Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Stilfragen“ im Deutschen Architektenblatt 03.2025 erschienen.
Wenn Architektinnen und Architekten im ländlichen Raum neu bauen oder Umbauten in Angriff nehmen, müssen sie eine Gratwanderung meistern: Einerseits gilt es, die regionale Architektur aufzugreifen. Andererseits kann es nicht darum gehen, Nachbauten zu schaffen. Weiterentwickeln und Modernisieren heißt stattdessen die Devise.
Freilichtmuseum Molfsee von ppp Architekten & Stadtplaner
Von besonderer Bedeutung ist das an Orten, wo ohnehin das Augenmerk auf Regionalität gelenkt ist, wie etwa im „Freilichtmuseum Molfsee“, dem „Landesmuseum für Volkskunde“ südlich von Kiel. Auf dem rund 40 Hektar großen Gelände ist in mehr als 60 Bauernhäusern und Katen, Scheunen und Werkstätten des dörflichen Handwerks die Alltags- und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins vom 16. bis ins 20. Jahrhundert erlebbar.
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Das Museum für Volkskunde in Molfsee hat ein neues Eingangsgebäude, das sich in der Kubatur von zwei langen Scheunen präsentiert, die mit Corten-Stahl verkleidet isnd.
Stephan Baumann, Karlsruhe / www.bild-raum.com
Das neue Jahr100Haus in Molfsee
Am südlichen Ende des trapezförmigen Areals reiht sich seit 2021 als jüngstes Mitglied der Gebäude-Familie ein neues Eingangs- und Ausstellungsgebäude ein: das von ppp architekten + stadtplaner aus Lübeck entwickelte sogenannte Jahr100Haus. „Uns war es sehr wichtig, das sehr große Raumprogramm in die Maßstäblichkeit des Umfelds zu integrieren“, beschreibt Architekt Klaus-H. Petersen die zentrale Idee. „Bevor es überhaupt an die Ausformulierung der Architektur ging, war es eine städtebauliche Arbeit, nämlich die Gliederung des Bauvolumens.“
Eigene Baukörper für öffentliche und nicht öffentliche Bereiche
Bereits der Entwurf, den das Büro in einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb vorlegte, sah vor, den gesamten Ausstellungsbereich unter der Erde anzuordnen – auch wenn dies der Auslobungsforderung nach einer direkten Blickbeziehung ins Freilichtmuseum widersprach. Rückblickend bezeichnet Klaus-H. Petersen diese Entscheidung als „den ersten Befreiungsschlag“.
Der zweite war die Verteilung von öffentlichen Bereichen wie dem Besucherempfang und nicht öffentlichen Bereichen wie Werkstätten auf zwei durch den unterirdischen Ausstellungsbereich miteinander verbundene Baukörper.
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Erdgeschoss des Jahr100Hauses: Rechts der öffentliche Baukörper mit dem Besuchereingang, links das Gebäude mit den Werkstätten.
ppp architekten + stadtplaner gmbh
Holztragwerk von Scheunen inspiriert
Die beiden Neubauten spiegeln mit ihren extrem hohen Dächern und den sehr niedrigen Traufen die typische, im Freilichtmuseum präsentierte regionale Architektur auf zeitgenössische Weise. Das gigantische hölzerne Tragwerk der Neubaudächer ist von den traditionellen Zimmermann-Konstruktionen der Scheunen auf dem Gelände inspiriert, kommt jedoch ohne Ständer und Querbalken aus.
Mit wenig Material ist so ein riesiges Raumvolumen entstanden. „Der größte Reiz bei diesem Projekt war es, auszuloten, wie man in Reflexion der historischen Baukultur eine zeitgenössische Architektur entwickelt, ohne anbiedernd oder vordergründig spektakulär zu werden“, meint Klaus-H. Petersen.
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Dachform und Holzkonstruktion sind von traditionellen Scheunen der Region inspiriert.
Stephan Baumann, Karlsruhe / www.bild-raum.com
Fassade und Dach aus Corten-Stahl
Dieses Konzept setzte er nicht nur in der Formensprache, sondern auch in der Materialität um. So entschied er sich für eine Dacheindeckung aus Corten-Stahl – wegen seiner Ähnlichkeit mit dem regionaltypischen Reet. „Die Art und Weise, wie er patiniert und dadurch mit der Zeit schöner wird, ist ähnlich. Die senkrechten Linien der Reetbündel finden sich in den Fugen und den Wasserspuren auf dem Corten-Stahl wieder. Und beide Materialien verändern ihre Wirkung je nach Wetter und Lichtverhältnissen“, erläutert der Architekt.
Im Innern der Gebäude finden sich weitere Beispiele für diese Herangehensweise: Der geglättete Sichtestrich mit einer leichten Wolkenoptik erinnert an den verdichteten Stampflehmboden in einer historischen Scheune. Die Möbel bestehen aus sehr dunkler Eiche und rufen das Eichenholz in Ställen ins Gedächtnis, das durch Ammoniakbegasung geräuchert wird und nachdunkelt.
Mit kleinem Budget umgesetzt
Eine erhebliche Herausforderung des gesamten Vorhabens war das geringe Budget. „Letztlich dauerte es nach dem Wettbewerb fast zwei Jahre, bis die Finanzierung stand. Den dann vorgegebenen Kostenrahmen konnten wir einhalten, indem wir die Planungen an allen Stellen etwas eingedampft haben – die Ausstellungsräume wurden etwas niedriger, die Gebäude etwas kürzer“, erklärt Klaus-H. Petersen. Letztlich beliefen sich die Bruttobaukosten auf 2.215 Euro pro Quadratmeter (KG 300 + 400).
Therapiezentrum Osterhof von Thomas Kröger Architekten
Ortswechsel in den Schwarzwald – in das von kleinteiligen Siedlungsstrukturen und allein liegenden Höfen geprägte Murgtal. Auf einem ehemaligen Mühlengelände in Baiersbronn ließ Thomas Kröger vom gleichnamigen Berliner Architekturbüro den Neubau der Heimschule des Therapiezentrums Osterhof errichten. Sein Konzept aus zwei zweigeschossigen Neubauten in Holzskelettbauweise mit Holzbetonverbunddecken überzeugte in einem geladenen Wettbewerb.
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Die neuen Schulräume des Therapiezentrums Osterhof verteilen sich auf zwei Häuser, die zusammen mit dem Bestand einen Hof bilden.
Thomas Heimann
Nutzungen auf mehrere Baukörper verteilt
„Für die Anordnung der Gebäude haben wir uns vorgestellt, wie sich die Kinder von der geschützten Hanglage des Osterhofes dem Murgtal und dem Bauplatz am Feldrand nähern. So ist der Gedanke entstanden, die Schulräume auf zwei Neubauten zu verteilen, die zusammen mit dem sanierten kleinen Bestandsgebäude einen schützenden Hof bilden“, beschreibt Thomas Kröger. Zugleich konnte durch die Verteilung der Funktionen auf die Baukörper – genau wie beim Museum in Molfsee – die Maßstäblichkeit des Altbaus erhalten bleiben.
Der Innenhof wird nicht nur für Pausen und Sport genutzt (Landschaftsplanung: Kukuk Freiflug, Stuttgart). Hier kann auch Unterricht im Freien stattfinden und damit dem Bewegungsdrang der rund 35 Kinder begegnet werden, die vorübergehend im Osterhof wohnen und dort heilpädagogische und psychotherapeutische Hilfe erfahren.
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Grundriss Obergeschoss: Im Haupthaus befinden sich Fach- und Werkräume, im Nebengebäude ein Heulager unter dem Dach.
Thomas Kröger Architekten
Prägnante Dächer mit regionalem Motiv
Nicht nur in der Gliederung des Bauvolumens, auch in der architektonischen Herangehensweise gibt es Parallelen zwischen dem Museum und der Schule. Im Schwarzwald sind es ebenfalls die Dächer, die die sichtbarste Brücke zur Architektur der Umgebung schlagen.
Die beiden Kopfenden des Hauptgebäudes übernehmen die Typologie der Nebengebäude von Schwarzwaldhöfen: Über einem Fußwalm öffnet sich sowohl zur Murg als auch zum Innenhof je eine senkrechte Giebelfront. Sie ist mit einer Holzleisten-Konstruktion ausgeführt, in die kreisrunde Öffnungen eingeschnitten sind. So sind insgesamt vier lichtdurchflutete Loggien entstanden. Zwischen den Kopfenden spannt sich das lang gezogene Hauptdach.
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Die monochrome grünliche Einfärbung der konstruktiven Holzelemente außen und innen soll an das zarte Grün von Flechten auf Baumstämmen erinnern.
Thomas Heimann
Gestalterische und praktische Gründe für die außergewöhnliche Form
Der rechtwinklig zum Haupthaus platzierte kleinere Neubau entspricht in seinen Abmessungen und in der Giebelgestaltung den Kopfenden des Haupthauses. „Die regionaltypische Bauweise haben wir an diversen Stellen durch atypische Elemente fortgeschrieben“, erläutert Thomas Kröger.
Ein Beispiel sind die um beide Gebäude umlaufenden Stege unter den weit heruntergezogenen Dachtraufen. „Sie haben einerseits praktische Gründe, weil wir im Schwemmgebiet der Murg sind. Andererseits dienen sie als Schutzzone und Bank“, so Thomas Kröger.
Symmetrischer Grundriss für bessere Orientierung
Von der introvertierten, funktionsbestimmten Aufteilung eines klassischen Schwarzwaldhofs hat sich der Architekt bei dem Projekt, dessen Bruttobaukosten sich auf 2.467 Euro pro Quadratmeter (KG 300 + 400) beliefen, gelöst. Die Räume sind auf einer Bruttogrundfläche von insgesamt gut 1.600 Quadratmetern vielmehr struktureller organisiert: Eine streng symmetrische Gliederung des Hauptgebäudes erleichtert den Kindern die Orientierung.
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Die Klassensäle liegen zu ebener Erde.
Thomas Heimann
Heulager unterm Dach
Im hofseitigen Zentrum des Hauses erstreckt sich eine Aula über beide Geschosse. An den Gebäudeenden und zur Murg hin sind alle sechs Klassenräume ebenerdig angeordnet, „damit die Kinder im übertragenen Sinn den Boden nicht unter den Füßen verlieren“, so der Architekt. Darüber befinden sich Fach- und Werkräume, im kleineren Gebäude Nebenräume, ein nutzungsoffener Saal und ein Heulager.
Mit einem Holzanteil in der Konstruktion, den Giebeln und den Innenoberflächen greifen die Neubauten das dominierende Material der Region auf. Zugleich betonen die Blecheindeckung der Dächer und die konsequente monochrome grünliche Einfärbung der Holzoberflächen die Eigenständigkeit des Baukörpers.
Bauernhaus mit Mehrzwecksaal in Rödelmaier von André Rieß
Bei solchen Neubauten wie der Heimschule oder dem Museum können Architekten recht frei entscheiden, wie die umgebende Architektur in die Gestaltung eines Gebäudes Eingang findet und wo Abgrenzungen vorgenommen werden.
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Ein Abriss mitten im Ortskern war für die Familie keine Option. Über dem freigelegten Sandsteinsockel interpretiert nun eine gestaffelte Holzlattenverkleidung die lokale fränkische Bauweise neu.
André Rieß
Bei einem Umbau sind ihre Möglichkeiten deutlich eingeschränkter. Hier nimmt die Auseinandersetzung mit dem Bestand großen Raum ein, so die Erfahrung von Architekt André Rieß. Er hat im fränkischen Rödelmaier ein um 1900 entstandenes ehemaliges Bauernhaus im Familienbesitz in eine Mehrzweckhalle etwa für größere Feiern mit angrenzendem Wohntrakt (BGF insgesamt 90 Quadratmeter) umgewandelt.
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Weil die Bauherrenfamilie nur ein weiteres Schlafzimmer mit Bad benötigte, dient der große Raum zur Straße (oben) jetzt als Mehrzwecksaal für die Dorfgemeinschaft.
André Rieß
Schlechter Zustand nach zehn Jahren Leerstand
„Nach rund zehn Jahren Leerstand war das Gebäude in einem Zustand, wo wir entscheiden mussten: Reißen wir es ab oder machen wir etwas daraus?“, erzählt André Rieß. „Ein Abriss hätte in eine Gasse mit typischen fränkischen giebelständigen Gebäuden mit Steinsockeln, darüber teils Fachwerk, eine große Lücke gerissen und damit den Dorfkern beschädigt. Für mich war das keine Lösung, gerade weil ich Architekt bin.“
Die Familie hatte jedoch weder die Mittel noch den Flächenbedarf zur kompletten Wiederherstellung. Daher entschied sie sich für eine Zwischenlösung – und setzte diese mit einem hohen Anteil Eigenleistung zu Bruttobaukosten von 55.000 Euro (KG 300 + 400) um. Dabei wurden alle Fluchten der Außenwände und die Form des Satteldaches erhalten, die Gebäudehöhe jedoch reduziert.
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Auf dem vom Putz befreiten Sandsteinsockel mussten ein neuer Giebel und ein neuer Dachstuhl gebaut werden.
André Rieß
Neuer Dachstuhl mit alten Balken
Wie bei den beiden Neubauten in Molfsee und Baiersbronn stiftet auch hier das Dach Identität. Der Dachstuhl wurde zunächst mit dem Kran entnommen und sämtliche Eichenbalken wurden zwecks Wiederverwendung gesäubert. Allerdings mussten die morschen Köpfe entfernt werden. „Wir mussten abwägen – die typische Neigung von 45 Grad mit neuen Balken herstellen oder die geringere Neigung mit den ursprünglichen Balken aufzimmern“, erläutert André Rieß.
Das Ergebnis: „Mit den gekürzten Balken hat das Dach nur noch eine Neigung von 30 Grad.“ Auch bei der Eindeckung galt es, Kompromisse zu finden. Die typischen fränkischen Rinnenziegel waren nicht erhältlich. Die Baufamilie wählte eine ihnen ähnliche rote Hohlpfanne.
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Die Eichenbalken des alten Dachstuhls wurden um die morschen Balkenköpfe gekürzt, gereinigt und wiederverwendet.
André Rieß
Sandsteinmauerwerk jetzt ohne Putz
Die Wände aus Fachwerk hat André Rieß mit seiner Familie abgetragen, den Putz vom Erdgeschoss-Sockel klopften sie ab und legten den ursprünglichen Naturstein frei. Die neue Giebelfront darüber besteht aus zweischaligem Mauerwerk. Das ist straßenseitig mit einer bei landwirtschaftlichen Gebäuden weit verbreiteten vorgesetzten Lärchenholzlattung verkleidet, im Gebäudeinnern glatt weiß verputzt.
Hier, in der Mehrzweckhalle, dokumentieren die sichtbaren alten Dachbalken mit Holzverbindungen und die Bruchsteinmauer traditionelle Bauweisen, die Struktur und die Geschichte des Hauses.
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Im nur noch wenig traditionell wirkenden Ortsbild von Rödelmaier sticht das umgebaute Bauernhaus heraus.
André Rieß
Wohnhaus etwas vergrößert
Eine einläufige Treppe ermöglicht den Zugang zum neu entstandenen Schlafzimmer und Bad, die das dahinter liegende Bestandswohngebäude erweitern. Hier ist die Historie weniger augenfällig: Die Wände und Decken sind mit Naturkalk verputzt, die Böden in Anlehnung an den Bestand mit Eichendielen und Terrazzofliesen belegt. Wichtig war der Baufamilie dabei Barrierefreiheit – denn für sie ging es nicht nur um den Erhalt des geschichtsträchtigen Gebäudes, sondern auch um die Gestaltung ihres alltäglichen Lebens auf dem Land.
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