Von Christoph Gunßer
Manche Baugrube wird ganz von selbst zum See. Die „ausgekohlten“ Tagebaulöcher in der Lausitz und um Leipzig aber sind zusammen viermal so groß wie der Bodensee. Sollen diese Mondlandschaften beim Fluten nicht unkontrolliert absacken, ihre Böschungen und Aufschüttungen nicht ins Rutschen geraten, sind aufwendige Sicherungen und jahrzehntelanges Wassermanagement nötig
Europas größte Landschaftsbaustelle betritt vielerorts Neuland. In der gesamten Region, die Teile Brandenburgs, Sachsens und Sachsen-Anhalts umfasst (Übersichtskarte siehe Seite 18/19), läuft eine Operation am offenen Herzen, deren Ausgang noch keineswegs klar ist. Die staatliche Bergbaufolgeverwaltung LMBV hat zwar schon über zehn Milliarden Euro in Sicherung und Verwertung der Flächen investiert (siehe Zahlen in eckigen Klammern), wälzt aber Restrisiken mittels Bergschadenverzichtserklärung oft auf die Investoren ab, weshalb Baugrund und Projekte nur schwer zu beleihen sind.
Gleichwohl verwandelt sich die Landschaft vielerorts rasant. Vor allem im Südraum Leipzig und im Revier um Senftenberg, wo die Tagebaupumpen zuerst abgestellt wurden, laufen etliche Bauprojekte. Eindeutiger Schwerpunkt: Tourismus.
Neue Marinas und Hafenviertel haufenweise
Der 681 Hektar große Hainer See, aus dem Witznitzer Tagebau hervorgegangen und nach einem der sechs hier abgebaggerten Dörfer benannt, erreichte 2010 den Zielpegel. An seinen Ufern entstehen nach und nach eine Ferienhaussiedlung, ein Campingplatz und die „Lagune Kahnsdorf“: Untypisch für Tagebaue, steht dort an einem Uferstreifen gewachsener Grund an, und so konnten Häuser in einer Art linearem Dorf auf Pfählen direkt am Ufer gebaut werden. Geregelt durch eine Gestaltungssatzung, mischen sich hier Boots- und kleine Wohnhäuser zu einem bunten Ensemble fast wie in einer skandinavischen Schärenlandschaft. Andere Teile des Sees hat sich die Natur rasch zurückerobert, während kaum drei Kilometer entfernt noch ein Tagebau fortbesteht – samt Kraftwerk, das 60 Prozent der Leipziger Haushalte mit Fernwärme versorgt.
Eigentümer dieses und sechs weiterer neu entstandener Seen ist übrigens der schwäbische Pharma-Unternehmer Merckle. Weiter nördlich, in der sogenannten Goitzsche (sprich: Gottsche), hat der Milliardär 2013 für fast läppische 2,9 Millionen Euro die bankrotte kommunale Tourismusgesellschaft übernommen und entwickelt den Stadthafen Bitterfeld mit angrenzenden Ländereien weiter. Es ist indes längst nicht mehr die einzige derartige Marina in der Gegend. Zahlungskräftige Skipper, die auch Handel und Gastronomie beflügeln, fanden sich bislang nicht überall ein. Auch neue Hotels und Ferienanlagen machen sich Berichten zufolge bereits gegenseitig Konkurrenz.
Größe allein ist kein Argument
In der abgelegeneren Lausitz läuft die Vermarktung der neuen Freizeit-Liegenschaften zäher als in der Boomregion um Leipzig und Halle. Doch Senftenbergs Stadthafen, am bereits 1972 entstandenen See unlängst neu gebaut, kann sich architektonisch sehen lassen (Planung nach Wettbewerbsgewinn 2008 durch bgmr Landschaftsarchitekten mit Astoc Architekten).
Cottbus plant derweil bald zwei Jahrzehnte seinen „Ostsee“ im riesigen Tagebau Cottbus-Nord. Erst kürzlich wurde der Wettbewerb für das neue „Hafenquartier“ entschieden (Gewinner: fehlig moshfeghi architekten mit Gartenlabor Bruns). In einem verwahrlosten Niemandsland, dem einstigen Hinterhof der Stadt, soll eine noble Adresse entstehen.
Eine neue Potenzialanalyse für den See, die die Stadt bei einem Strategieberatungsunternehmen beauftragt hat, gibt sich indes vorsichtig: Allein die Tatsache, dass hier mit 1.900 Hektar der „größte See Brandenburgs“ entsteht, sei noch kein Alleinstellungsmerkmal und keine Garantie für eine nachhaltige Entwicklung. In Konkurrenz zu den Mecklenburger Seen oder gar zur „echten“ Ostsee bleibe dem neuen Gebiet wohl eher die Funktion der Naherholung. Marinas will man deshalb klein halten: Nachfrage bestehe wohl mehr für den Badebetrieb, heißt es.
Den beginnenden Wildwuchs privater Developer sieht das Gutachten skeptisch – entstanden ist bereits ein Freizeitpark und ein „Götterhain“. Empfohlen wird hingegen eine „produktive“ Nutzung des Sees, etwa zur Energiegewinnung. Bislang ist aber noch nicht einmal geklärt, wer Eigentümer der neuen Wasserfläche sein wird. Ab sofort füllt erst einmal Spreewasser zehn Jahre lang die ausgekohlte Wüstenlandschaft. Zwei Aussichtstürme – der eine im Ortsteil Merzdorf und der andere, architektonisch reizvoller, in Teichland – bieten Ausblick über die Ausmaße der Bergbaubrache.
Wildnis und Visionen
Wo die wirtschaftliche Verwertung auf sich warten lässt, kommt im Zweifelsfall die Natur zum Zuge – die Wildnis, nicht der schnurgerade Bergbaufolgeforst. Ökologen sehen darin ein großes Potenzial. So erwarb die Heinz Sielmann Stiftung seit dem Jahr 2000 in der Niederlausitz 3.300 Hektar, um sie für den Naturschutz zu sichern. In den sandigen Dünen, die der Tagebau zurückgelassen hat, siedeln sich seltene Pflanzen und Tiere an. Das letzte Haus des Dorfes Wanninchen, das die Bagger stehen ließen, ist heute ein Naturerlebniszentrum. Es erinnert auch an die 136 „verschwundenen Orte“, die allein in Ostdeutschland der Braunkohle weichen mussten, von Naturräumen, Wäldern, Flüssen und Teichen ganz zu schweigen. Letztere entstehen nun neu und oftmals ungestört, wenn Areale als einsturzgefährdet gelten und auf unabsehbare Zeit gesperrt bleiben. Seit 2009 bei einem Erdrutsch an einem neuen Tagebausee in Sachsen-Anhalt drei Menschen verschüttet wurden, werden Zugangsrechte um einiges restriktiver vergeben.
Mit der viel beachteten strategischen Intervention der IBA Fürst-Pückler-Land, auch IBA See genannt, wurde zwischen 2000 und 2010 versucht, das Bild von der Lausitz als kaputtem Niemandsland zu korrigieren. Die geplanten 30 Projekte kamen nicht alle zustande und strahlen auch heute nur bedingt aus – die Inszenierung der Großtechnik als „Industriekultur“ lief gut, doch blieben etwa schwimmende Häuser bis heute Einzelfälle.
Auch visionäre Land-Art-Konzepte, wie die „künstliche Wüste“ im Tagebau Welzow-Süd bei Spremberg, scheiterten. „Die Leute wollen nicht in einer Wüste leben“, sagt Carlo Becker vom dafür verantwortlichen Landschaftsplanungsbüro bgmr aus Berlin, der sich durch seine Professur an der BTU Cottbus-Senftenberg in der Region gut auskennt. Er sieht weiterhin eine große Chance in der „Umcodierung“ der Bergbaulandschaft. Leipzig, das in den letzten Jahren seine bestehenden Kanäle mit den neuen Tagebauseen vernetzt hat, erlebt gerade eine solche Umstülpung: „Die Wasserseite ist plötzlich die Vorderseite“, stellt Becker fest. „Der Wassertourismus boomt, man kann jetzt mit speziell entwickelten Booten durch die Stadt fahren.“
Schwierige Maßstabssprünge
Becker versteht es als Aufgabe der Landschaftsplaner, die LMBV dazu zu bewegen, aus den neuen Uferbereichen und Schleusen mehr zu machen als technische Anlagen. Hier herrsche noch ein sehr technokratisches Denken. „Man muss lernen, mit diesen Maßstabssprüngen umzugehen. Viele Fachleute verlassen kaum den 10.000er-Maßstab und denken nur in Regelprofilen.“ Schon in den aktiven Tagebauen sollte seiner Meinung nach an die künftige Geländemodellierung gedacht werden. Stattdessen entstünden oft schwer bebaubare Zonen.
Leider durchdringe dieses Denken oft auch die lokalen Zweckverbände. Die Politik sei es gewohnt, die Quasi-Monopole in der Bergbauverwaltung machen zu lassen. Zugleich fehle es in der Bevölkerung an Vorstellungsvermögen für die Chancen, bei der Umgestaltung etwas Eigenes, Besonderes zu entwickeln. Im boomenden Umfeld von Leipzig sieht Becker zudem die Tendenz zur Spaltung zwischen teuren Seelagen und vernachlässigten Zwischenräumen. Becker selbst, der als Planer und Juror bundesweit tätig ist, findet es jedenfalls spannend, mit gestörten Landschaften umzugehen. Er wendet sich vor allem gegen die „Verhübschung“ der Montanbrachen und will vielmehr deren verwundeten, rauen Charakter bewahren: „Mit dem üblichen Repertoire der Landschaftsarchitektur kommt man hier nicht weiter.“
Auch Thies Schröder, Geschäftsführer von Ferropolis in Gräfenhainichen und studierter Landschaftsarchitekt, ist offen für Experimente. In seinem Reservat der Bergbaubagger und Großmaschinen inszeniert er erfolgreich Events aller Art für die „Erlebnisgesellschaft“. Auch er beklagt in der Region indes einen Mangel an Offenheit und Kreativität, um neue Ideen anzugehen. Planerisch habe die IBA viel gebracht, resümiert er, insbesondere werde die Entwicklung seither besser koordiniert. Gestalterisch aber wurde er vielfach enttäuscht: Es gebe ein „buntes Durcheinander“ an Bauten, viel „Katalog-Geschmack“ und bloße Nachahmung. Er möchte darum „Mut machen zu sinnvollen Gestaltungssatzungen“. Zumindest um Leipzig sieht auch Schröder inzwischen eine gut vernetzte „urbane Seenlandschaft“ wachsen, wo man „vom Büro mit der S-Bahn zum Baden fahren“ kann.
Mehr Kohle, mehr Seen?
Noch ist Deutschland mit jährlich rund 180 Millionen Tonnen weltweit führend in der Braunkohleförderung, auch wenn dies weniger als die Hälfte dessen ist, was zu Spitzenzeiten in den 1980er-Jahren in Ost und West abgebaut wurde. Die geschätzten Lagerbestände von 35 Milliarden Tonnen reichen bei heutigem Verbrauch noch für 220 Jahre. Die Planung der „Energiewende“ sieht aber vor, dass das Gros dieser Vorräte im Interesse des Klimaschutzes in der Erde bleibt. Kaum jemand hegt noch Zweifel, dass die Braunkohleförderung in sehr absehbarer Zeit auslaufen wird, auch wenn dies gerade für die strukturschwache Lausitz soziale Härten bedeutet.
Auch im politisch besonders protegierten rheinischen Revier zwischen Köln und Aachen gibt es ungeachtet brachialer Expansionen in jüngster Zeit längst Exitpläne: Das „größte Loch Europas“ bei Hambach, das bis zu 450 Meter tief ist, soll dann mithilfe von Rheinwasser zu einem 4.000 Hektar großen See werden. Der wäre fast so groß wie der Ammersee – und ein imposantes Finale für über 200 Jahre industriellen Tagebau. Bis es so weit ist, kann man dort von den Erfahrungen in Ostdeutschland lernen.
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