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Zurück Abriss und Neuanfang

Kaputt – neu

Abrisse sind nicht nur das Ende einer Baugeschichte, sondern auch ein neuer Anfang. Die Zerstörung kann und sollte eine baukulturelle Leistung sein.

01.04.20086 Min. Kommentar schreiben
Werden und Vergehen: immerwährendes Thema der Baugeschichte

Frank Hovenbitzer

Über Jahrtausende hinweg haben Baumeister zumindest in dem Glauben gehandelt, Werke für die Ewigkeit erstellen zu können. Heute müssen Architekten die Entsorgung ihrer Arbeit bereits bei der Errichtung mitplanen. Wo Bauten im Bewusstsein einer angenommenen Lebensdauer von nur noch 50 Jahren konzipiert werden, sind umweltgerechte Werkstoffauswahl, leichte Rückbaubarkeit sowie konstruktive Details gefragt, die zur problemlosen Materialtrennung beitragen.

Abbruch und Rückbau sind aber nicht nur Ende, sondern auch Anfang: Bedingung für neu zu Schaffendes. Jegliches Bauen stellt im Grundsatz selbst zunächst eine Zerstörungsform dar, da in Form von Grund und Boden ein Stück Natur zerstört und in ein Stück Kultur umgewandelt wird. Gegenüber dem einfachen Abbruch von Häusern, Verkehrs- oder Industrieanlagen mit der Abrissbirne oder ähnlich brachialem Gerät erfolgt der sogenannte Rückbau von Gebäuden planmäßig mit Trennung der Baustoffe und ihrer Rezyklierung. In der Regel werden Werke zurückgebaut, wenn sie ihre Funktion verloren haben.

Hierbei werden oftmals aus den Baustoffen des Vorgängerbaus neue Bauwerke erstellt. Pyramiden oder Tempel der Antike, Burgen oder Stadtmauern des Mittelalters wurden so als Baustofflager von nachfolgenden Generationen benutzt, wenn sie funktionslos geworden waren. Konnten die Materialien abgerissener Bauten oder Verkehrsbauwerke nicht sinnvoll wieder eingesetzt beziehungsweise rezykliert werden, so hat man direkt auf den Trümmern des Abbruchs neue Dinge errichtet. Beispielsweise wurden viele romanische Kirchen teilrückgebaut, um auf den Fundamenten oder Grundmauern gotische Gotteshäuser zu errichten. Die Baugeschichte einer Stadt lässt sich bei Grabungen der Archäologen nicht selten als Ablagerung oder Schichtung von Abbruchmaterial lesen. Die alten Bauten waren nicht nur materiell, sondern zugleich auch ideell die Fundamente der neuen.

Die Geschichte des Abbruchs lässt sich wie die Geschichte des Kriegs als Technikgeschichte interpretieren. War die Errichtung von Bauten und ihr Abbruch vor der industriellen Revolution nur sehr langsam und beschwerlich zu erledigen, so hat bis heute die Entwicklung von motorkraftbetriebenen Geräten sowie die Weiterentwicklung und zivile Nutzung des Sprengstoffs zu wesentlichen Veränderungen beim Errichten und Zerstören geführt. So wie es einfacher wurde, große Bauten schnell zu erstellen, ist es heute ebenso einfach, sie schnell wieder zu zerstören.

Zerstört wird dabei allerdings die Kontinuität der Architektur. In rasendem Tempo haben sich in der Neuzeit Baustile abgelöst, bis diese im 20. Jahrhundert endgültig den Moden gewichen sind. Abbruch und Sprengung werden zum Ende der Neuzeit zur eigenständigen Handlungsgattung. Sie sind Synonym für den Wandel, die ständige Neuerfindung, für Zukunft schlechthin, da sie mit der Vergangenheit symbolträchtig Schluss machen. Beispielsweise wurde die Sprengung der Siedlung Pruitt-Igoe in St. Louis am 15. Juli 1972 als Todestag der Moderne beziehungsweise als die Geburtsstunde der Postmoderne gefeiert. Überdies werden Abbruch und Sprengung zu einem spektakulären Ereignis mit Unterhaltungs- und Erkenntniswert; Sprengungen großer Bauten werden zu Events, bei denen sich Tausende Zuschauer versammeln.

Ästhetik der Zerstörung

Abriss und insbesondere Sprengungen haben eine eigene ästhetische Qualität, die durch das Staunen darüber begleitet wird, dass der Prozess eines oft jahrelangen Entwicklungs- und Entstehungsvorgangs in Sekunden rückgängig gemacht wird. Man kann visuell verfolgen, wie das Ergebnis maximaler struktureller und stofflicher Ordnung, das Bauten allgemein darstellen, sich in kürzester Zeit zu maximaler Unordnung verkehrt. Der eigentliche Erkenntniswert liegt darin, dass die anthropologische und individuelle Erfahrung der Vergänglichkeit bildhaft gemacht wird.

Architekten reagieren unterschiedlich auf die rasende Geschwindigkeit der Veränderung der Gesellschaft und der baulichen Umwelt. Die einen versuchen aus der Metaphorik und Ästhetik der Zerstörung traditioneller Formen ein neues Raumgefüge mit eigener architektonischer Qualität zu entwickeln (Dekonstruktivismus, Blob-, Shape-, Splitterarchitektur etc.). Architektur soll „heiß“ oder „sexy“ sein, sie kann „brennen“, „fliegen“ oder „fließen“. Andere wollen gerade in Anbetracht der aus den Fugen geratenen Welt mit Retrostyle, New Urbanism oder einer Ästhetik der Festigkeit einen Kontrapunkt setzen.

Die Kontinuität der Architektur ist unbestreitbar brüchig geworden. Historische Bauten, sofern sie noch existent sind, werden vielerorts unter Denkmalschutz gestellt und im Sinn einer Disneyfizierung in Vermarktungsstrategien um Kaufkraft innerhalb der Städtekonkurrenz persifliert. Auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur bilden Museen mehr oder weniger würdevoll eine Art Sondermülldeponie für in die Jahre gekommene Kunstwerke. Architektur hingegen bewegt sich zwischen Freilichtmuseum und Abriss. Bauten, die nicht mehr museal nutzbar sind, werden durch Abbruch, Rückbau oder oftmals auch durch Umbau zerstört. Ihre Bedeutung als Träger kollektiven Bewusstseins, die durch die Einheit von Form und Funktion begründet war, ist verloren gegangen.

Am Ende der Geschichte, der großen Erzählungen, zu Beginn eines kontextlosen Zeitalters der Offenheit, Schnelligkeit und Globalisierung sind die Formen der Zerstörung Bedingungen des Handelns geworden. Ein konsequenter Abbruch oder gar eine symbolträchtige Sprengung ist dabei dem schlechten Umbau vorzuziehen, wenn ein Gebäude funktional nicht weiterverwendet werden kann. Mehr als durch den Verlust eines Werks leidet Baukunst am Verlust der zugrunde ­liegenden Ideen.

Im Sinn der Kulturgeschichte kann Zerstörung immer auch als Beginn neuer Entwicklungen, als Voraussetzung, Bedingung und Möglichkeit menschlicher Existenz verstanden werden. Eine Gesellschaft, die ihre bauliche Umwelt verfallen lässt, geht unter. Eine Gesellschaft, die ihre bauliche Umwelt konserviert, erstarrt. Eine Gesellschaft, die ihre bauliche Umwelt gezielt und bewusst zerstört, erfindet sich gleichzeitig neu. Jenseits des unbedachten, maßlosen oder unreflektierten Abrisses wäre eine Kultur der künstlichen und künstlerischen Zerstörung zu entwickeln. Eine so verstandene gezielte und reflektierte Abrisstätigkeit ist als Teil des kreativen Prozesses der Kulturgeschichte zu etablieren.

Die künstliche Zerstörung durch Abbruch, Rückbau oder Sprengung wird dann zur Kulturleistung, wenn sie sinnvoll die weitere Entwicklung der Kultur begründet.

Abriss als Kulturleistung

Die künstliche Zerstörung durch Abbruch, Rückbau und Sprengung wird dann zur Kulturleistung beziehungsweise zur künstlerischen Zerstörung, wenn sie nicht sinnlos die natürliche Zerstörung beschleunigt, sondern sinnvoll die weitere Entwicklung der Kultur begründet. Dies gilt ganz selbstverständlich dann, wenn die abzureißenden Bauten nicht als öffentliche Kunstwerke im kollektiven Gedächtnis verankert sind, sondern als Sünden der Bauindustrie oder als individuelle Fehlleistungen enttarnt werden können. Leider wird es nicht zu vermeiden sein, dass auch manches Meisterwerk der Architektur zerstört wird, insbesondere wenn es seine Funktion, den Sinn und Zweck seiner Erstellung, verloren hat. Die Zeugnisse qualitätvoller Architektur aber, die Orte und Räume schaffen, sind als Ideen in den Köpfen verankert und haben über den Tag der Zerstörung hinaus Bestand.

Grundsätzlich lässt sich Kultur als eine Haltung definieren, die dem Prozess des natürlichen und stetigen Übergangs zu Unordnung und Deformation trotzt und ihr Ordnungs­systeme gegenüberstellt. Entsprechend gilt auch für das Bauen, das selbst zugleich Errichtung und Zerstörung ist, im doppelten Sinne der Aphorismus von Luigi Snozzi: „Jeder Eingriff bedeutet Zerstörung. Also zerstöre
mit Verstand.“

Dipl.-Ing. Frank Hovenbitzer ist freier Architekt im Büro Wilhelm und Hovenbitzer und Partner, Lörrach.

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