Das Landratsamt Esslingen liegt direkt am Neckar (Klicken für mehr Bilder) © Feess
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Von Leonhard Fromm
Es war eine jahrelange Gratwanderung, zu eruieren, ob ein Abriss samt Neubau auch unter CO2-Aspekten auf 50 Jahre gesehen günstiger ist als eine Sanierung samt Erweiterung. Objekt der Bewertung war das 1976 bezogene Esslinger Landratsamt, das zu klein geworden war. Aber auch energetisch und funktional war das achtgeschossige Gebäude am Neckarufer nicht mehr zeitgemäß.
Abwägung: Abriss und Neubau vs. Sanierung und Erweiterung
Knapp fiel das Ergebnis zugunsten eines Neubaus aus, was durchaus auf Gegenwind in der Architekturszene aber auch in der Bevölkerung führte. Doch die Stuttgarter Projektsteuerer von Drees & Sommer hatten zunächst gerechnet und gewichtet, um schließlich an die Ausschreibung des Neubaus für gedeckelte 130 Millionen Euro höchste Maßstäbe anzulegen: vom sortenreinen Rückbau mit bis zu 90 Prozent Wiederverwertungsquote bis zum möglichst kreislauffähigen Neubau im Cradle-to-Cradle-Standard.
Nach den Berechnungen spart die Variante Abriss und Neubau in einem Betrachtungszeitrum von 50 Jahren jährlich gut ein Prozent CO2 ein gegenüber einer Sanierung und Erweiterung. Dafür war sicher hilfreich, dass die Baufirma Ed. Züblin aus Stuttgart, die die Ausschreibung gewonnen hatte, den Bauschuttrecycler Feess aus dem nahen Kirchheim im Team hatte. Es fallen also nur kurze Transportwege an, die beim Thema Bauschuttrecycling wegen der bislang wenigen Spezialfirmen noch ein großes Problem darstellen.
Studie zu Baumaterialien und Schadstoffen
Durch die sortenreine Demontage, werden 35.000 Tonnen Material in Fraktionen wie Beton (31.500 t), Ziegel (455 t), Aluminium, Kupfer, Holz oder Kunststoff separiert und fast ausschließlich im Umkreis von 15 Kilometern einer Wiederverwertung zugeführt. Erfahrene Projektingenieure, die an der Hochschule Biberach ein Aufbaustudium absolvieren, haben diese Zahlen (unabhängig von den Kalkulationen bei Drees & Sommer) für eine Studie erhoben und auf 130 Seiten dokumentiert. Basierend auf zur Verfügung gestellten 2D-Plänen und alten Unterlagen, Begehungen vor Ort sowie Bausubstanzgutachten des Bestandsgebäudes erstellten die Ingenieure zunächst ein BIM-Datenmodell. Aus diesem Bauteilkatalog, wurden produktbezogene Informationen etwa über Kalksandstein-Wände oder Stahlbetondecken, oder zu möglichen Schadstoffen und zu deren Wiederverwertbarkeit ersichtlich.
Auf dieser Basis war es den Studierenden möglich, etwa Asbesthaltigkeit oder Recyclingfähigkeit einzelner Fraktionen zu erfassen und zu quantifizieren. Schließlich konnte auf dieser Grundlage ermittelt werden, welche Stoffströme in welchem Umfang beim Neubau wiederverwertet werden können und wie deren CO2-Bilanz ausfällt, führen Mirjam Liesch und Vivienne Gasper in ihrer Studie aus, die sie am Lehrstuhl von Prof. Dr. Florian Schäfer verfasst haben.
Energiekonzept mit Photovoltaik und Wasser-Wärmepumpe
Dass die Ed. Züblin GmbH im März 2021 den Zuschlag erhielt, liegt auch an Team-Partner Reiner Hahn, dessen Stuttgarter Büro BFK architekten den Neubau im Cradle-to-cradle-Standard entwarf. „In der Cradle-to-cradle-Tiefe wie wir es in Esslingen bis 2026 realisieren, hat noch keiner von uns gebaut,“ sagt Hahn. Dass der Neubau besser abschneidet als eine Sanierung liegt demnach vor allem am deutlich geringeren Energieverbrauch des Neubaus bedingt durch Dämmung und Bauweise, aber auch an der Haustechnik.
Dazu zählen drei Photovoltaik-Anlagen mit 450 kWp Leistung, davon eine mit 75 kWp in der künftigen Fassade, einem Speicher mit 60 kWp sowie eine Wasser-basierte Wärmepumpe mit 250 Kubikmetern Durchsatz des Flusswassers pro Stunde, die die saisonale Temperaturdifferenz nutzt.
Funktionaler und effizienter Grundriss
„Die sehr begrenzte und schlanke Grundstücksfläche war eine weitere Herausforderung für die Planung.“, berichtet Reiner Hahn Zusätzlich sprachen für den Neubau Effizienzeffekte, weil man das Gebäude auf die Erfordernisse einer modernen Verwaltung inklusive Publikumsverkehr, interne Laufwege und Vertraulichkeit optimal abstimmen kann.
Effizienzeffekte und Flächenzuschnitt führten bei den BFK-Planern im Rahmen des Entwurfsprozesses zu der Erkenntnis, dass man das künftige Landratsamt auf der Basis einer liegenden Acht errichten müsse. Hahn: „Die liegende Acht ermöglicht maximal kurze Wege mit einem zentralen Schnittpunkt und gleich vier Fluren auf allen Etagen, in die hinein Publikumsverkehr möglich ist, ohne dass Bürger in vertrauliche Bereiche vordringen.“
Ausgehend von dieser Grundidee ergab sich die Anordnung der einzelnen Ämter entsprechend ihrer erforderlichen Erreichbarkeit für Bürger (je näher oder entfernter vom Schnittpunkt; dem Platzbedarf des einzelnen Amtes und seinem Zusammenspiel mit anderen Ämtern innerhalb der Logik von Verwaltungsabläufen.
Kreislauffähige Bauweisen und Materialien
Der Stahlbeton-Neubau soll so weit wie möglich mit kreislauffähigen, also wiederverwertbaren (rezyklierbaren) Materialien gebaut werden. Als Anhaltspunkt dient die C2C-Zertifizierung von Bauprodukten, die viele Hersteller inzwischen anbieten. Soweit möglich sollen auch Materialien aus dem Abbruch des Bestandsgebäudes wiederverwendet werden. So wird beispielsweise nur R-Beton verbaut, der aus recyceltem Bauschutt als Zuschlagstoff statt Kies und Sand aus der Natur besteht.
Auch kommen nur Konstruktionen und Materialien zum Einsatz, die sortenrein demontierbar sind und die nicht durch Legierung, chemische Kleber oder Schaumstoffe verunreinigt sind. Entsprechend wird auch beispielsweise nicht geschweißt, sondern verschraubt.
Rathaus Korbach als Vorreiter
Wie es gehen könnte, hat bereits die Kreisstadt Korbach in Nordhessen an ihrem denkmalgeschützten Rathaus aus dem Mittelalter gezeigt. Beim Abriss des Anbaus aus dem Jahr 1970 wurden insgesamt 9848 Tonnen mineralisches Material zurückgewonnen und 61 Prozent davon direkt im Neubau (ARGE agn und heimspiel architekten) wieder eingesetzt, 1000 Tonnen davon hochwertig im Beton für Tragwerk und Fassade. Mit weiteren 5000 Tonnen, die nicht sortenrein genug trennbar waren, wurden die Baugrube verfüllt und die Umgebung begradigt. Mehr als 3800 Tonnen wurden darüber hinaus extern verwertet. Das zukunftsweisende kreislaufgerechte Bauen verursachte dort insgesamt 1,5 Prozent höhere Kosten als ein vergleichbarer Neubau in konventioneller Bauweise.
Korbach und Esslingen zeigen, dass nach langen Jahren eher theoretischer Überlegungen und kleiner Pilotprojekte das kreislauffähige Bauen endlich im großen Maßstab praktiziert werden kann. Und da Baustoffzulieferer Cradle-to-cradle-fähig werden müssen, um für solche Bauprojekte gelistet zu sein, steigt die Zahl der Anbieter und Alternativen aktuell mit hoher Geschwindigkeit.
Leonhard Fromm ist freier Journalist in Schorndorf, Baden-Württemberg
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Eine Bilanzierung und Dokumentation wäre hilfreich.
Dadurch werden die Maßnahmen transparenter.
Wie groß war der Rest, der nicht wiederverwendet werden konnte.
Der Weg der Wiederverwendung von Materialien ist grundsätzlich positiv.
Horst Hilke
Ich schließe mich dem „Vorredner“ ausdrücklich an. Ich habe eine solche Bilanzierung für dieses Objekt schon mal vor Augen gehabt, kann sie auf meinem Laptop aber nicht mehr finden. Da war auch die Rede von 1 % CO2-Einsparung bis 2050, was mir allerdings als Begründung für einen Neubau sehr dürftig erscheint.