Von Stefan Kreitewolf
Mobil sein, das heißt, ungebunden zu sein. Nomaden machen uns das seit Jahrtausenden mit ihren Jurten und Zelten vor. Die zeitgenössische Übersetzung der Tradition trägt den Namen „mobile Architektur“. Und sie liegt im Trend – meist als Projektionsfläche und nicht als Lebensentwurf. Als Fluchtpunkt der Sesshaften haftet den modernen Jurten etwas von Ferien und Freizeit an. Das trifft in besonderem Maße auch auf Kreuzfahrtschiffe zu. Sie sind der Inbegriff des modernen, massentauglichen Nomadentums. Die Urlaubsdampfer dienen als mobiles Feriendomizil, das Erholungsbedürftige ohne ihr Zutun an die schönsten Destinationen der Welt bringt.
Dafür ist ein ganz besonderes Interieur notwendig, weiß Innenarchitekt Ralf Claussen. Er leitet gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin die Geschicke des auf Kreuzfahrtschiffe und Hotellerie spezialisierten Büros cm-DESIGN und plant seit Jahren – als Teil eines internationalen Teams – das innere Erscheinungsbild der TUI-Mein-Schiff-Flotte. Sein neuestes Projekt, die „neue Mein Schiff 1“, ist sein ganzer Stolz. „Die neue Nummer eins ist 20 Meter länger und ein Deck höher als die vorherigen Neubauten und bietet 2.894 Gästen Platz“, berichtet Claussen. Er und sein Team haben Teile der Innenarchitektur des Schiffs geplant: „Bei diesem Schiff zeichneten wir verantwortlich für den Spa- und Fitnessbereich, diverse Bars und Restaurants“, sagt der Hamburger.
Mit seiner Crew aus zehn Innenarchitekten und Designern achtet Claussen penibel auf jedes Detail und musste sich für die Kreuzfahrtschiffe von allzu strengen Ansprüchen ans Material trennen. „Es ist zum Beispiel einfach nicht möglich, eine quadratmetergroße Bodenfliese in einem Schiff zu verbauen“, erläutert er. Sie würde durch die Torsion bei Wellengang brechen und Schaden verursachen. „Also muss es dann eher ein kleineres Format oder ein anderes Material sein“, sagt er und nennt ein weiteres Beispiel: „Ganz normale Einrichtungsgegenstände wie Pendelleuchten sind auf See einfach nicht praktikabel.“ Außerdem müssten Pflanzen und ein Großteil der Dekorationen fest fixiert werden, offene Regale müssten mit Sturm-Reling gesichert werden. „Die Verletzungsgefahr ist bei einer Geschwindigkeit von bis zu 21 Knoten und starkem Wellengang sonst einfach zu groß“, gibt Claussen zu bedenken.
Art déco auf dem Bodensee
Die Stuttgarter Innenarchitektin Claudia Allmendinger weiß, wovon Claussen spricht. Sie lebt und arbeitet zwar nicht an der Küste, Deutschlands größtes Binnengewässer, der Bodensee, liegt aber nicht weit entfernt. Auf dem See an der deutsch-schweizerischen Grenze schippert seit 2018 die MS Schwaben mit neuem Interieur. Allmendinger plante das revitalisierte Innenleben der „alten Dame“, wie sie das 81 Jahre alte Schiff liebevoll nennt. Gebaut im Zuge der „Kraft durch Freude“-Propaganda der Nazis, gilt die MS Schwaben als echter Klassiker des Art déco der 1930er-Jahre. Auf Allmendinger übt diese Stilepoche eine große Faszination aus. „Um den Stil der Zeit zu treffen, haben wir alte Bücher, Kunst und Fotografien untersucht“, sagt sie. Den Zustand vor der Revitalisierung nennt Allmendinger „marode“.
Ihr Ziel sei es gewesen, nicht die Art-déco-Zeit zu imitieren, sondern sie ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Deswegen habe sie auch ein modernes Beleuchtungskonzept implementiert, das den mondänen Charme des Schiffes ins rechte Licht rücke. „Das Farb- und Materialkonzept besteht aus einem Farbverlauf vom unteren Deck bis hinauf zum Sonnendeck“, erläutert Allmendinger und fügt hinzu: „Wir arbeiten uns vom Dunklen ins Helle.“ Typische Farbtöne wie Petrol, Ozeanblau und Senfgelb wurden in Einbauten, Bars und bei den Sitzmöbeln eingesetzt. „Zeitgemäße Requisiten wie Tischlämpchen und Wandleuchten nehmen wieder Bezug auf den Art-déco-Stil“, sagt die Inhaberin des Büros IDA. Passend dazu sind die Lichtschalter und Steckdosen aus Bakelit, die Stoffbezüge aus Samt und die Tapeten mit Art-déco-Mustern bedruckt. „Es soll echt aussehen“, erklärt Allmendinger – und das tut es.
Die MS Schwaben ist nicht ihr erstes Projekt in Sachen mobile Architektur. Für den Verein „Junior Slow“ hat sie das sogenannte „SlowMobil“ entworfen, eine fahrende Küche für acht Kinder in einem Kastenwagen. „Weil das Auge mitisst, sollte es außerhalb vom Tellerrand ebenfalls genussvoll zugehen“, sagt Allmendinger. Das war nicht ganz einfach. Sie berichtet: „Der winzige Raum – fünf Meter lang, zwei Meter breit und 2,1 Meter hoch – ist eine echte Herausforderung, erscheint nun aber aufgrund einer kreativen Wand- und Deckengestaltung größer, als er ist.“ Weite entsteht in dem Gefährt durch optische Täuschung mithilfe von Linien und Dreiecken. „Die Folien haben aber noch einen anderen Vorteil: Sie ermöglichen das Schreiben, Kleben und magnetische Anheften von Rezepten, Bildern und was Kindern sonst noch so einfällt“, sagt die Innenarchitektin. Küchenzeile und Abluft sind in die Wand- und Deckengestaltung integriert und „fast unsichtbar“, erläutert sie. Der Herd befindet sich im Zentrum des Raumes. Der große Tisch – ein übergroßes Schneidebrett – ist aus Holz. „Natürliches Material war mir sehr wichtig, da es von Kinderhänden ständig berührt wird“, sagt Allmendinger.
Wohlfühlen auf vier Rädern
Wenig Platz, vier Räder und praktische Einbauten: Das war auch das Anforderungsprofil für einen T4-Camper, den die Innenarchitektin Sabine Waschbüsch im Frühjahr 2018 plante. Ein Bekannter hatte einen Volkswagen T4 aus Bundeswehrbeständen erstanden. Das Allrad-Gefährt, Baujahr 1996, wurde komplett entkernt und technisch aufbereitet – „inklusive Hohlraumkonservierung, Wärmeisolierung, des Einbaus von Schiebefenstern und einer autarken Stromversorgung mit Solarpaneel auf dem Dach und zweiter Batterie“, erläutert Waschbüsch. Ihr sei besonders wichtig gewesen, dass sich der Besitzer auf vier Rädern wohlfühlen könne. „Deswegen haben wir alle Funktionen, die man für ein einfaches Leben braucht, platzsparend eingeplant – von der effizienten Miniküche bis zum wandelbaren Schlaf-Tisch-Modul“, sagt sie. Mit der Funktionalität des Designs habe sie auf kleinstem Raum Ordnung geschaffen. Der Innenausbau besteht gerade den Praxistest: Das Gefährt und sein Besitzer weilen aktuell auf Korsika.
Preisgekrönt wurde Waschbüsch für eine Idee zur Neuinterpretation eines mobilen Designklassikers: des Panton Chairs. „Einem Wettbewerb des Vitra Museums folgend, haben wir versucht, neue Wege zu gehen“, erklärt sie. Priorität hatte für sie, den Panton Chair zu belassen, wie er ist. „Ihn zu bemalen, zu bekleben oder zu beschneiden, hätte mir ein wenig wehgetan“, sagt die Saarländerin. Um die gewohnte Wahrnehmung zu brechen, habe sie das Designmöbelstück stattdessen im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf gestellt. „Allein dadurch wird der Panton Chair bereits zu einem völlig anderen und nicht minder schönen Objekt“, ist Waschbüsch überzeugt. Um den Kopfstand zu arretieren, verwendete die Innenarchitektin einen Sockelkubus aus Eichenholz als Kontrast zu dem durchgefärbten glatten Polypropylen des Stuhls. Mithilfe eines Medienwissenschaftlers erschuf sie den passenden Sound zur sogenannten „PAN TON Geräuschskulptur“: „Die Geräusche, die ein Panton Chair erzeugt, wenn er über den Boden gezogen wird, wurden zu einem Klangstück komponiert, um die akustischen Facetten des Stuhls zu zelebrieren“, sagt Waschbüsch.
„Akustik steht über allem“
Das Zusammenspiel aus Klang und Mobilität war auch für ein besonderes Projekt von Jutta Eckelt eminent wichtig. Die Innenarchitektin, die ebenfalls ausgebildete Architektin ist, plante ein mobiles Konzertzimmer für die Neubrandenburger Philharmonie. „Das Ziel war es, transportable und höhenverstellbare Wandelemente und Deckenplafonds zu entwickeln, die nach akustischer Planung und Einmessung den Aufbau des Konzertzimmers in fremden Räumlichkeiten gestatten“, erläutert sie. So ermögliche das mobile Konzertzimmer der Philharmonie eine gleichbleibende Klangqualität ohne intensive und langwierige Einspielzeiten. Die bis zu sieben Meter langen Elemente sind höhenverstellbar und mithilfe einer eigens entwickelten Kurbeltechnik ausfahrbar. Einen Fokus legte Eckelt darauf, die einzelnen Elemente in Material und Farbigkeit aufeinander abgestimmt zu gestalten. „Das heißt: Wir haben mit hellem Holz gearbeitet und warme Farben verwendet“, sagt sie. Mithilfe einer vertikalen und einer horizontalen Linie habe sie grafische Akzente gesetzt. „Aber die Akustik steht dabei natürlich über allem und alles folgt der Funktion“, erläutert sie.
Im Alltag beschäftigen sich Waschbüsch und Eckelt – im Gegensatz zu Claussen und Allmendinger – hauptsächlich mit der Planung der Innenräume von Wohnbauten, Arztpraxen und Schulen. Außergewöhnliche Projekte planen sie aber dennoch gern. „Exoten machen Spaß und sind eine willkommene Abwechslung im Alltag“, bekräftigt Waschbüsch. Gemessen am finanziellen Erlös, seien außergewöhnliche Projekte aber oft zeitintensiv und wenig lukrativ, erläutert die Innenarchitektin, fügt aber hinzu: „Das ist egal, der Spaßfaktor beflügelt und macht das wett.“ Das Interieur mobiler Architektur zu planen, ist auch für Waschbüsch noch immer außergewöhnlich. „Aber für das moderne Nomadentum schaffe ich gern etwas Neues.“
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