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Zurück Was Kinder in Krippen brauchen

„Kleine Forscher“

Immer mehr Säuglinge und Kleinkinder werden in Tageseinrichtungen betreut. Die Pädagogin Kornelia Schneider ist Expertin für Raumwahrnehmung und Raumbedürfnisse der Jüngsten

31.12.20119 Min. Kommentar schreiben
Kornelia Schneider, Pädagogin und Expertin für die Bedürfnisse von Kleinstkindern

Interview: Roland Stimpel

Wann beginnt bei kleinen Kindern die Raumwahrnehmung?

Sie beginnt schon im Mutterleib. Bei der Geburt haben Babys bereits grundlegende Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Sie sind mit allen Sinnen darauf eingestellt, zu verstehen: Was passiert um mich herum? Wo bin ich? Was kann ich hier machen? In der Pädagogik hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass man Kinder vom ersten Lebenstag an als kleine Forscher betrachten muss, die mit ihren Mitteln versuchen, die Welt zu erkunden. Dabei ist natürlich die Raumwahrnehmung ein entscheidender Faktor.

Wie unterstützt man den Forscherdrang?

Indem man Bewegungsräume bietet, in denen es etwas zu entdecken gibt. Das fängt bei den ganz Kleinen mit dem Krabbeln an. Schon Säuglinge wollen und sollen alle Raumdimensionen erfahren, auch die Höhe. Dafür braucht man sanfte Schrägen und kleine Podeste.

Es gibt die Auffassung: Lieber Raum und Reize begrenzen, als Kleinkinder zu überfordern.

Sie meinen die sogenannten Laufställe? Da wurden früher die Kinder aus Sicherheitsgründen hineingesetzt; das war mehr ein Wegsperren. Irgendwann kam dann die Parole auf: Befreit die Kinder! Es wurden Stäbe entfernt. So wurde aus der Begrenzung eine Öffnung zum Hinaus- und Hereinkommen – die Eröffnung eines neuen Forschungsraums.

Und draußen sind die ganz Kleinen nicht überfordert?

Dagegen sind bei ihnen Schutzmechanismen eingebaut. Überreizt sind sie, wenn sie nicht steuern können, wohin sie ihre Aufmerksamkeit wenden, wenn sie ständig berieselt oder bespielt werden und nichts selbst entscheiden können.

Tun offene, fließende Räume kleinen Kindern gut?

Grenze und Offenheit sind gleichermaßen wichtig. Architekten und Erzieherinnen müssen zusammenarbeiten, um ein Gleichgewicht zu finden.

Freude für die Sinne: Die Kinderkrippe in München-Trudering von hirner und riehl architekten pflegt Offenheit im Inneren und nach außen. Sie ermuntert Kinder zum Erforschen der Welt.

Wie sollte das Stück Welt aussehen, das sie erforschen?

Es sollte immer ein Stück größer sein als das, was sie schon kennen und beherrschen. Der jeweils nächste Entwicklungsschritt muss räumlich möglich sein. Und es sollte so gestaltet sein, dass die Kinder neue Erfahrungen machen und etwas verändern können. Unterschiedliche Material-Erfahrung mit allen Sinnen ist das A und O – vor allem im ersten Lebensjahr, aber auch noch im zweiten und dritten. Es muss dafür immer sowohl feste Elemente als auch Komponenten geben, die beweglich, formbar und gestaltbar sind. Schon Säuglinge können die Erfahrung machen, dass sie sich ihre eigenen Räume herstellen können, wenn sie gestaltend Einfluss nehmen. Es muss aber auch immer etwas geben, was dafür den Rahmen festlegt, was immer gleich bleibt.

Brauchen sie Orientierungshilfen?

Leitsysteme wie für Erwachsene kann man auch für Kinder entwerfen, zum Beispiel Linien oder Fußstapfen am Boden – jedenfalls Markierungen, die dem Kind sagen helfen: Das ist mein Raum, da gehöre ich hin. Oder: Wenn ich dieser Linie folge, gelange ich dorthin. Kinder sollen wissen: Wenn ich in diesen Raum komme, kann ich dies oder das machen. Allerdings ist noch wenig erforscht, worauf ganz kleine Kinder mit ihrer Raumwahrnehmung reagieren, was sie vom Raum verstehen und was sie bei der Aneignung von Räumen leitet.

Braucht es die berühmten Symbole, für den einen Platz den Marienkäfer, für den nächsten den Hund?

Das ist eine Erwachsenen-Idee. Wenn ein bestimmter Platz für ein bestimmtes Kind sein soll, dann nimmt man zur Markierung heute eher ein Foto. Es ist für kleine Kinder nicht nachvollziehbar, dass der mit dem Hund markierte Platz einem anderen Kind gehört, das gar nichts mit einem Hund zu tun hat.

Wie sollten Räume für kleine Kinder ausgestattet sein?

Da ist der Boden ganz wichtig. Wo Säuglinge krabbeln, darf er nicht schwingen – das würde sie irritieren. Wenn Kinder lernen, sich aufzurichten und zu laufen, brauchen sie einen festen Untergrund. Es darf nicht alles kuschelig und weich sein. Holzfußböden sind immer gut, weil sie relativ warm sind. Schließlich halten sich die Kinder dauernd am Boden auf. Fußbodenheizungen sind allerdings umstritten, weil sie teils nicht gut regulierbar sind. Wichtig ist aber auch, dass die Kinder unterschiedliche Bodenqualitäten erfahren können. Je mehr Vielfalt sie kennenlernen, desto effizienter bilden sich ihre Hirnstrukturen aus. Am besten sind unterschiedliche Bodenbeläge in einem Raum, auch weil sie diesen strukturieren.

Freundliche Farbigkeit: Auch Kinder wollen nicht von Farben angeschrien werden. Schön bunt darf es trotzdem sein. Die Betonung liegt aber auf „schön“.

Welche Farben tun gut – bunte oder ganz dezente?

Man denkt immer, Kinder wollen es knallig haben. Aber alles Knallige ist festgelegt und nur noch schwer zu verändern. Man lernt auch weniger Farbnuancen kennen. Wichtig sind Farben, mit denen die Kinder selbst tätig werden können.

Also eine abwechslungsreiche, aber nicht zu aufdringliche Farbigkeit?

Unbedingt. In der Nachkriegszeit war alles homogen. Bis in die 1970er-Jahre waren die Kitas für ganz junge Kinder alle weiß, glatt, hygienisch, farbfrei. Selbst das Personal trug weiße Kleidung. Da hat man nur an Keimfreiheit gedacht; die Kinder konnten keine Erfahrungen mit Farben und Helligkeitsstufen machen.

Und dann kam der Farbrausch?

Dann kamen Teppiche, Kuschelecken und Farben. Man weiß jedoch bis heute nicht genau, welche Farbe bei kleinen Kindern welche Wirkung erzielt. Sicher ist allerdings: Sie soll nicht dominant, aber auch nicht anonym sein.

Hart und weich: Sichtbeton für kleine Kinder? Auch das geht in München-Trudering. Pressspan und Naturholz sorgen für den wärmeren und weicheren Kontrast.

Braucht es vor allem weiche Materialien?

Das denken immer noch viele. Man braucht ja nur in diese Kataloge zur Kindergarten-Ausstattung zu schauen, dann springt einen das an. Aber es braucht sowohl Weiches als auch Widerstandsfähiges. In München gibt es eine Krippe, bei der man mit Absicht die rohen Betonwände stehengelassen hat, weil es darauf mehr Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Das ist jetzt eine sprechende Wand. (Siehe Bilder)

Und kein Kind rennt sich am Beton blutig?

Scharfe Kanten gibt es natürlich nicht, und auf die Fläche hat man zum Teil Pressspanplatten montiert. Kinder fahren gern mal mit dem Dreirad gegen die Wand, aber sie rennen nicht dagegen, um zu probieren, ob das dem Kopf wehtut.

Gibt es Vorschriften und Normen, die das Leben in der Kita schwerer machen?

Ein großes Problem ist der Brandschutz. Räume wurden und werden ja oft mit Tüchern gestaltet und unterteilt, weil man damit zum Beispiel Decken abhängen und Ecken einrichten kann. Brennbare Stoffe sind aber verboten, feuerfeste wiederum teuer und oft nur in knalligen Farben zu bekommen. Und im Flur darf kein Stück Papier an der Wand hängen, kein einziges Kinderbild. Man kann doch nicht alles in Glaskästen tun. Das nächste Problem sind Brandschutztüren im Gebäude. Sie sind so schwer, dass Kinder sie nicht öffnen können. Dann sind sie wieder eingesperrt.

Es gibt Kindereinrichtungen mit festen Gruppen-räumen und mit Funktionsräumen, zwischen denen die Kinder wandern. Was bevorzugen Sie?

Das ist ein großes Thema in der Fachdiskussion. Es gibt immer noch die Leitvorstellung der Gruppenpädagogik. Das ist aber eigentlich kein pädagogisches, sondern ein organisatorisches Modell: Jedes Kind gehört in eine Gruppe, jede Gruppe gehört in einen Raum, der für eine bestimmte Zahl von Kindern ausgelegt ist, und für jede Gruppe gibt es zwei zuständige Personen. Dabei ist nicht bedacht, wie sich bei Kleinkindern Gruppen bilden; es ist nicht bedacht, dass das den Raum der Kinder begrenzt. Man sollte aber in Betracht ziehen, dass manche Kinder bis zu zehn Stunden in der Kita sind. Da kann man ihnen doch nicht den ganzen Tag „die gleichen vier Wände“ zumuten.

Andererseits klingt „Funktionsraum“ sehr nüchtern für die Kleinkind-Betreuung.

Ja, für die Jüngsten ist neu zu überlegen, welche Funktionen Räume für sie erfüllen sollten. Die Bewegung, von der Gruppenpädagogik zur offenen Arbeit mit Aktions- oder Funktionsräumen zu kommen, ging vom Kindergarten aus. Es war unbefriedigend, wie Standard-Gruppenräume eingerichtet waren und zum Teil heute noch sind. Da gibt es eine winzige Ecke für den Bauteppich, eine fürs Puppen- und Rollenspiel, einen Tisch zum Malen. Es braucht aber Räume, wo man richtig gut bauen, malen und nicht zuletzt toben kann, wo sich aus dem Bauen heraus auch ein raumgreifendes Rollenspiel entwickeln kann, ohne von Platzmangel oder Regelungen der begrenzten Nutzung eingeschränkt zu werden. Für die ganz Kleinen gilt: Was sie wollen und probieren, müssen sie da tun können, wo sie gerade sind. Sie brauchen nicht irgendwo weiter entfernt einen Bewegungsraum oder eine Bewegungsbaustelle, sondern müssen dort, wo sie sind, Freiraum haben.

Welche Bedeutung haben Sanitärräume und überhaupt die Sauberkeit und Hygiene?

Die wird leider oft wieder zu wichtig genommen. In den 1970ern hatte man sich mehr Freiheit erkämpft, nachdem vorher alles steril sein sollte und alles genormt war, bis zum Mindestabstand zwischen den Handtuchhaltern. Jetzt geht es wieder in diese Richtung, weil man an vielen Stellen keine Erfahrung mit dem Aufwachsen von Kindern bis zu drei Jahren in Kindertageseinrichtungen hat und deshalb auf althergebrachte, sicherheitsorientierte Richtlinien zurückgreift. Abgesehen davon gibt es fachliche Auseinandersetzungen um den Wickelbereich. Aus hygienischen Gründen und wegen des Geruchs soll er möglichst abgelegen sein. Aber dann ist immer eine Erzieherin weit weg von den anderen Kindern, was man sich bei wenig Personal nicht leisten kann. Im Übrigen sollten auch Sanitärräume nicht zu steril sein. Sie sind nicht nur für Pflege und Hygiene da, sondern müssen auch Spielmöglichkeiten bieten – gerade das Spielen mit Wasser ist von großem Reiz für die Kinder. Wenn sie Wasser fließen sehen, wollen sie es auch erkunden. Es sollte allerdings auch anderswo Orte geben, wo man gut mit Wasser, Sand, Matsch und Farbe umgehen kann.

Macht man das nicht besser draußen?

Es sollte auch drinnen möglich sein. Aber natürlich sollte man möglichst viel draußen machen, wann immer es geht. Zu jeder Einrichtung für jüngere Kinder gehört ein Freigelände; das ist ein Erfahrungsraum für Weite, Offenheit, wechselnde Bedingungen, für Naturelemente und Naturgesetze. Oft gibt es aber draußen viel zu wenig Platz. Und oft sind ausgerechnet die Räume für die Kleinsten nicht zu ebener Erde. Sie sind dann davon abhängig, dass Erwachsene mit ihnen nach draußen gehen. Also bleiben sie drin, wenn die Erwachsenen nicht dazu kommen oder nicht bereit dazu sind. Wer aber Kinder faktisch in geschlossene Räume einsperrt, verweigert ihnen elementare Erfahrungen.


Zur Checkliste Raumqualität von Kornelia Schneider.

Zur Literaturliste von Kornelia Schneider.

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