerkern zusammen und legte selbst Hand an.
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Sein Satellitenbüro realisierte Niklas Fanelsa zusammen mit örtlichen Handwerkern.
Zara Pfeifer
Ökologische und recycelte Baumaterialien
Zum Einsatz kamen ökologische Baumaterialien, zum Beispiel regionale Hanffasern und Hanfkalkplatten für die Dämmung oder recycelte Holzplatten für das Treppenmöbel, das die Büroräume im Erdgeschoss mit den Wohnräumen im Obergeschoss verbindet. Eine sichtbare innere Stahlstruktur aus wiederverwendeten Materialien steift den Bau nun aus, wodurch die Holzkonstruktion und Fachwerkfassaden erhalten blieben.
Workshops zu Bioregionalität
Mittlerweile arbeitet Niklas Fanelsa auch an anderen Projekten in Gerswalde und der Uckermark, wie etwa einem Bürgerhaus oder einer Feuerwache. Seine Projekte versteht er nicht nur als bloße Erfüllung einer Bauaufgabe, sondern als Forschungsobjekte, die der Wissensvermehrung und -vermittlung dienen sollen. Dazu organisiert er mit lokalen Expertinnen und Experten interdisziplinäre Workshops und Konferenzen zu Themen wie Bioregionalität, nachhaltigem Bauen und Baukultur, die sich an Bauherrinnen, Studierende und Handwerker richten.
Susanne Brorson: Landschaft als Ressource
Teil dieses Netzwerks ist die Architektin Susanne Brorson, die ihr Büro 2021 auf Rügen gründete. Dort erforscht sie nicht nur die regionalen Gegebenheiten der Ostseeinsel, sondern auch die lokale Baukultur des Ostseeraums.
Dissertation zu traditioneller Architektur im Ostseeraum
Wie Niklas Fanelsa reiste Susanne Brorson zuerst durch die Welt. Sie arbeitete als Architektin in London, Amsterdam, Oslo und Berlin, bevor sie zurück in ihre Heimat zog. „Ich bin viel herumgekommen und wenn man in verschiedenen Kontexten arbeitet, wird einem noch mal klarer, was Kontext eigentlich bedeutet“, sagt sie über ihre Lehr- und Wanderjahre.
In ihrer Dissertation über klima- und ressourcengerechte Architektur untersucht sie nun unter anderem, wie traditionelle Wohngebäude im Ostseeraum auf das lokale Klima reagieren und welche Materialien zum Einsatz kommen.
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Auf Rügen baute Susanne Brorson einen standardisierten Eigenheimtyp aus den 1950er-Jahren um.
Maja Wirkus
Wohnhaus und Arbeitsplatz als Forschungsobjekt
Doch ihre Forschung bleibt nicht im Theoretischen. „Als ich im Sommer auf Rügen zu Besuch war, habe ich ein altes Haus gefunden, bei dem mir die Idee kam, dass ich die Erkenntnisse aus meiner Dissertation hier konkret anwenden könnte“, erzählt sie. Im kleinen Ort Streu baute sie ein EW-58-Haus aus den 1950er-Jahren, ein standardisierter Eigenheimtyp aus der DDR, zum eigenen Wohnhaus mit Büro um und nutzt es nun gleichzeitig als Forschungsobjekt.
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Vorne das Wohnhaus mit der „Seasonal Wall Dressing“ (s.u.), in der Mitte der ehemalige Stall und oben das „Schwarz-Weiß-Haus“.
Studio Susanne Brorson
Prinzip des saisonalen Wohnens
Die Transformation des Hauses bezeichnet sie als eine Rekontextualisierung, die den klimatischen Strategien der traditionellen Architektur Rügens folgt. So sind diese Gebäude immer um Höfe gruppiert, wobei Windstärke und Windrichtung vorgeben, wie geschlossen die Höfe sind und wo sie sich öffnen. Hinzu kommt das Prinzip des saisonalen Wohnens, das spezifische Räume für die Winter- und Sommernutzung vorsieht.
Entsprechend verband die Architektin das eigene Wohnhaus mit dem angrenzenden Stall durch eine ausgerichtete Mauer im Norden. So entsteht ein Hof nach dem Vorbild der Rügener Dreiseithöfe mit einem Mikroklima, das Schutz vor Wind und Wetter bietet.
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Die weiße Hälfte ist ungedämmt, in der schwarzen Hälfte befindet sich eine Sauna.
Maja Wirkus
Schwarz-Weiß-Haus nur zur Hälfte gedämmt
Nach ein paar Jahren kam das sogenannte Schwarz-Weiß-Haus dazu. Dessen gedämmter Teil beherbergt eine Sauna mit Gästezimmer, während die ungedämmte Hälfte als Sommerwohnzimmer genutzt wird. Es öffnet sich auf einer Seite komplett nach draußen, bietet aufgrund der umschließenden Hülle aber immer noch Schutz vor dem Wind.
Ensemble aus neun Wohnhäusern in Holzrahmenbauweise
Ganz in der Nähe ihres Wohnhauses wendete Susanne Brorson diese Prinzipien in einem größeren Maßstab an. Auf dem Gelände einer ehemaligen DDR-Agrargenossenschaft gruppierte sie neun Wohngebäude in vorgefertigter Holzrahmenbauweise als Gesamtensemble in Form von drei Dreiseithöfen. Die Häuser der kleinen Siedlung sind mit einer geflammten oder vorgegrauten Holzfassade umhüllt und formen so ein homogenes Ganzes. Gleichzeitig knüpfen sie mit ihrer kleinteiligen Struktur und ihren Satteldächern an das nahe gelegene Dorf Streu an.
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Ebenfalls auf Rügen übertrug Susanne Brorson ihr klimatisches Prinzip auf neun Wohngebäude in vorgefertigter Holzrahmenbauweise.
Maja Wirkus
Die genaue Anordnung wurde mithilfe von Windsimulationen festgelegt, orientiert sich aber auch an traditionellen Bauten. Dadurch liegen einige Häuser im Windschatten ihrer Nachbarn. Zudem entstehen geschützte Gemeinschaftshöfe, die Durchblicke in das angrenzende Naturschutzgebiet Kleiner Jasmunder Bodden ermöglichen. Das Thema des saisonalen Wohnens findet sich in einer zentralen Gemeinschaftsküche, die sich komplett nach außen öffnen lässt.
Fassade aus natürlichen Materialien
Parallel dazu begann Brorson, am Westgiebel ihres eigenen Wohnhauses mit verschiedenen Fassadenverkleidungen aus nachwachsenden Rohstoffen wie Reet, Seegras, Seggengräsern, Wacholder, Farn und Heidekraut zu experimentieren. Sie sollen als zusätzliche Dämmschicht dienen und gegen Schlagregen und Wind schützen. Den Anstoß gab ein Hausforscher, der entsprechende Wandverkleidungen auf alten Fotografien traditioneller Häuser gefunden hatte und die Architektin kontaktierte.
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Am Westgiebel ihres Wohnhauses testet Brorson verschiedene natürliche Materialien auf ihre Eigenschaften als Dämmung und Wetterschutz.
Studio Susanne Brorson
Langzeitbeobachtung als Design-Build-Projekt
Aus dem Experiment ist mittlerweile ein fortlaufendes Design-Build-Projekt geworden, das Susanne Brorson als „Seasonal Wall Dressing“ bezeichnet – eine saisonale Fassadenverkleidung, die immer wieder ausgetauscht wird. Hier erprobt die Architektin zusammen mit Studierenden unterschiedliche Materialien und testet verschiedene Unterkonstruktionen. Nach jeder Saison schaut sie, was funktioniert hat und was nicht.
Anschließend überarbeitet sie die zugrunde liegenden Prinzipien, wie sie erklärt: „Allein durch das Studium historischer Fotografien erschließen sich die traditionellen Lösungen oftmals nicht. Aber im konkreten Machen wird es einem dann plötzlich klar.“
Max Otto Zitzelsberger: Das Land als Erzählung
Während Susanne Brorson so auf ihre Art „back to the roots“ unterwegs ist, setzt sich der Münchner Architekt Max Otto Zitzelsberger auf andere Art mit der Tradition auseinander. Er beschäftigt sich vor allem mit der architektonischen Identität des ländlichen Raums der Oberpfalz. Zu seinen ersten Projekten zählt die Reparatur eines über 100 Jahre alten Heustadls in Kneiting für die Schwiegereltern. Dort wurde die Wetterseite neu unterfangen und die über ein Jahrhundert alte Bretterfassade mit zimmermannsmäßigen Verbindungen partiell ertüchtigt.
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Eines der ersten Projekte von Max Otto Zitzelsberger war die Reparatur eines über 100 Jahre alten Heustadls in Kneiting.
Sebastian Schels
Heustadl mit Sehnsucht nach Landromantik
Der notwendigen Sanierung schrieb der Architekt eine neue Ornamentik aus wellenförmig zugesägten Brettern als Teil der Wetterschale ein. Sie macht aus dem Nutzbau eine subtile Schmuckschatulle, die an die Pracht historischer Scheunen erinnern soll.
Mittlerweile sieht Max Otto Zitzelsberger solche Rückgriffe kritisch, wie er sagt: „Das sind oft Sehnsuchtsbilder nach einer scheinbar intakten Vergangenheit, die ich anfangs sehr ernst genommen habe. Mir ist aber nach und nach klar geworden, dass solche Erzählungen reine Konstruktionen sind. Außerdem spiegeln sie überhaupt nicht wider, was ländliche Architektur heutzutage eigentlich ist: eine Collage, die sich unter anderem aus Fertighallen, Tankstellen oder Bau- und Gewerbehöfen zusammensetzt.“
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Als zeitgenössischer Teil der ertüchtigten Wetterschale verleihen wellenförmig zugesägte Bretter dem Heustadl eine ornamentale Ästhetik.
Sebastian Schels
Kläranlage wird zur Erkläranlage
Seitdem arbeitet sich der Architekt an der baulichen Realität des ländlichen Raums ab. Heraus kommt dabei so etwas wie die in Fachkreisen viel beachtete „Erkläranlage“ in Berngau: eine ehemalige Kläranlage, die Zitzelsberger in Zusammenarbeit mit dem Soziologen Klaus Zeitler in ein grünes Klassenzimmer für die inklusive Schule des Ortes verwandelte. Als neue Elemente fügte er eine offene Halle mit Satteldach, einen Zaun zur Bundesstraße und eine Brücke über den am Grundstück verlaufenden Bach ein.
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Die „Erkläranlage“ in Berngau ist eine ehemalige Kläranlage, die heute als grünes Klassenzimmer für die inklusive Schule des Ortes dient.
Sebastian Schels
Fertigteile aus dem Baumarkt statt Handwerkskunst
Die Architektur spielt mit unterschiedlichen Referenzen, wie etwa die Halle, die in ihrem Erscheinungsbild zwischen Aldi-Filiale und verspieltem Tempel changiert. Auf dem ehemaligen Tropfkörper der Kläranlage, der nun für Ausstellungen genutzt wird, thront eine Holzkrone mit dem Wort „Erkläranlage“, was ihn zur weit sichtbaren Landmarke macht. Auch konstruktiv hat das Projekt nur noch wenig mit dem Heustadl in Kneiting gemein: Statt Handwerkskunst kamen hier Fertigteile aus dem Baumarkt zum Einsatz, beispielsweise Nagelbinder für das Hallendach.
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Statt historisierender Handwerkskunst kamen in der Erkläranlage Fertigteile aus dem Baumarkt zum Einsatz, beispielsweise Nagelbinder für das Hallendach.
Sebastian Schels
Lernhaus für Freilandmuseum Oberpfalz
Vergangenheit und Gegenwart hingegen verknüpft Max Otto Zitzelsberger aktuell mit seinem neuesten Projekt, dem Lernhaus in Neusath-Perschen. Der Holzbau, der gerade im Entstehen ist, dient zukünftig als Seminargebäude für das Freilandmuseum Oberpfalz.
Er ersetzt das abgebrannte Hauptgebäude. Dazu schließt der Bau den historischen Vierseithof und greift vordergründig die Form des alten Bauernhauses auf. Allerdings ist er im Unterschied zum Vorgänger aufgeständert. Die für landwirtschaftliche Gebäude typischen Erweiterungsbauten stülpen sich nun als skurril-skulpturale Raumtaschen nach draußen.
Das Lernhaus in Neusath-Perschen ersetzt das abgebrannte Hauptgebäude des Freilandmuseums Oberpfalz.
Sebastian Schels
Schulkinder und Museumsbesucher bauen mit
Entwickelt wurde das Projekt im Rahmen einer Forschungsarbeit am Fachgebiet Tektonik im Holzbau der RPTU Kaiserslautern, wo Max Otto Zitzelsberger eine Junior-Professur innehat. Entsprechend pädagogisch ist schon der Entstehungsprozess des Gebäudes, das ähnlich wie bei Niklas Fanelsa und Susanne Brorson als Forschungsobjekt angelegt ist: So können hier Schulkinder, Studierende und Museumsgäste beim Bau mit Hand anlegen.
Holz aus dem eigenen Wald
Das verwendete Holz stammt aus dem Wald des Museums. Es wurde im Winter geschlagen, ein Jahr lang getrocknet und von den dort angestellten Handwerkern mit zimmermannsmäßigen Verbindungen verbaut. Stadl und Fertighalle kommen hier auf gewisse Weise zusammen. Sie fügen dem ländlichen Raum eine neue Erzählung hinzu, die zwischen Tradition und Moderne vermittelt.
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