Rosa Grewe
Einst reichte beim Kauf einer Winterjacke die Bezeichnung „gefüttert“. Heute muss sie wasserabweisend und atmungsaktiv, waschmaschinenfest und strapazierbar, anschmiegsam und daunenleicht sowie ethisch und ökologisch unbedenklich sein. Aber natürlich darf sie nicht viel kosten. So sind Konsumentenansprüche gewachsen. Genauso wachsen auch die Ansprüche, die Innenarchitekten an Material und Oberflächen stellen. Drei Hauptaspekte sind derzeit besonders wichtig: Ökologie, Beanspruchbarkeit und Design. Bisher mussten auch Innenarchitekten zwischen den Eigenschaften abwägen, Prioritäten setzen und mit dem Baubudget abgleichen.
Doch die Grenzen zwischen den Eigenschaften verschwimmen mehr und mehr, und Materialien mutieren zu Alleskönnern, zum Supermaterial.Die Materialwelt ist mittlerweile derart vielfältig, dass eine neue Tätigkeit entstanden ist: „Materialberater“. Ausgeübt wird sie zum Beispiel von der Kölner Innenarchitektin Birgit Hansen. „Meist geht es um konkrete Probleme, technische Vorgaben, die mit der Ästhetik zusammengebracht werden müssen. Zum Beispiel beim Brandschutz, wenn Materialien nicht entflammbar sein und trotzdem die gewünschte optische Wirkung haben sollen.“ Hansen klärt Hersteller über die Trends und Wünsche von Gestaltern auf, berät aber vor allem Kollegen aus dem Hochbau – sie stellen zwei Drittel der Teilnehmer in ihren Seminaren. Und sie weiß: „Die großen Architekturbüros haben meist eigene Mitarbeiter im Haus, die sich nur um das Thema Materialien kümmern. Kleine Büros können das nicht leisten und greifen dann gerne auf externe Materialberatung zurück, besonders bei schwierigen Bauvorhaben wie Schulen und Kindergärten, wo die technischen Anforderungen an die Oberflächen groß sind und das Budget klein ist.“
Ökohightech und Romantik
Eine seit Langem gefragte Materialgruppe sind naturbelassene Materialien. Doch die Vorstellung von ökologischen Baustoffen und Ausstattungsmaterialien wandelt sich. Zunächst galten als natürliche Baustoffe diejenigen, die die Natur hergibt und die nur noch in Form gebracht werden müssen, wie Holz, Ziegel, Lehm. Doch jetzt bestimmen der Lebenszyklus eines Materials und die energetisch-klimatische Wirkung die Ökobilanz eines Stoffes, von CO2-Bilanzen und Footprints ist die Rede. Es wird Zeit, die Materialien auf der Ökoskala neu zu ordnen. Zum Beispiel erreichen Kunststoffe eine gute Ökobilanz, wenn ihre Herstellung CO2-arm ist und sie sich nach ihrem Einsatz gut wiederverwerten lassen.
Teil des Lebenszyklus ist das Recycling, einer der Ökotrends aus den späten Siebzigern, der jetzt edel, designorientiert und in verschiedenen Ausprägungen wiederauflebt. Designer nutzen die Materialien direkt weiter, wie beim Schreibtisch von Bauholz design. Oder sie nutzen das Material in der Weiterentwicklung, wie Textilien und Formmöbel aus geschredderten und thermisch verformten PET-Flaschen. Nicht wiederverwertbar, aber kompostierbar ist dagegen der Biokunststoff, ein Plastik aus natürlichen und abbaubaren Produktionsstoffen, etwa aus Mais. Man findet ihn bei verschiedenen Verpackungen, Textilien und als Einkaufstüte bei Aldi.
Ein anderer Ökotrend sind Materialien mit einem hohen klimatischen Nutzen: klimaregulierende Putze auf Basis von „Phase Change Materials“, tageslichtübermittelnde Glasfasern in massiven Materialien, transluzente Wärmedämmungen und elektronengesteuerte Sonnenschutzfolien. Sie drücken auch Hightech-architekturen die Marke Öko auf. Dabei geht es vor allem um die Energieeffizienz im Einsatz. Dagegen forschen Materialdesigner noch an kostengünstiger und ökologischer Herstellung und der Reduzierung der Schadstoffe in den Materialien. Ohne das Prädikat „ökologisch“ werden Firmen sie künftig nicht mehr auf den Markt bringen.
Weil Natur sich heute besonders im gehobenen Preissegment gut vermarkten lässt, entwickeln sich daraus auch aktuelle Designideen. Die Landschaft bildet für Innenarchitekturen immer häufiger das Thema, als assoziative oder plakative Bilder, als Fototapete, Naturornament und als natürlich anmutendes Material. Nun wird sie real und lebendig, mithilfe von wasserspeichernden Pflanzmatten aus Glasfasern. Auf der Salone del Mobile 2009 in Mailand waren moosige Bepflanzungen des japanischen Künstlers Makoto Azuma der Hingucker. Begrünte Wände, Miniaturwälder und Pflanzfliesen bilden die Alternative zum Ficus. Die flächigen Bepflanzungen wirken luftschadstoff- und klimaregulierend, daher setzen Innenarchitekten sie besonders in Arbeitsräumen und Konferenzbereichen ein.
Feuerfest und schallschluckend
Fortschritte in der Oberflächen- und Materialverarbeitung ermöglichen dem Designer, sich von den ursprünglichen Eigenschaften eines bestimmten Materials zu lösen und ihm andere Eigenschaften beizugeben. Es entstehen Verbundwerkstoffe mit multiplen Eigenschaften. „Der Trend geht zu multifunktionalen Materialien, die etwa Brandschutz, akustische Eigenschaften und Luftreinigung in einem Produkt vereinen“, sagt Birgit Hansen.
Sie gewährleisten den Brandschutz, Schallschutz, Abriebschutz oder die Sauberkeit und erscheinen dabei in beliebiger Materialoptik. Beispiele dafür sind nicht entflammbare Werkstoffplatten mit Holzfurnieren, transluzente, folienbeschichtete Kunststoffwände mit hoher Schalldämpfung und sehr harte Kunstharze als Oberflächenschutz für beliebige Materialien. Glasfiber und Polyesterharz verstärken dünne Holz- und Steinfurniere und gestalten sie biegsam wie Kunststoff. Neue Basaltwerkstoffe, Carbonfasermatten und Corianpaneele ermöglichen biegesteife und amorphe Konstruktionen. Eine thermische Vorbehandlung macht Edelstahl kratzfest und Vlies biegesteif. Material kann nun scheinbar alles, doch Birgit Hansen relativiert: „Bisher sind viele der multifunktionalen Materialien noch zu teuer für den Markt.“
Auf der Suche nach neuen Synergien kombinieren die Materialforscher diverse Stoffe und arbeiten sich dabei bis in die Nanotechnologie vor, die Erforschung kleinster Partikelchen. „Diese Wissenschaft ist schon längst mehr als eine Mode“, weiß Sylvia Leydecker, Inhaberin des Innenarchitekturbüros 100% interior in Köln und Autorin des Buches „nano – Materialien in Architektur, Innenarchitektur und Design“. Nanoteilchen werden in Materialoberflächen eingearbeitet, um diese schmutz- und keimresistent zu machen – der Lotuseffekt. Einige Partikel wirken fotokatalytisch, andere mechanisch, indem sie zum Beispiel raue Oberflächen glätten. So entstehen die verschiedenen Oberflächeneffekte, Easy-to-clean, Antifingerprint, Antikeim, Antibeschlag, Antireflexion und Antikratzer. Mit schmutzabweisenden Eigenschaften werden mittlerweile Farben, Lacke, Tapeten, Fliesen, Parkett und Laminate versehen.
Zwar veranlasste der Gebrauch von Nanoteilchen in Produkten wie Zahnpasta, Cremes und Socken das Umweltbundesamt, vor allzu großer Sorglosigkeit zu warnen. Doch das Amt hat keine Bedenken gegen industrielle Anwendungen, bei denen die Teilchen fest eingebunden sind und nicht in die Umwelt gelangen können. Und Sylvia Leydecker meint: „Architekturmaterialien verspeist man nicht und man zieht sie nicht an. Also hat man hier schon gar nichts zu befürchten.“ Ihre Kollegin Hansen räumt jedoch offene Fragen ein: „Es gibt noch keine Langzeitstudien über die Einflüsse der Nanopartikel auf Mensch und Umwelt.“ Die Kosten für Nanomaterialien sinken und liegen mittlerweile auf einem ähnlichen Niveau wie unbehandelte Materialien. Der Preis sei ohnehin relativ, meint Sylvia Leydecker: „Viele dieser Produkte sind schon jetzt so weit, dass sie sich über ihre Lebensdauer amortisieren können.“ Etwa durch reduzierte Betriebskosten, wenn beispielsweise eine Glasfassade dank ihrer Beschichtung seltener gereinigt werden muss.
Große Veränderungen in der Gestalt bringt auch die CNC-Fräse, die Verbundwerkstoffe präzise und kostengünstig in freie Formen schneidet. Individuelle Formen und ungewöhnliche Materialien werden zukünftig zum Standard, gerade bei Bauaufgaben mit wenig Budget und hohen Anforderungen an die Funktionalität in Büros und Praxen, Sozialeinrichtungen und Büros.
Relief erwünscht
Neue Technologien verändern auch das Erscheinungsbild von Materialien. Das nutzen viele Designer, um zu anderen Gestaltungen zu finden. Die Überlagerung von Materialien wird bei ihnen zum eigenen Gestaltungsthema. Sie kombinieren unterschiedliche Strukturen, Stoffe und Farben: Glas über farbigem Furnier, Filz mit Seide, Grau mit bunt. Das Material löst sich gestalterisch von seinem Ursprung und überrascht mit neuer Nutzung: Sitzkissen aus Beton, Polstermöbel in Keramikoptik, Kunststoffmöbel in Strickoptik und Schreibtische aus Papier. Was zunächst als werbewirksamer Gag von einigen Herstellern gedacht war, treibt neue Designs voran.
Gleichzeitig folgte den eher nüchtern, klar und gläsern ausgeprägten Architekturen der späten 1990er-Jahre eine neue Lust an Form und Material, die um das Jahr 2005 zu einem neobarocken Design führte. Jetzt gewinnt die Haptik des Materials an Bedeutung, rustikaler Filz ist gefragt, genauso wie die Vliestapete. Dabei überhöhen Designer diesen Trend und ergänzen zweidimensionale Stoffe mit dreidimensionalen Strukturen und Ornamenten. In Hochflorteppiche sind glatte Garnornamente eingelassen, Vliestapeten haben herausgearbeitete Motive. Reliefartige, gefaltete und gerüschte Stoffe überziehen Sitzmöbel. Dank neuer Gießverfahren mit computergenerierten Matrizen zieren dreidimensionale Ornamente und Motive auch die Oberflächen von Beton- und Formwerkstoffen.
Die Lust am Mischen ist ein Trend, allerdings nur einer von vielen, so prognostiziert es die Möbelmesse Köln für 2010. Und in der ferneren Zukunft? Birgit Hansens Vision sind „interaktive Oberflächen, die individuell auf den Nutzer reagieren, zum Beispiel durch Farbveränderungen, Lichtstimmungen und durch technische Aspekte“. Das schafft keine Winterjacke.
Rosa Grewe hat Architektur studiert und betreibt das Fachpressebüro quer-streifen in Darmstadt.