Text: Roland Stimpel
Unten das von der Straße zugängliche Gewerbe, darüber das vom städtischen Trubel etwas abgehobene Wohnen – das ist die klassische Form der Nutzungsmischung im urbanen Haus. Je nach Konjunktur und Bedarf kann das Gewerbe sich nach oben ausweiten, etwa in Form von Praxen, Kanzleien oder Architekturbüros. Oder es können freie Erdgeschosse zu Wohnraum werden. All das geht jedenfalls im anpassungsfähigen, mindestens hundertjährigen Altbau.
Aber kann man derart gemischte, flexible Häuser auch neu bauen – mit Räumen, die sparsam, kompakt und vielfältig nutzbar sind? Es ist möglich, wie das Berliner Büro BARarchitekten beweist. Es hat in der Oderberger Straße im Stadtteil Prenzlauer Berg ein Haus geschaffen, das auf engstem Raum ein so buntes Nutzungsspektrum bietet wie wohl kein anderer 875-Quadratmeter-Neubau im Land: einen Laden, ein Café und einen Miniatur-Ausstellungsraum, vier Splitlevel-Kuben, in denen man arbeiten, wohnen oder beides tun kann – und schließlich vier 120-Quadratmeter-Wohnungen, von denen sich problemlos jeweils ein Drittel abteilen lässt, als zweite Wohnung oder auch als Gewerbe-Einheit (Letzteres jedenfalls, solange es nicht das Wohnungsamt wegen Zweckentfremdung verbietet).
Am raffiniertesten sind die „Ateliers“ genannten Arbeits- und Wohnkuben im ersten Stock, der höher ist als zwei Sozialbau-Etagen. Die Ateliers haben 33 bis 45 Quadratmeter auf der Boden- und Galerie-Ebene. Sie vereinen zwei Widersprüche: Einerseits sind die Räume zentimeterfein ausgetüftelt und durch Zwischenebenen, Treppen und Stützen untergliedert. Viele flächenbedürftige Nutzungen scheiden daher aus. „Für Leute mit Sofalandschaften ist das hier nichts“, sagt die BAR-Mitinhaberin Antje Buchholz.
Andererseits erlauben diese Räume eine immense Vielfalt von Gebrauchsformen und deren Kombination – Büros oder Werkstätten, kleine Wohnungen oder die Verbindung von Arbeit und Wohnen. Und auch das noch mit Varianten: Oben auf die Galerie kann der Nutzer zum Beispiel sein Bürobett stellen. Oder er etabliert dort die Arbeitsecke, die von der übrigen Mini-Wohnung ein bisschen separiert ist. „Atelier“ hießen die Räume schon im Bauantrag. Das Amt ließ durchgehen, dass das in keine Nutzungs-Schablone passte.
Jürgen Patzak-Poor von BARarchitekten erklärt die Raum-Idee: „In einer Gegend wie dieser suchen jede Menge Selbstständige kleine und bezahlbare Arbeitsräume. Aber für sie gibt es kaum ein passendes Angebot.“ Im selbst gebauten Haus arbeiten auch BARarchitekten, zu dritt in der mit 45 Quadratmetern geräumigsten Arbeitsbox. An ihrem Haus haben sie sieben Jahre lang gepuzzelt. Die Architekten waren Bauherren und sind nun gemeinsam als Gesellschaft bürgerlichen Rechts Vermieter der Ateliers unten – und dort auch Mieter bei sich selbst.
Sie suchen das Gegenteil vom klassischen Immobilien-Entwickler. Die sind stolz auf erzielte Höchstmieten; dagegen freut sich Antje Buchholz über Konditionen, die nur in Kleinräumen möglich sind. „Unsere Studios gibt es für 450 Euro im Monat. Wir wollten minimale Flächen zum minimalen Preis schaffen, die sich alle Leute leisten können.“ Leute, die sonst übergroße Büros nehmen oder daheim in der Wohnung arbeiten müssten.
Ein ähnliches Grundprinzip wie in den Ateliers unten herrscht in den Wohnungen darüber: viel Offenheit, bis zu vier Ebenen und Räume mit Deckenhöhen bis zu 4,50 Meter. Galerien, Treppen und schräg ansteigende Brücken-Rampen zwischen den Levels prägen die Wohnungen. Jede hat zwei Eingänge und hängt an zwei Rohrsträngen. Von „Haupt- und Beiboot“ spricht Patzak-Poor. „Wenn mir ein Unglück passiert, kann ich problemlos teilen und mich in die kleinere Wohnung zurückziehen.“
Für das Haus ging kurz nach der Fertigstellung 2010 der „KfW-Award“ an Buchholz, Patzak-Poor, Michael Matuschka und ihren damaligen Mitstreiter Jack Burnett-Stuart. Der Bau stellt seinen Geist öffentlich aus. Im Erdgeschoss liegt direkt am Bürgersteig eine tagsüber offene Nische von 5,6 Quadratmetern – Berlins wohl kleinste Galerie. Hier huldigte vor Kurzem eine Ausstellung dem Idol von BARarchitekten: dem Baumeister-Unikum Ludwig Leo, Berlins 2012 gestorbenem Meister der extrem verdichteten, präzise strukturierten Räume. Seine Bauten sollten perfekte Maschinen für einen eng definierten Zweck sein. Um Verdichtung geht es auch der BAR-Nachmoderne. Aber statt Optimierung für einen einzigen Zweck bietet sie Fantasieraum für vielerlei Gebrauch.
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: